09.10.2025
Wider die Allianz des Etatismus
Der Staat versagt, weil er sich in nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt hat. Um zu gelingen, muss er entschieden zurückgedrängt werden. Das würde das Potential der Menschen entfesseln.
Alle reden von Reformen. Überall klagen Bürger, Unternehmer, Lehrer, Ärzte, Offiziere und Bürgermeister: über ausufernde Bürokratie, marode Infrastruktur, überforderte Schulen und Universitäten, ein fehlgesteuertes Gesundheitssystem, fehlende Verteidigungsbereitschaft, Energieprobleme, eine überforderte Migrationspolitik. Kaum ein Bereich, in dem der Staat federführend ist, der nicht als krisenhaft gilt – bei einer Staatsquote von 50 Prozent.
Und doch wird eine Frage fast nie gestellt: Was unterscheidet Staatsgelingen von Staatsversagen? Im Gegenteil: Fast alle Erwartungen, fast alle Appelle richten sich immer wieder per se an den Staat. Er soll retten, lenken, versorgen. Der Ruf nach Reformen ist tatsächlich lediglich der Ruf nach mehr oder nach einem anderen Staat – obwohl die Wurzel des Problems in seiner Überdehnung liegt.
Von Marktversagen ist ständig die Rede. Kaum ein volkswirtschaftliches Lehrbuch, kaum ein politisches Statement, das nicht diese Vokabel führt. Meist falsch: Denn der Markt versagt nicht, er bringt Ergebnisse hervor – gute oder schlechte, von einigen erwünschte von andere nicht erwünschte, aber stets Ergebnisse individueller Entscheidungen und Anreize. Marktversagen ist zum Schlagwort geworden, um staatliches Eingreifen zu legitimieren.
Staatsversagen
Von Staatsversagen dagegen spricht selten jemand. Schon der Begriff scheint tabu. Der Staat darf nicht versagen, weil er als letzte Instanz gedacht wird. Doch genau das geschieht: Strukturen brechen ein, Leistungen sinken, Aufgaben bleiben unerfüllt. Und in vielen Fällen würde staatliches Unterlassen mehr bewirken als kontraproduktives Eingreifen. Besser wäre es, wenn der Staat nur dann zuständig wäre, wenn nachweislich private Versuche in Wirtschaft und Gesellschaft nicht erfolgreich waren, aber tatsächlich ein Lösungsbedarf besteht. Und wenn die staatliche Lösung nicht funktioniert, muss das Problem wieder an die Gesellschaft zurückgegeben werden.
Staatsversagen ist kein moralisches Urteil – kein Gut und Böse. Es ist ein analytischer Sammelbegriff. Und er sollte endlich enttabuisiert werden – so wie es z.B. das Handelsblatt im Februar 2025 tat („Die kranke Republik – Wie Deutschland wieder handlungsfähig wird“). Menschen, die über Staatsversagen sprechen, wollen nicht den Staat abschaffen, sondern ihn zum Gelingen führen: durch Konzentration auf Kernaufgaben, durch Beschränkung seiner Verwaltungsmitarbeiter auf das, was sie leisten können. Bürger und Unternehmen und können dann wieder selbst mehr leisten. Was häufig unerkannt bleibt: Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen einer Steuerung durch inflationäre Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen oder aber durch Preise, Wettbewerb und das dezentrale Engagement vieler Bürger. Das kommt in den Bezeichnungen Zentralverwaltungswirtschaft und Marktwirtschaft anschaulich zum Ausdruck.
„Heute hat sich der Staat in nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt – mit wachsender Ohnmacht als Ergebnis.“
Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft – Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack – haben den Wohlfahrtsstaat nicht deshalb kritisiert, weil sie Wohlfahrt verachteten. Sie warnten, weil dieser Staat eine andere Ordnung verkörperte: eine zentralistische, dirigistische, bürokratische Wirtschaftsordnung. Genau diese ist heute Realität. Alexander Rüstow hat im Oktober 1932 auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik seine berühmte Rede „Freie Wirtschaft – starker Staat“ gehalten. Dort stellte er fest: „Über die Einsicht, dass die gegenwärtige deutsche Krise zu einem erheblichen Teil durch Interventionismus und Subventionismus der öffentlichen Hand verursacht ist, herrscht nachgerade unter den Urteilsfähigen Einigkeit.“
Für Rüstow lag eindeutig ein Fall von Staatsversagen vor. Er wollte den schwachen Weimarer Staat stärken. Schwach war er – wie heute auch –, weil er allzuständig war, seine Kräfte überspannt hatte und so zur Beute der Interessengruppen wurde. Die Staatsohnmacht könne aber gerade nicht durch weitere Zuständigkeiten oder eine noch umfassendere Planung geheilt werden, wie dies in der totalen Planwirtschaft Russlands angestrebt werde, urteilte der Universalgelehrte, der zeitweise Referent im Reichswirtschaftsministerium war und später Präsident der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft wurde. Daher lautete Rüstows Forderung: „Selbstbeschränkung als Grundlage der Selbstbehauptung“. Erst das „Sichbesinnen und Sichzurückziehen des Staates auf sich selber“ schaffe für ihn einen starken Staat, der über den Interessen steht.
