22.05.2018

Wissen für alle

Von Joanna Williams

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Foto: dierk schaefer via Flickr (CC BY 2.0 / bearbeitet

Der klassische Bildungskanon gilt als überholt und elitär. Dieses Denken ist alles andere als progressiv.

Für die meisten Menschen ist selbstverständlich, dass Schüler beim Verlassen des Schulsystems besser gebildet sein sollten als beim Antritt. Ebenso wird davon ausgegangen, dass Studenten an der Uni wichtiges, mächtiges, fachspezifisches Wissen erwerben. Wissen, dass sie sich ohne universitäre Ausbildung nur schwer aneignen könnten. Die Bemühungen vieler Eltern, ihre Kinder an eine angesehene Schule zu schicken, spiegeln nicht nur ein Streben nach gesellschaftlichem Status. Es geht auch darum, der nächsten Generation den Zugang zu Wissen zu ermöglichen. Je mehr sich aber der Zugang zu hochwertigem Wissen auf elitäre, selektive Bildungseinrichtungen konzentriert, desto mehr verschärft sich der Wettbewerb um den besten Schul- oder Hochschulplatz. Viele selbsternannte Radikale sehen Gymnasien und „Eliteuniversitäten“ kritisch. Aber der Kampf gegen die leistungsfähigsten Einrichtungen führt nicht zum uneingeschränkten Wissenszugang für alle. Eher trägt er zum anhaltenden Angriff auf die Wissensvermittlung als Hauptziel der Bildung bei.

Wissen unter Beschuss

Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich Schulen und Universitäten von ihrem Auftrag abgewandt, das kollektive Wissen der Gesellschaft zu erhalten und zu vermitteln. Strategiepapiere, Bücher und Blogs, die sich mit Bildung beschäftigen, schaffen es kaum noch zu definieren, was Wissen eigentlich ist. Oft wird Wissen mit Fähigkeiten oder Informationen verwechselt. Die Lehrpläne werden mit Inhalten und Lernzielen überfrachtet. Schulen sollen heute so viele Erwartungen erfüllen, dass Fachwissen zu einem Ziel unter vielen degradiert wird. In dem Bestreben, Bildung „relevant“ zu machen, werden Themen wie emotionales Wohlbefinden, gesunde Ernährung, Sexualerziehung oder die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt in den Vordergrund gerückt. Die Förderung des Glücks oder der Belastbarkeit gelten als ebenso wichtig wie die Vermittlung von Wissen. In einer Zeit, in der klassische Fachinhalte als irrelevant, überholt oder leicht zugänglich abgetan werden, setzt sich das Schulsystem andere Ziele.

Die Universitäten sind zunehmend außerstande, Wissen als Selbstzweck zu verteidigen. Sie führen modularisierte Programme und vorgegebene „Lernergebnisse“ ein. Der Druck zur Internationalisierung führt zu immer allgemeineren und von Wertvorstellungen befrachteten Lehrplänen. In einer Welt, in der wir alle „globale Bürger“ sein sollen, wird die Relevanz von „weißem“, „westlichem“ und „patriarchalischem“ Wissen angezweifelt. Wissenschaftler sollen andere kulturelle Perspektiven als gleichwertig anerkennen. Der Bologna-Prozess hat einen europäischen Hochschulraum geschaffen, in dem die inhaltlichen Schwerpunkte einzelner Wissenschaftler, Fakultäten und Universitäten durch eine Reihe politischer Ziele ersetzt wurden. Der Hochschulzugang soll auf immer mehr soziale Gruppen ausgeweitet werden, die traditionell keine universitäre Bildung genossen. Viel zu selten wird gefragt, ob die „Bildung“, zu denen ihnen Zugang verschafft wird, überhaupt noch etwas wert ist.

„Die Universitäten sind zunehmend außerstande, Wissen als Selbstzweck zu verteidigen.“

Die Wissensvermittlung geht in einer Fülle sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ziele verloren. Lehrer und Wissenschaftler sind nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens, zwischen wichtigem und unwichtigem Wissen zu unterscheiden, das Wesentliche zu verteidigen und es an die nächste Generation weiterzugeben. Um dieses Thema geht es auch in einem aktuellen Buch von Michael Young und Johan Muller. Ihr Werk „Curriculum and the Specialization of Knowledge“ („Lehrpläne und die Spezialisierung des Wissens“), kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Es analysiert, warum sich Schulen und Unis von der Wissensvermittlung abwenden, und plädiert für eine Rehabilitierung des Wissens.

