07.12.2018

You can’t beat the feeling

Von Daniel Kofahl

Über den demokratischen Genuss industriell geprägter Ernährungskultur.

Ich möchte mit einer persönlichen Anekdote beginnen. Sie liegt inzwischen über 20 Jahre zurück, besitzt jedoch einen festen Platz in meiner (Ess-)Biographie. Sie spielt in der Mitte der 1990er-Jahre und im Grunde handelt es sich sogar um eine Beichte, ein Geständnis. Ich muss circa 13 Jahre alt gewesen sein. Ein Alter also, in dem mein juveniles Rabaukentum bei Eltern und Lehrern nicht nur fröhliches Entzücken hervorrief. Meine Mutter, eine Italienerin und Meisterin in der Zubereitung köstlicher Speisen, war trotz all der Sorgen, die ich ihr seinerzeit machte, fürsorglich genug, mir jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe ein Butterbrot als Schulverpflegung zuzubereiten. Dieses Butterbrot würde man heutzutage wohl mit Namen wie „Fitness-Vollwert-Gourmet-Stulle“ bewerben und im Straßenverkauf für mindestens 8,99 Euro an die „Bionade-Bourgeoisie“ verkaufen.

Meine Mutter allerdings hat mit diesem Lifestyle-Milieu nichts am Hut. Sie ist als Gastarbeiterkind nach Deutschland gekommenen, hat später dann einen norddeutschen Ingenieur – meinen Vater – geheiratet, um anschließend in einem wirklichen Clash of Cultures eine Hybrid(-küchen-)kultur zu etablieren, die südländisch-katholische Genussfreude mit protestantisch-deutscher Funktionalität kombinierte. Deshalb eben auch ganz klassisch ein „Butterbrot“ für den Schuljungen, aber nicht einfach ein „Einfaches“. Das Brot bestand aus einer Vollkornschnitte vom Bäcker, selbstverständlich kam darauf Butter, mal diese und mal jene Wurst vom Metzger, frische Salatblätter – je nach Jahreszeit aus dem heimischen Garten –, etwas Mayonnaise, ab und an auch mal Tomaten oder Gurkenscheiben, selbstverständlich alles als „Doppeldecker“. Wie oft denke ich heute daran zurück.

Allein die Crux war, ich bin seinerzeit überhaupt kein Fan von diesen Schnitten gewesen. Ich aß sie, wenn ich wirklich hungrig war und sich kein anderer Ausweg mehr bot, sonst irgendwie den knurrenden Magen zu beruhigen. Doch das Wasser im Mund ließ mir etwas ganz Anderes zusammenlaufen. Und zwar der Inhalt der Pausenbrotdose meines Mitschülers Michael. Dessen Mutter war alleinerziehend mit gleich zwei pubertierenden Buben, außer Haus berufstätig und somit im morgendlichen Stress etwas pragmatischer und wohl auch konsumhedonistischer orientiert. Die Dame packte ihrem Sohn die Dose nämlich zeitweise einfach voller sogenannter Kinder-Produkte aus dem Hause Ferrero: Milchschnitten, Pinguí, Ü-Eier und wie sie alle heißen. Für meinen Sitznachbarn David, ein Bruder im (alimentären) Geiste, dem seine Mutter nämlich ebenfalls Stullen schmierte, und für mich war das eine gustatorische Verlockung sondergleichen, die sich Tag für Tag in Michaels Schulranzen befand. Und dann taten wir etwas, das man selbstverständlich nicht tun sollte: Wir begingen ein Verbrechen aus genussgetriebener Esslust.

