01.09.2005

Zählen Erbsen?

Kommentar von Daniel Ben-Ami

Wie viel wird Afrika der Schuldenerlass der G8-Staaten bringen?

Mit Zahlen und mit Worten, so scheint es, nehmen es die führenden Staatsmänner der Welt nicht so genau. Der britische Finanzminister Gordon Brown, Vorsitzender des G8-Gipfels, der im schottischen Gleneagles über den Schuldenerlass für die ärmsten Länder verhandelte, erklärte: „Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei, jetzt gilt es, kühn zu handeln.“1 Die Maßnahmen jedoch, die die Finanzminister der reichsten Staaten der Welt beschlossen haben, reichen so tief wie das Wattenmeer bei Ebbe.

Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte dem Berliner Tagesspiegel: „Mein Ziel ist es, dass wir in Gleneagles beschließen, den hochverschuldeten ärmsten Entwicklungsländern ihre Schulden vollständig zu erlassen... Das ergibt einen langfristigen Spielraum für Investitionen in Bildung und in die soziale Infrastruktur, die diese Länder dringend brauchen.“2 Sagte es, und ließ sich medienwirksam mit Bono und Bob Geldof fotografieren.

Das Abkommen sieht vor, dass 18 Ländern (14 davon in Afrika) insgesamt 33 Milliarden Euro Schulden erlassen werden.3 Die Schulden von weiteren neun Ländern werden voraussichtlich innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre gestrichen, was eine Gesamtsumme von etwa 45 Milliarden Euro ergibt. Verglichen mit Geldbeträgen, die uns vertraut sind, handelt es sich dabei um enorme Zahlen. Setzt man sie jedoch ins Verhältnis zu dem, was Afrika tatsächlich benötigen würde, sind sie verschwindend gering. Damit Afrika zu einer wirtschaftlich entwickelten Region wird, wären ganz andere Transfersummen erforderlich.

Die Summen, die tatsächlich nach Afrika fließen werden, sind außerdem erheblich geringer. Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass es sich um jährlich etwa 1,2 Milliarden Euro handeln wird. 2004 hatte Afrika, Angaben der UNO zufolge, 869 Millionen Einwohner.5 Umgerechnet ergibt das gegen 1,4 Euro pro Person und Jahr. Geht man als Berechungsgrundlage von den 280 Millionen Afrikanern aus, die in den von dem Vertrag berücksichtigten Staaten leben, kommt man auf jährlich 4,3 Euro pro Person, das heißt, auf etwas mehr als einen Cent täglich pro Person. Damit lässt sich an den Lebensumständen selbst der ärmsten Afrikaner nichts ändern.

Auch wenn man die Ergebnisse von Gleneagles mit den winzigen Bruttosozialprodukten der afrikanischen Staaten vergleicht, fallen die Beschlüsse der G8-Staaten noch mager aus. Zahlen des Internationalen Währungsfonds zufolge produziert Afrika derzeit jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 1.119 Milliarden Euro. Das Afrika südlich der Sahara erwirtschaftet ein BSP von 485 Milliarden Euro.6 Zusätzliche 1,2 Milliarden pro Jahr machen da keinen großen Unterschied. Auch die erlassenen Schulden in Höhe von 45 Milliarden Euro sind nur ein Bruchteil der Gesamtverschuldung Afrikas, die sich auf etwa 247 Milliarden Euro beläuft.7

"Dafür, dass sie Almosen erhalten, müssen die Entwicklungsländer ihre nationale Eigenständigkeit weitgehend aufgeben."

Schlimmer noch: Es ist sehr fraglich, ob selbst die jetzt abgeschriebenen Schulden viel bedeuten, da die meisten der ärmsten Länder diese ohnehin auch bisher schon nicht bezahlen konnten. Das Wall Street Journal Europe analysierte die Beschlüsse von Gleneagles so: „Die meisten dieser Länder haben die Zinsen für ihre Kredite auch bislang nicht bezahlt. Der Schuldenerlass ist nichts anderes als ein Eingeständnis der wahren Verhältnisse.“8 Von einem Geldtransfer kann deshalb nicht die Rede sein.

Selbst aber diese symbolische Geste scheint manchen Staaten noch zu weit zu gehen. Aus internen Quellen drang zu den Medien durch, dass einige europäische Regierungen – möglicherweise mit stillschweigender Unterstützung Deutschlands – den Vertrag von Gleneagles abwandeln, die Beträge verringern und den Schuldenerlass mit härteren Auflagen verknüpfen wollen.9 Obwohl der praktische Effekt dessen, was die G8-Staaten beschlossen haben, für die ärmsten Länder gegen Null geht, zahlen sie dafür einen hohen Preis. Dafür, dass sie Almosen erhalten, müssen die Entwicklungsländer ihre nationale Eigenständigkeit weitgehend aufgeben.

Der G8-Schuldenerlass geht damit viel weiter als die Strukturanpassungsmaßnahmen der späten 80er- und der 90er-Jahre. Im Rahmen der Strukturanpassung wurden arme Länder dazu gezwungen, im Gegenzug für einen Schuldenerlass eine Sparpolitik zu betreiben und staatliche Betriebe zu privatisieren. Unter der Schuldeninitiative HIPC (Heavily Indebted Poor Country), die 1996 begann, und der Poverty Reduction and Growth Facility (PRGF), die 1999 die Strukturanpassungsprogramme ablöste, wurden mit solchen Maßnahmen bereits viel mehr Bedingungen als je zuvor verknüpft. 10 Arme Länder sehen sich mittlerweile zahlreichen Eingriffen in alle Bereiche der Gesellschaft gegenüber – von der Wirtschafts- und Sozialpolitik bis hin zu Steuer- und Zollfragen.

Eben dieser Ansatz wurde bei dem G8-Gipfel weitergeführt. Im Protokoll des Treffens der Finanzminister, das der G8-Konferenz voranging, heißt es: „Wir bekräftigen unsere Ansicht, dass es, um soziale und wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, unabdingbar ist, dass die Entwicklungsländer eine Politik betreiben, die Wirtschaftswachstum, nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung in den Vordergrund stellt: solide, verantwortungsvolle und transparente Institutionen und Programme; makroökonomische Stabilität; zunehmende finanzpolitische Transparenz, damit Korruption bekämpft und privatwirtschaftliche Entwicklung gefördert werden kann sowie Investitionen ins Land fließen können; ein konsequentes Rechtssystem; die Abschaffung von Maßnahmen, die private Investitionen aus dem In- oder Ausland behindern.“11

Diese Art von Einmischung ist nicht nur grundsätzlich abzulehnen, sie ist in der Praxis auch kontraproduktiv, da sie die Möglichkeiten der Völker Afrikas, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, untergräbt. Statt selbständig zu versuchen, ihre Probleme zu lösen, sind die Länder Afrikas unaufhörlich den Einflüssen von Nicht-Regierungsorganisationen, internationalen Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank und der reichen Staaten ausgesetzt.

Notwendig wäre ein komplett anderer Ansatz. Wirkliche Entwicklung kann nur stattfinden, wenn in großem Umfang Ressourcen in die armen Länder fließen. Zudem müssen die Entwicklungsländer selbst darüber bestimmen können, wie sie ihr Land gestalten, regieren und entwickeln wollen – unabhängig von den Ansichten und Meinungen der Reichen.

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