Für Young und Muller ist die Fähigkeit, kollektives Wissen von einer Generation zur nächsten weiterzugeben, das, was die Menschen von den Tieren unterscheidet. Ohne diesen Wissenstransfer gäbe keinen gesellschaftlichen Fortschritt, weil kein neues Wissen produziert werden würde. Schulen müssen laut Young und Muller formales, kodifiziertes, theoretisches und (zumindest potentiell) verallgemeinerndes Wissen vermitteln. Die Notwendigkeit, zwischen solchem Wissen und dem Alltagswissen der Schüler zu unterscheiden, zwingt Lehrer zu politisch unbeliebten Entscheidungen. Young und Muller argumentieren jedoch, dass diese intellektuelle Diskriminierung notwendig, gar eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist. Die Fixierung auf Inhalte, die für die Schüler vermeintlich „relevant“ sind, verwehrt ihnen nämlich den Zugang zu hochwertigem Wissen.

Young und Muller unterscheiden zwischen zwei Formen des Konservatismus. Bei der Wissensvermittlung von einer Generation zur nächsten spielen Bildungseinrichtungen naturgemäß eine „konservative“ Rolle. Dies sei jedoch nicht mit dem „Konservativismus“ gleichzusetzen, also der Tendenz vieler Institutionen, sich dem Wandel zu widersetzen und die Privilegien einflussreicher Gruppen zu bewahren. Aus Angst, als Konservative zu gelten, haben Lehrer und Dozenten, so Young und Muller, auch die „Konservierung“ des Wissens verworfen. Kinder werden nicht mehr im Sinne einer nationalen intellektuellen Tradition erzogen und Studenten wird nur noch vermittelt, wie sie Wissen in Bezug auf Machtverhältnisse dekonstruieren können.

„Die Fixierung auf Inhalte, die für die Schüler vermeintlich ‚relevant‘ sind, verwehrt ihnen den Zugang zu hochwertigem Wissen.“

Die ständigen Angriffe auf „universelles“ Wissen und der Widerwille, ein intellektuelles Erbe zu bewahren und weiterzugeben, sind Ausdruck einer allgemeinen Abkehr des Bildungssektors von den Werten der Aufklärung. Wer verstehen will, auf welcher Basis Urteile gefällt und die Objektivität von Wissen beurteilt wird, muss sich jedoch mit dem Wissensbegriff beschäftigen, der in der Zeit der Aufklärung entstanden ist.

Zweifel an den Werten der Aufklärung

Die Aufklärung markierte einen paradigmatischen Bruch mit den intellektuellen Traditionen des Mittelalters. Empirische Nachweise und individuelle Argumentation lösten den religiösen Glauben als Wissensquelle ab. Ein säkulares Wahrheitsverständnis trat in den Vordergrund. Nach Immanuel Kant lässt sich objektives Wissen nur durch die Verknüpfung von Erfahrung und Vernunft erlangen. Eine Synthese, die „über den Standpunkt desjenigen, der sie besitzt, hinausgeht und berechtigte Ansprüche an eine unabhängige Welt stellt“.[1] Ferner argumentierte Kant, dass das Wissen inhärente Wahrheiten enthält, die aus der Objektivität unabhängigen logischen Denkens abgeleitet werden können: „[…] die Vernunft aber [ist] ihrer Natur nach frei […], und [nimmt] keine Befehle, […] etwas für wahr zu halten […] an […]“.[2] Ähnlich äußerte sich John Stuart Mill. Das Wissen könne nur dann voranschreiten, wenn Menschen die Freiheit haben, ihre eigene innere Vernunft zu entwickeln: „Die Wahrheit gewinnt mehr durch die Irrtümer eines Menschen, der mit gebührendem Studium und gewissenhafter Vorbereitung für sich selber denkt, als durch die richtigen Meinungen derer, die an ihnen nur festhalten, weil sie sich nicht zu denken gestatten“.[3]

Kant argumentierte, dass insbesondere die Philosophie die kritische Vernunft beschützen und befördern könne. Dafür müsse sie jedoch die Freiheit haben, ihre eigenen Lehren zu bewerten. Trotz Kants Bemühungen wurden die intellektuellen Fortschritte, die mit der Aufklärung verbunden waren, vor allem von Intellektuellen außerhalb der Universitäten gemacht. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen akademische Kreise selbstbewusst die Vorstellung säkularer „Wahrheiten“ voranzutreiben und die eigene Rolle beim Streben nach Wahrheit und Wissen zu betonen. Die akademische Freiheit rückte in den Vordergrund. Die Gelehrten erkannten, dass die Wahrheitssuche die uneingeschränkte Freiheit voraussetzte, der intellektuellen Logik ihrer Argumentation zu folgen, wo immer sie sie auch hinführen mochte.