„Nur gut, dass es eine Gruppe elitärer Ernährungspropheten gibt, die nun endlich ‚aufklärt‘ über das, was wirklich gut ist.“

Bevor es zur großen Pause hinaus auf den Schulhof ging, legten David und ich vorsichtig einen Fensterhebel so um, dass das Fenster unbemerkt geöffnet war. Unser Klassenraum lag ebenerdig nach hinten hinaus auf der Rückseite des Schulgebäudes. Während die Mitschüler in der Pause ihre Spiele spielten, plauderten oder erste Zigaretten im angrenzenden Wäldchen pafften, schlichen David und ich uns um die Schule herum, kletterten durch das geöffnete Fenster in den Klassenraum und plünderten Michaels Brotdose. Warum auch immer, er aß seine Köstlichkeiten nie in der Pause oder vielleicht, weil sie so prall gefüllt gewesen ist, zumindest niemals alle. So ließen David und ich es uns so richtig schmecken. Erwischt worden sind wir nie, auch wenn der plötzliche Lebensmittelschwund mehr als einmal von unserem Klassenlehrer thematisiert und mit mahnenden Worten an die Mundräuber bedacht worden ist.

Noch heute erinnere ich mich jedes Mal, wenn ich mir wieder eine Fünferpackung Milchschnitten einverleibe, an diese vortrefflichen Pausensnacks. Und das sei zum Schluss noch gesagt: Inzwischen bezahle ich sie selbstverständlich alle an der Kasse!

„Wecken den Tiger in dir“ – Industriekritik kritisch gesehen

Dass man industriell gefertigtes Essen heutzutage noch genießen kann, scheint in manchen Kreisen inzwischen völlig unvorstellbar zu sein. Auf gar keinen Fall darf man sich positiv über industriell produzierte Lebensmittel äußern. „Die Ernährungsindustrie“ scheint nicht nur eine global operierende Geheimloge zu sein, die sich regelmäßig um Mitternacht in düsteren Katakomben trifft, um den nächsten Kalorien-Anschlag auf eigentlich unwillige Esser vorzubereiten. Das Kurioseste ist, dass sie anscheinend Produkte herstellt, die eigentlich gar nicht schmecken, aber trotzdem irgendwie generöse Umsätze erzeugen. Wie kann das sein?

Ach ja! Werbekampagnen und „Süchtigmacher“. Die anscheinend völlig grenzdebilen Mitmenschen fallen die ganze Zeit auf kleine Videogeschichten rein und glauben, dass wenn sie nur den richtigen Rum kaufen, dass sie dann auch auf die Barcardi-Insel teleportiert werden. Oder lauter verblendete, willensschwache Konsumenten kaufen Tag für Tag Produkte, die nicht schmecken, weil dort irgendwelche Zutaten drin sind, die wie Heroin wirken sollen: Zucker, Salz, Fett. Nur gut, dass es eine Gruppe elitärer Ernährungspropheten gibt, die sich davon freimachen konnte, nicht so naiv ist, wie das Gros der Verbraucher und nun endlich „aufklärt“ über das, was wirklich gut ist. Nämlich all das, was eben diese Gruppe nicht mit dem Bannfluch „industriell“ belegt.

„In vorindustrieller Zeit waren Hunger und Verzicht für große Teile der Menschheit die Regel, auch dank der modernen Agrar- und Ernährungsindustrie ist es heute umgekehrt.“

Die hysterische Unterkomplexität, die diese Diskussion bestimmt, ist offensichtlich. Die Begrifflichkeiten, die verwendet werden, sind unscharf. Manche Dinge werden einfach negiert und ausgeblendet, etwa die beinah vollständige Beseitigung von Hunger in den Industrie- und Schwellenländern, die Bekämpfung von Mangelernährung in den Entwicklungsländern und das beinahe völlige Verschwinden von Versorgungsknappheit auf dem globalen Lebensmittelmarkt durch industrielle Produktion. Auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird: In vorindustrieller Zeit waren Hunger und Verzicht für große Teile der Menschheit eher die Regel als die Ausnahme. Gerade auch dank der modernen Agrar- und Ernährungsindustrie ist es heute umgekehrt. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die gern romantisierte „kleinbäuerliche Landwirtschaft“ dies ohne die Methoden der Grünen Revolution, wie zum Beispiel chemischen Düngemitteln und Hochertragssorten sowie nachgelagerter industrieller Verarbeitung, in dem Ausmaß für eine immer weiter steigende Weltbevölkerung mit selbstverständlichen steigenden Ansprüchen an ihre Lebensqualität hinbekommen könnte.