Probleme der Politik
Die Bundesrepublik hat diese Warnung lange ernst genommen. Die Soziale Marktwirtschaft wurde als ein Arrangement aus Ordnungsrahmen, Wettbewerb und sozialem Ausgleich beworben. Ludwig Erhard, Wilhelm Röpke, Luigi Einaudi und Jacques Rueff verstanden Europa als einen Hort der Freiheit. Heute hat sich der Staat indes in nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt – mit wachsender Ohnmacht als Ergebnis. Die Symptome sind sichtbar: lähmende Bürokratie, Flickenteppich von Zuständigkeiten, Verwaltungsreformen, die sich im Klein-Klein verlieren. Aber die Ursachen liegen tiefer.
Deutschland hat einen politisch-staatlich-medialen Komplex entwickelt, der sich selbst verstärkt. Er lebt von den Leistungen der produktiven Bürger, kritisiert sie zugleich als „Privilegierte“, als sozial ungerecht, als „Marktgläubige“. Die Staatsbürokratie sehnt sich zwar selbst nach weniger Bürokratie, ist aber vielfach unfähig, sich aus eigener Kraft zu reformieren. Verwaltungen können verwalten – modernisieren fällt ihnen enorm schwer.
Das Führungspersonal ist häufig durch Parteiapparate marschiert, ohne nennenswerte Berufserfahrung außerhalb der Politik. Es ist auf Machterhalt fokussiert und entscheidet über Fachfragen, für die es strukturell unzureichend vorbereitet sein muss. Die Anmaßung von Wissen, vor der Friedrich August von Hayek warnte, ist hier Alltag. Wissen stammt regelmäßig nicht von Experten, sondern entsteht nämlich in einem Entdeckungsverfahren.
Zugleich sind die Bürger gespalten. Viele wollen zwar Veränderung, aber bitte nicht dort, wo sie selbst betroffen wären. Vor allem die ältere Generation hofft, noch ‚durchzukommen‘, ohne allzu große Einschnitte zu erleben. Damit verstärken sie die Tendenz zur Reformverweigerung. Das Ergebnis: ein System, das sich selbst blockiert – und zugleich so tut, als würde es Reformen anstreben. Rasender Stillstand. Gerade auch auf europäischer Ebene, wo die Masse der Gesetze erlassen wird. So wurden vom Draghi Report, dessen Umsetzung die EU zukunftsfähig machen soll, nach einem Jahr nur gut 10 Prozent der umfangreichen Maßnahmen realisiert.
„Die öffentliche Debatte wird beherrscht von der Links-Rechts-Achse. Doch diese führt in die Irre.“
Dass Politik nicht automatisch im „öffentlichen Interesse“ handelt, sondern nach den Anreizen von Macht, Wiederwahl und Eigeninteresse, ist längst wissenschaftlich untersucht. Die Public Choice-Schule hat seit den 1960er Jahren gezeigt, dass Staatsversagen nicht Ausnahme, sondern Normalfall sein kann. James Buchanan erhielt dafür den Nobelpreis, Elinor Ostrom später einen für die Analyse kollektiver Entscheidungsprozesse. Ihr Befund: Politiker und Beamte handeln nicht anders als andere Menschen. Sie streben nach Macht, Einfluss, Budget, Sicherung der eigenen Position. Staatsversagen entsteht, wenn diese Anreize vom Gemeinwohl entkoppelt sind. Staatsgelingen dagegen erfordert Institutionen, die gute Anreize setzen – für Bürgerbeteiligung, für Wettbewerb der Ideen, für Verantwortung statt Verantwortungsdiffusion.
Die öffentliche Debatte wird beherrscht von der Links-Rechts-Achse. Doch diese führt in die Irre. Viel entscheidender ist eine andere Achse: freiheitlich oder dirigistisch respektive dezentral oder hierarchisch. Diese spielt indes keine Rolle. In Deutschland herrscht wie in der EU eine parteiübergreifende Allianz des Etatismus. Unterschiedliche Farben, gleicher Kern, auch jenseits der Brandmauer. Diese Allianz grenzt Alternativen aus, sichert sich die Definitionsmacht und verschleiert damit, dass die eigentlichen Blockaden in der Systemlogik liegen, nicht in einzelnen politischen Programmen. Eine neue Achse wäre jene des Staatsgelingens: Wie weit lässt sich ein Staat denken, der dienend statt kontrollierend ist? Wilhelm von Humboldt schrieb vor über 200 Jahren über die Grenzen des Staates. Ein gelingender Staat, der als Rahmengeber und Ermöglicher auftritt – nicht als Regulierer, der jede Lebenszone überwacht. Die Liberalen werben seit Jahrzehnten dafür.