„Aus Angst, als Konservative zu gelten, haben Lehrer und Dozenten auch die ‚Konservierung‘ des Wissens verworfen.“

Emile Durkheim, einer der Gründungsväter der Soziologie, behauptete, die objektive Basis des Wissens sei weder im Kopf des Einzelnen noch in der sinnlichen. Erfahrung der materiellen Welt zu finden. In seinem Werk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ von 1912 schreibt er, dass Wissen durch das kollektive Handeln der Menschen produziert wird. „Die Wahrheit“ als etwas, das außerhalb des Individuums liegt, hat für Durkheim seine Wurzeln im Sozialen. Daher habe Wissen eine objektive Basis. Ideen können gemeinschaftlich überprüft und kritisiert werden. Diese Vorstellung stärkte die Bedeutung von akademischen Disziplinen als Gelehrtengemeinschaften mit gemeinsamen Zielen und Verständnissen.

Als das Streben nach neuen Ideen innerhalb der Hochschulen möglich wurde, beschäftigte sich die Wissenschaft weniger mit der Fähigkeit zur individuellen Vernunft als mit der Suche nach empirischen Fakten. Die Naturwissenschaften gewannen zunehmend an Autorität. Akademiker anderer Disziplinen strebten nach der gleichen Legitimität. Hierzu musste Wissen von individueller Vernunft und individuellen Werten getrennt werden. Die positivistische Wahrheitssuche anhand des Quantifizierbaren beschleunigte die Professionalisierung der Wissenssuche innerhalb der Universitäten. Letztlich führte aber die Bevorzugung des Fachwissens zur Erosion des Wissens als Selbstzweck. Je mehr das Wissen seine Basis im Empirischen hatte, desto mehr sollte es einem sozialen oder wirtschaftlichen Zweck dienen.

Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges unterhöhlten die Zuversicht der Wissenschaft. Gelehrte schafften es nicht mehr, die Bedeutung und Verflechtung von Wahrheit und Wissen geltend zu machen. Wissenschaftler wie Zygmunt Bauman sahen den Holocaust nicht als historische Anomalie, sondern als untrennbar mit dem Projekt der Moderne verbunden – dem Streben der Industriegesellschaften nach Effizienz und Rationalität, dem Versuch der taxonomischen Kategorisierung verschiedener Arten und der Tendenz, das Befolgen von Regeln moralisch zu überhöhen. Der Zweite Weltkrieg habe alle „großen Erzählungen“, einschließlich der des von der Aufklärung inspirierten Positivismus, diskreditiert.

„Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges unterhöhlten die Zuversicht der Wissenschaft.“

Die Bemühungen, die Prinzipien der Aufklärung aufzugeben, wurden von Wissenschaftlern der politischen Linken vorangetrieben. Ihnen fiel es zunehmend schwer, die Ideale der Vernunft, des Fortschritts und des Universalismus zu verteidigen, auf denen ihre intellektuelle Tradition aufgebaut war. Die Vordenker der kritischen Theorie betonten die Zeit- und Kontextabhängigkeit der Wahrheit. Herbert Marcuse argumentierte in „Der eindimensionale Mensch“, dass Wissen eine Ideologie oder ein Produkt der vorherrschenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sei. Die Behauptung, dass Wissen ein gesellschaftliches Konstrukt sei, beförderte die Vorstellung, dass es keine inhärente Verbindung zwischen Wissen und Wahrheit gebe. Michel Foucault erklärte 1977 in einem Interview, dass es „keine wahrhaft universelle Wahrheit“ gebe; ein Diktum, das sich schnell durchsetzte. Die Vorstellung der universellen Wahrheit wurde verworfen, fortan gab es nur noch „Standpunkttheorien“. Der Lehrplan wurde in Verruf gebracht. Er reflektiere lediglich das Wissen der Mächtigen. Young und Muller konstatieren: „Ab den 1960er Jahren lehnten viele geisteswissenschaftliche Fakultäten in den USA jede Vorstellung von Tradition ab und konzentrierten sich ausschließlich auf die Kritik“. Dies habe zu „den extremsten Formen des Relativismus und der politischen Korrektheit“ geführt.