Ebenfalls gern kolportiert wird der Vorwurf, es gebe eine immer kleinere Auswahl zur Verfügung stehender Lebensmittel. Es wird zum Beispiel davon erzählt, dass es früher einmal tausende von Apfelsorten im deutschsprachigen Raum gegeben habe. Nur sind die erstens seinerzeit auch nicht alle für alle erhältlich gewesen. Viele Menschen werden sehr viel seltener überhaupt Äpfel und dann meist von zweifelhafterer Qualität verzehrt haben. Und dann wird man auch nur an wenige Sorten – wenn es überhaupt Auswahl gegeben hat! – herangekommen sein. Und überhaupt schließt eine in weiten Teilen industrielle Lebensmittelproduktion gar nicht aus, dass es diese Sorten auch in Zukunft geben wird. Gerade dass es eine gedeckte Basisversorgung mit ausreichend nahrhaften und wohlschmeckenden Lebensmitteln aus industrieller Fertigung und Veredlung gibt, ermöglicht all den Slow-Food-Fans und neuen Radikal-Regional-Enthusiasten, ihre aufwendig und pflegeintensiven Produkte als Nischenmarkt auf dem Gourmetsektor zu etablieren, global zu bewerben und auf dem Weltmarkt zu handeln.

Auf der anderen Seite ist das Angebot an Lebensmitteln durch die industrielle Produktion gar nicht reduziert, sondern in der Tat erweitert worden. Dass man in einem großen Supermarkt bis zu 27.000 verschiedene Produkte findet und selbst in einem kleinen Supermarkt das Sortiment noch etwa 5000 bis 17.000 Produkte umfasst, mag mit dem Blick auf die Vergangenheit vielleicht noch die französische Aristokratie betrüben, weil es nicht überall Fasan gibt. Die viel zitierte „Großmutter“ und noch mehr die „Urgroßmütter“ all derjenigen, die heutzutage immer wieder ermahnen, man soll nichts essen, was nicht eben diese Altvorderen schon verzehrt hätten, wären dankbar gewesen, wenn es im sich beständig wiederholenden Ernährungsalltag diese Abwechslung von heute gegeben hätte. Und sie waren es ja auch. Denn in dem Moment, als sich ihnen die verführerischen Genüsse der neuen Produktionsmethoden eröffneten, griffen sie gerne zu und etablierten diese Form der Ernährungskultur weiträumig.

„Quadratisch, praktisch, gut“ – Pragmatische Gründe für industrielle Lebensmittel

Mit der Kritik an industriell gefertigten Produkten geht nicht selten ein sehr eingeschränktes Verständnis von Genuss einher. Selbstverständlich haben die meisten Menschen irgendeine nichtindustrielle Speise, die sie besonders lieben. In meinem Fall zum Beispiel die Lasagne alla Mama oder Omas Apfelstrudel. Und wer etwa eine spezielle Vorliebe für das besonders fettreiche, fast schon im Mund schmelzende Fleisch des Wagyū-Rinds oder ein anderes High-End-Gourmet-Lebensmittel hat, wird fraglos auch das nur aus einer nichtindustriellen Haltung, Schlachterei, sonstigen Manufaktur oder Hochküche erhalten.