Die Auffassung von Wissen, die heute in den Sozial- und Geisteswissenschaften dominiert, unterscheidet sich deutlich vom Wahrheitsbegriff von Kant und Durkheim. Young und Muller beziehen sich in diesem Zusammenhang auf die Arbeit des Philosophen Bernard Williams. Für Williams ist ein „Bekenntnis zur Wahrhaftigkeit“ ein wesentliches Element der Wissenschaft. Parallel dazu entwickle sich jedoch zunehmend eine „nicht minder weitreichende Skepsis gegenüber der Wahrheit selbst“. Young und Muller weisen darauf hin, dass einige Wissenssoziologen heute die Wahrheitssuche mit dem Streben gleichsetzen, die Korruption der Mächtigen zu identifizieren. Diese Vorstellung von Wahrheit führe zu einer Selbstgerechtigkeit und moralischen Gewissheit, die sich unter anderem im Trend zum Kampagnenjournalismus zeigt.

Wenn ein „Bekenntnis zur Wahrheit mit Skepsis gegenüber der Wahrheit“ verbunden wird, schreiben Young und Muller, „untergräbt Letzteres unweigerlich Ersteres“. Wenn dazu noch die Standpunkttheorie kommt, scheint Objektivität aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Unterdrückung die Steigbügel zu halten. Im Versuch, das Wirken der Macht zu enthüllen, wird die eigentliche Wahrheit über Bord geworfen. Die größeren Wahrheitssoziologen (darunter auch Young selbst) erkannten, dass der Lehrplan sozial konstruiert war und elitäres Wissen förderte, was soziale Ungleichheit reproduzierte. Die hastigen Bemühungen, soziale Gerechtigkeit zu schaffen, führten jedoch dazu, dass eine andere Wahrheit in Vergessenheit geriet, nämlich dass dieser sozial konstruierte Lehrplan allen Kindern den Zugang zu universellem, mächtigem Wissen ermöglichen konnte.

Verteidigung der Aufklärung

In „Lehrpläne und die Spezialisierung des Wissens“ geht es vor allem um die Frage, was gelehrt werden sollte. Dies, und nicht die Frage, wie gelehrt werden sollte, ist für Young und Muller das wichtigste Thema. Ihr Plädoyer für eine wissenszentrierte Bildung kann die Grundlage einer allgemeinen Rehabilitierung der Errungenschaften der Aufklärung bilden. Eine Rehabilitierung, die allen Gesellschaftsmitgliedern nutzen würde.

„Im Versuch, das Wirken der Macht zu enthüllen, wird die eigentliche Wahrheit über Bord geworfen.“

Verglichen mit der unkritischen Akzeptanz des liberalen Bildungskanons war die Einsicht, dass alles Wissen in gewisser Hinsicht „sozial konstruiert“ ist, ein gesellschaftlicher Fortschritt. Aus dieser Einsicht wurden jedoch die falschen Schlüsse gezogen. Laut Young und Muller kam es ab den 1970er-Jahren zu einer merkwürdigen Kombination von Unbestimmtheit – „alles ist willkürlich“ – und Determinismus – „alles kann verändert werden“. In der Bildungspolitik verbanden sich konstruktivistische Ideen mit der Bevorzugung „untergeordneten“ Wissens. Man zelebrierte die Kultur derjenigen, die in der Schule abgelehnt wurden und versagten. Ihre Sprache und ihre Ablehnung formaler Bildung galten als Grundlagen eines neuen Klassenbewusstseins. Die Emanzipation von etablierten Wissensautoritäten wurde als Mittel gesehen, eine egalitärere, gerechtere Welt zu schaffen.

Dieser „kleine Moment“ der Emanzipation hatte laut Young und Muller einen hohen Preis. Die Autoren hüten sich jedoch, selbst übereilige Schlüsse zu ziehen. Anstatt die „neue Soziologie der Erziehung“ komplett abzulehnen, behalten sie deren Betonung des sozio-historischen Charakters des Wissens bei. Young und Muller weisen etwa darauf hin, dass der zeitgenössische Lehrplan in Großbritannien dem Lehrplan der meisten entwickelten Länder ähnelt, obwohl diese Länder nicht dieselbe historische Entwicklung durchmachten. Die Tatsache, dass dieser Lehrplan im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert von einer kleinen, privilegierten Schicht entwickelt wurde, sei jedoch kein Grund, ihn als „bürgerlichen Lehrplan“ zu bezeichnen. Dies sei nicht weniger absurd, als das Boyle-Mariottsche Gesetz als „bürgerliches Gesetz“ zu bezeichnen, weil Robert Boyle, der es im 18. Jahrhundert entdeckte, ein Gentleman der gehobenen Mittelschicht war.