„Aber sind denn die Verbraucher wirklich verunsichert? Eher nicht. Im Gegenteil.“

Nun spielt sich das Leben der meisten Menschen allerdings nicht vorwiegend in einem Rahmen ab, in dem Mütter oder Großmütter einen nach Herzenswunsch täglich oder gar mehrmals täglich mit den besten Speisen bekochen. Das mag manch einer vermissen, weil es in bestimmten Geschichten, die man so erzählt bekommt, den Anschein hat, das sei „in den guten alten Tagen“ so gewesen. Doch selbst dort musste man sich die Herausnahme der Frauen aus dem Erwerbsleben leisten können. Und nun haben sich bestimmte Lebenswirklichkeiten doch unbestreitbar geändert: berufliche Emanzipation der Frau, Single-Haushalte, hochmobile flexible Arbeitsverhältnisse und so fort haben dazu geführt, dass in der Tat nicht mehr jeden Tag selbst gekocht wird. Auch die beliebte Idee, die Männer sollten nun den irgendwie vermissten Teil (alimentärer) Hausarbeit übernehmen, fruchtet in der Praxis irgendwie nicht so richtig. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: von freilich genauso wie die moderne Frau in Arbeit- und Lebenskontexte eingebundenen Männern bis hin zum sich kaum wandelnden Rollenmodell, welches vor allem Frauen von (attraktiver) Männlichkeit haben. Auf jeden Fall kochen Männer zwar immer öfter gern und gut, aber eben auch nicht jeden Tag, schon gar nicht mehrmals täglich, sondern vor allem am Wochenende, dann aber auch gerne für die Frau, den Partner oder für Freunde.

Gerne gut und schmackhaft essen die Menschen trotzdem. Und die meisten Menschen besitzen hier einen alltagstauglichen Pragmatismus. Der ist wie gemacht dafür, sich durch die Überfülle an Nahrungsmitteln, die zur Verfügung stehen, hindurchzubewegen. Sicher, es gibt die Diskussion über den „verunsicherten Verbraucher“, den die Fülle der Produkte hoffnungslos überfordert. Aber sind denn die Verbraucher wirklich verunsichert? Eher nicht. Im Gegenteil. Die meisten wissen – noch – ziemlich genau, was ihnen schmeckt, welche Produkte sie mögen, welche nicht und auch, was ihnen guttut und was ihnen Unwohlsein bereitet. Wenn die Hysterie über die schlimmen Süchtigmacher in den Lebensmitteln stimmen würde, kombiniert mit dem Gespenst des verunsicherten Verbrauchers, so säßen überall am Straßenrand betrunkene Menschen mit schokoladenverschmierten Gesichtern, denen ein letztes Stück Putenfleischwurst aus dem von Angstattacken zuckenden Mund hinge.

Doch die Zahl dieser Personen hält sich wahrlich in Grenzen. Stattdessen: Es wird Obst und sogar Gemüse gekauft, hektoliterweise Wasser getrunken und obendrein Käse gegessen, obwohl es doch Nutella gibt. Sicher, es gibt immer ein paar, die aus der Reihe fallen, so wie manche Leute durch Bücherlesen „der Welt abhandenkommen“ können oder im Berufsleben bis zum Karoshi arbeiten. Doch damit ist auch nicht gleich das gesamte System der Literatur oder der Erwerbsarbeit diskreditiert. Es sieht also mehr danach aus, als sollten die sich gut in ihrem Essalltag zurechtfindenden Menschen durch die beständige Kommunikation, dass man doch über seinen Essalltag verunsichert zu sein habe, erst noch verunsichert oder sogar verängstigt werden.

„Es gibt keine Belege dafür, dass selbstgekochtes Essen zwingend gesund, ökologisch nachhaltig oder gar lecker ist.“

Dabei gibt es viele praktische Gründe, die industriell produzierte Lebensmittel als Alltagsnahrung plausibilisieren. Sie sind zum einen oft relativ günstig im Preis. Ein sehr zentrales Argument für einen Großteil der Bevölkerung, der beständig mit Budgetrestriktionen zu kämpfen hat und sich überlegen muss, ob das Geld beispielsweise für Essen, für Qualitätsjournalismus oder für die private Zusatzversicherung ausgegeben werden soll.

Als Nächstes wäre die gleichbleibende Qualität der Produkte zu nennen. Von Kritikern wird immer mal wieder bemängelt, es gäbe viel bessere handwerklich hergestellte Produkte. Das mag ja sein. Aber es gab und gibt auch viele handwerklich sehr viel schlechter hergestellte Produkte. Und beim Essen ist es besonders ärgerlich, wenn man an diese gerät, weil man sie nach dem Verzehr nicht so einfach wieder zurückgeben und umtauschen kann. Der Arbeits- und Zeitaufwand dafür, beim Lebensmitteleinkauf als Konsument immer wieder Einzelprodukte prüfen und kontrollieren zu müssen, ist völlig unverhältnismäßig, wenn man die Alternative der zumeist qualitativ guten Produkte aus industrieller Fertigung hat.

Und schließlich der Nachtmahr der Modernisierungskritiker schlechthin: Convenience-Food und Fertiggerichte. Auch wenn es keine Belege dafür gibt, dass selbstgekochtes Essen zwingend gesund, ökologisch nachhaltig oder gar lecker ist, Convenience-Food und Fertiggerichte scheinen für die Populärkritik direkt aus der zugefrorenen Hölle zu kommen.

Vielleicht schmecken sie gerade deshalb vielen Menschen höllisch gut. Ein Blick auf diverse Warentests zeigt, dass sie objektiv oftmals von guter Qualität sind. Sie schmecken gut und sie sparen Arbeitszeit. Wer nach einem achtstündigen Arbeitstag nach Hause kommt und vielleicht auch noch etwas Haushalt zu erledigen hat oder auch einfach mal Zeitung lesen, mit Freundinnen telefonieren, lieber mit den Kindern spielen oder was auch immer machen will, warum sollte der nicht den fertig vorbereiteten Rotkohl aus dem Tiefkühlfach nehmen? Oder eine vorbereitete Reispfanne? Oder auch einfach ab und an mal eine Tiefkühlpizza? Es gibt keine rationalen Argumente dagegen. Weder die Gesundheit, noch die Kochkultur, noch der Genuss leiden zwangsläufig darunter.

„Einmal gepoppt, nie mehr gestoppt“ – Genussindustrie

In diesem Abschnitt soll nicht darauf eingegangen werden, dass die Angstmacher und Unheilspropheten oftmals selber zentrale wirtschaftliche Interessen auf dem Lebensmittelmarkt besitzen und es sich bei der Industriekritik in aller Regel um einen ökonomischen Kampf um Marktanteile handelt, ausgetragen auf dem Rücken der Essenden. Hier soll es um Genusserfahrungen gehen, wie sie beispielhaft in der Eingangsanekdote beschrieben worden ist.

„Die Genusserfahrungen beim Verzehr industriell gefertigter Lebensmittel werden allenthalben ausgeblendet, klein- oder schlechtgeredet.“

Diese Genusserfahrungen bei dem Verzehr industriell gefertigter Lebensmittel werden nämlich allenthalben ausgeblendet, klein- oder schlechtgeredet. Dabei stößt man unentwegt darauf, dass Konsumenten betonen, wie sehr ihnen diese Produkte schmecken, wie gern sie sie verzehren. 1

Das spannende an den Massenprodukten der industriell geprägten Ernährungskultur ist, dass es tatsächlich gelingt, den Geschmack einer Vielzahl von Menschen positiv anzusprechen. In der Kritik wird dies oftmals verächtlich thematisiert und zum Beispiel als „demokratischer Mischgeschmack“ oder „Demokratisierung des feinen Geschmacks“ diffamiert. Doch solche Aussagen zeugen vor allem von der snobistischen Demokratieverachtung der so Argumentierenden. Es ist nichts schlecht daran, wenn Produkte entwickelt werden, die in hoher Stückzahl auf den Markt gebracht werden, vielen Menschen munden und von diesen auch bezahlt werden können. Dies erzeugt ein vergemeinschaftendes Genussmoment, etwas Sinnliches, auf das sich all die unzähligen Individuen der ausdifferenzierten Massengesellschaft berufen können. Die industriellen Massenprodukte sättigen nicht nur, sie liefern nicht nur wichtige physiologische Nährstoffe, sie haben zudem eine alimentäre Integrationsfunktion. Sie haben diesen integrativen Effekt eben gerade, weil sie versuchen, möglichst demokratisch für eine große Gruppe von Konsumenten, vielleicht sogar für die Mehrheit, gustatorisch anschlussfähig zu sein.