„Schüler brauchen Zugang zu mächtigem Wissen, nicht zum Wissen der Mächtigen.“

Der sozio-historische Charakter des Lehrplanwissens ruft laut Young und Muller im Wesentlichen zwei Reaktionen hervor. Schulen und Lehrer können das alte, elitäre System aufrechterhalten und es in geringem Maße für breitere Gesellschaftsschichten öffnen (dieser Ansatz ist vor allem in der britischen Konservativen Partei vertreten). Oder sie können sich weigern, Expertenwissen als einzigartig anzuerkennen, und alle Kulturformen und Formen von Erfahrungswissen als gleichwertig betrachten. Im ersten Szenario ist Bildung ein zivilisatorisches Instrument für die Jugend der Elite. Das zweite Szenario bietet eine vermeintlich liberale Alternative, die die kreative Tätigkeit von Lehrenden und Lernenden in den Vordergrund stellt. Young und Muller kritisieren beide Optionen: „Keine erkennt, dass Wissenszuwachs das zentrale Thema sein muss, sowohl bei der Ausgestaltung des Lehrplans als auch beim Streben nach einer gerechteren Gesellschaft.“ Schüler, argumentieren die Autoren, bräuchten Zugang zu mächtigem Wissen, und nicht zum Wissen der Mächtigen.

„Mächtiges Wissen“ ist für Young und Muller fachliches, kontextunabhängiges oder theoretisches Wissen. Dieses Wissen erhebt einen Anspruch auf Universalität und dient als Grundlage für Urteile. Die Autoren erkennen an, dass diese Vorstellung von Wissen normalerweise mit den Naturwissenschaften assoziiert wird – die Physik, beispielsweise, ist überall gleich. Diese Universalität macht mächtiges Wissen demokratisch. Es beruht nicht auf den kulturellen Annahmen einer bestimmten Gruppe, sondern auf der Verlässlichkeit und Objektivität seiner Konzepte und Methoden. Diese Logik, argumentieren Young und Muller, könne jedoch auch auf Wissensbereiche jenseits der Naturwissenschaften angewandt werden. Kulturelles Wissen könne objektiv sein, da es „Wahrheitsnormen und interne Regeln der Solidarität und Hierarchie“ hat.

Sozialwissenschaftler lernen, Schlussfolgerungen zu ziehen, indem sie sich das Fachwissen ihrer Disziplin und Beobachtungs- und Interpretationstechniken aneignen. Sie werden von einer sachkundigen wissenschaftlichen Gemeinschaft kontrolliert. Auf diese Weise, so Young und Muller, kann die Gesellschaft zwischen mächtigem und weniger mächtigem Wissen unterscheiden. Akademische Disziplinen besitzen laut Young und Muller „legitime, gemeinsame und verlässliche Mittel zur Wahrheitsgenerierung.“ „Die Wahrheit“ ist für sie eine „stabile Partnerschaft“, die aus den Studienobjekten und einer Gemeinschaft von Fachleuten besteht.

„Die identitätsbesessenen Studentenproteste in der angloamerikanischen Welt sind eine Mahnung.“

Young und Muller räumen ein, dass der Begriff des mächtigen Wissens in den Geisteswissenschaften an gewisse Grenzen stößt. „Kulturgüter sind nicht analysierbar wie Naturobjekte.“ Dies entbinde die Kulturwissenschaften jedoch nicht von der „Pflicht zur Wahrheit“. Die Geisteswissenschaften müssten ergründen, was „universell“ ist, und das Universelle dem Speziellen und Identitätsbasierten vorziehen. Ohne ein Gefühl für das Universelle – der Vorstellung, dass alle Menschen Teil einer größeren Menschheit sind – könnten Studenten nicht über einen unkritischen „Respekt“ vor Minderheiten und nicht-westlichen Gesellschaften hinausgehen. Große Kunstwerke, so Young und Muller, bewegen uns, weil sie sich mit Gefühlen wie Schuld, Reue, Bedauern, Verantwortung und Freude auseinandersetzen, die zwar in bestimmten Zusammenhängen erlebt werden, aber allen Menschen gemeinsam sind.

Das Buch von Young und Muller ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Vermittlung von Wissen – mächtiges Wissen, das „diejenigen, die Zugang dazu haben, befreit und ihnen ermöglicht, sich alternative und neue Möglichkeiten vorzustellen.“ Dazu müssen Lehrer die Freiheit haben, Wissen zu vermitteln, das über die individuelle Lebenssituation der Schüler hinausgeht und universelle menschliche Werte anspricht. Die identitätsbesessenen Studentenproteste in der angloamerikanischen Welt sind eine Mahnung. Sie zeigen, dass wir es zunehmend versäumen, jungen Menschen Wissen zu vermitteln, das universelle Werte verkörpert. Die Ideen von Michael Young und Johan Muller bieten einen Ausweg aus dieser Sackgasse.

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