Unbestritten schmeckt nicht jedem Alles. Muss es auch nicht. Doch die potentiellen Überschneidungen bei den erfolgreichen Massenprodukten sind fraglos groß genug, dass nahezu jeder in der von der industriellen Lebensmittelproduktion geprägten Ernährungskultur der Hochmoderne irgendeine Speise in seinem Genussportfolio hat, die selbst unbekannte, weit entfernte Personen kennen und mögen. Dies führt zu einem kommunikativen Bezugsmoment, den gerade die großen Marken wie Coca-Cola oder McDonalds in besonderem Maße leisten. Dass es dann selbst bei industriellen Produkten zu distinktiver Feinschmeckerei kommt, etwa wenn die einen dann lieber Pepsi oder Afri-Cola trinken und bei Subways oder Pizza-Hut essen, zeigt die kulinarische Binnendifferenzierung selbst auf dem Massenmarkt.

„Von welchem asketischen Diätwahn ist die Vorstellung geprägt, das drängende Verlangen nach einer süßen, salzigen oder fettigen Köstlichkeit sei etwas Schlimmes?“

Dass es bei manch einem von Zeit zu Zeit nun sogar zu Heißhungerattacken, Fressanfällen oder zu Suchterscheinungen kommt, lässt den Ernährungskulturwissenschaftler zwar nicht kalt, aber versetzt ihn eigentlich mehr in ein erfreutes Staunen als in einen Modus erschreckten Moralisierens. Denn wo bitte ist das Problem? All diese Dinge kann man geradezu als Auszeichnung für die Genussqualität von Lebensmittel verstehen. Was sind das für skurrile Ansichten, nach denen gerade die Produkte gut sein sollen, auf die man nach drei Bissen keine Lust mehr hat? Von welchem asketischen Diätwahn ist die Vorstellung geprägt, das drängende Verlangen nach einer süßen, salzigen oder fettigen Köstlichkeit sei etwas Schlimmes? Woher diese Angst, man selbst oder andere könnten zu Schlaraffenlandzombies werden, nur, weil sie sich von Zeit zu Zeit ganz dem, was ihnen ekstatischen Genuss bereitet, hingeben und sich im Prozess des Essens und Trinkens verlieren? Und warum sollte das alles überhaupt allein ein Phänomen der Industriekultur sein? Der jüdische Philosoph Walter Benjamin beschrieb in einem autobiographischen Text einmal, wie er sich in einen Rausch mit von einem Markthändler erworbenen süßen Feigen frisst.

Letztlich bleibt festzustellen, dass der Begriff „Sucht“ inflationär verwendet wird. Wenn die Menschen „süchtig“ nach Paprikachips von Funny-Frisch oder Dickmann’s Schokoküssen sind, so wie sie „süchtig“ nach einer geliebten Fernsehserie oder einem neuen Artikel des Novo-Magazins sind, dann ist das eine der Formen des weltlichen Begehrens, die den Menschen erst zum Menschen machen. Wahrlich, da gibt es schlimmere und langweiligere Spielarten menschlicher Existenz.

„The choice of a new generation“ – Fazit

Der überaus achtsame Zeitgeist präsentiert oftmals eine Version, in der die Menschen weniger heroisch, weniger aggressiv, weniger testosterongeladen sein sollen. Kein Klassenkampf, kein Wettbewerb, keine Raufereien, kein sexualisiertes Anmachen. Und schließlich sollen die Menschen dann aber im Gegenzug auch nicht mehr „schwach werden“. Schon gar nicht bei einem Magnum-Eis von Langnese an einem heißen Sommertag oder einer Dose Maggi-Ravioli nach einem anstrengenden Arbeitstag. Immer weniger geht es beim Essen um Entspannung oder Genuss. Und wenn Genuss genannt wird, dann handelt es sich nicht um einen unbefangenen oder gar ekstatischen, sondern höchstens noch um einen kontrollierten Restgenuss. Kontrolle ausüben und sich selbst-sorgen ist ganz wichtig. Jeder soll sich sorgen sowie seine Gelüste kontrollieren und zwar so, wie man es von Experten gelehrt bekommen und gelernt hat. Dafür bedarf es der emsigen Kampagnentätigkeit von diversen Akteuren, die eine Form der Metaernährungspolitik betreiben.

Die ins Feld geführte Gesundheit, um die es den Industriekritikern vermeintlich geht, erscheint indes vorgeschoben. Nichts spricht dagegen, sich auch mit industriellen Lebensmittel „gesund“ zu ernähren, zumal der Speiseplan jederzeit durch handwerkliche oder gar selbst angebaute Produkte ergänzt oder doch sogar dominiert werden kann. Die Entweder-Oder-Entscheidung wird gar nicht von der Industrie ins Feld geführt, sondern von deren Gegnern, die auf Demonstrationen „Wir haben es satt“ rufen, während der Großteil der Weltbevölkerung von einem Mahlzeitenmix aus hochmodernen und traditionellen Lebensmitteln profitiert.

„Die industrielle Produktion von Lebensmitteln gehört zur Tradition globalisierter Ernährungskultur.“

Doch Moment! Was heißt hier eigentlich traditionell? Meine eigene Anekdote vom Anfang des Texts ist über 20 Jahre her. McDonald’s wurde 1940 gegründet, Coca-Cola im Mai 1885, Justus Liebig entwickelte seinen berühmt gewordenen Fleischextrakt 1840. Songs aus Werbespots wie „Like Ice in the Sunshine“ von Langnese kann nahezu jeder aus dem Stehgreif mitsingen und dank der Ferrero-Küsschen-Spots wusste zeitweise jeder, dass „man guten Freunden ein Küsschen gibt … oder zwei … oder drei“. Vintage-Werbung von Marken wie Campari, Maggi oder Nestlé hängt als kunstvoller Posterdruck in so mancher Wohnung.

De facto gehört die industrielle Produktion von Lebensmitteln zur Tradition globalisierter Ernährungskultur. Viele der von ihr erzählten Geschichten, die zum Beispiel über Werbung kommuniziert werden, integrieren genauso wie der Genuss ihrer Produkte. Diese Integration funktioniert dann nicht nur über räumliche Distanz in der Gegenwart, sondern sogar intergenerational in der Zeitdimension.

Sicherlich, es lässt sich immer etwas kritisieren und verbessern. Und wie gut, dass darauf reagiert wird. Der Anteil des nachhaltig erzeugten Kakaos in den in Deutschland verkauften Süßwaren ist 2018 auf 55 Prozent angestiegen, nachdem er 2011 noch bei 3 Prozent lag. Im zähen Ringen mit Gewerkschaften wie der NGG kommt es in Tarifverhandlungen mit der Ernährungswirtschaft zu Abschlüssen, die faire Arbeitsbedingungen schaffen. Für Leute, denen das Essen von Tieren missfällt, werden innovative Methoden entwickelt, etwa die Herstellung von synthetischem Fleisch in In-vitro-Verfahren für die nächste Genussgeneration.

Der Genuss industrieller Lebensmittel gehört zur Ernährungskultur der Ernährungskulturen in der globalisierten Weltgesellschaft der Hochmoderne dazu. Systemvertrauen ermöglicht es, Kontrolle abzugeben, einfach zu genießen. Funktionale Differenzierung auch im Feld des Essens und Trinkens darf auch mal heißen, dass sich jemand anderes um die Lebensmittelsicherheit und das Speisenarrangement gekümmert hat. So wie dies in der Gastronomie auch der Fall ist. Dann kann man sich einfach fallen lassen und genießen. Zuhause, auf der Arbeit, in der Schule oder to go.

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