Die Folgen von Staatsversagen liegen offen zutage: steigende Belastungen, sinkende Produktivität, demographischer Druck, Infrastrukturverfall, enorme nicht ausgewiesene Staatsverschuldung, Reformillusionen ohne Substanz und Problemverschleppungen seit Jahrzehnten.
„Was Staatsversagen gewesen ist, kann Ausgangspunkt für Staatsgelingen werden.“
Der amerikanische Historiker Peter Turchin hat diese Prozesse in einer makroperspektivischen Analyse untersucht. In seinem Buch „End Times“ beschreibt er die historische Dynamik von Niedergangsphasen: Elitenwachstum, das heißt eine aufgeblähte Staatsklasse; Verelendung breiter Bevölkerungsschichten; Unternehmer ohne Perspektiven. Das Zusammenspiel führt zu einer langanhaltenden Krise – zum „Ende einer Zeit“. Turchins Modell ist vereinfacht, aber es bietet Anhaltspunkte: Auch Deutschland und Europa kennen Elitenwachstum, steigende Belastungen der Mittelschicht und Unternehmer, die sich nach Alternativen im Ausland umsehen.
Politiker haben kaum Anreize und Kompetenzen, solche Krisen abzuwenden. Ihre Logik ist kurzsichtig: vier Jahre, Koalitionsarithmetik, Machtspiele. Belohnt wird nicht das Gemeinwohl, sondern die Vergabe sichtbarer Vorteile an klar identifizierbare Gruppen. Längerfristige, abstrakte Verbesserungen für viele zahlen sich nicht aus. Wirtschaft und Gesellschaft sind Ordnungen, die sich nicht steuern lassen wie eine Organisation, seine es eine Armee, Behörde oder ein Unternehmen. Doch hier ergibt sich auch ein Potential für Wendepunkte – in Momenten der Krise wird oft neu verhandelt. Was Staatsversagen gewesen ist, kann Ausgangspunkt für Staatsgelingen werden.
Entpolitisieren und Ermöglichen
Was also tun? Die gängigen Antworten – mehr Effizienz, neue Reformkommissionen, zusätzliche Programme – verharren im Alten. Sie setzen weiter auf denselben Staat mit derselben Steuerungslogik, der längst an seiner bürokratischen Sklerose leidet.
Der wirkliche Ausweg liegt in Entpolitisieren und Ermöglichen.
Kernaufgaben stärken: Sicherheit, Recht, Eigentum, Kerninfrastruktur. Randaufgaben abgeben: Nicht jede Aufgabe muss zentral oder staatlich gelöst werden.
Vertrauen und Verantwortung wiedergewinnen: Nicht bloß mehr Kontrolle, sondern mehr Verantwortung bei Bürgern, Kommunen und Unternehmen.
Dezentralität, Wettbewerb, Öffnung: Nur so entsteht Vielfalt, Innovation und Belastbarkeit.
Reform des Staatsdienstes: Fähigkeitsorientierung, Austausch zwischen Staat und Privat, weniger starre Hierarchien, weniger Aufgaben, weniger Behörden, weniger Staatsbedienstete.
Die Stärke einer Gesellschaft ist wie die eines Landes entscheidend eine ökonomische- Infrastruktur eingeschlossen: Ein prosperierendes Land ist attraktiv, resilient und technologisch wehrhaft. In einem wirtschaftlich freien Land mit einem Staat, der hoheitliche Aufgaben mit hoher Qualität erbringt, geht es allen Menschen besser als in unfreien Ländern, wie jährlich der Index of Economic Freedom belegt.
„Freiheit ist das Erste, staatliche Zuständigkeit das Abgeleitete – beschränkt darauf, Spielregeln zu sichern, ohne selbst Spieler zu werden.“
Die eigentliche Frage lautet nicht, wann endlich Reformen kommen. Sondern: Wie werden wir zu einem Staatsgebilde, das weniger Fehler produziert, weniger überfordert ist – und mehr gelingt für die Menschen? Schon Rüstow mahnte 1932: Der Staat müsse sich „selbstbeschränken, um sich selbst zu behaupten“. Heute erleben wir zu oft das Gegenteil: ein Staatswesen, das überall zuständig sein will und sein soll – und gerade deshalb zu oft zu wenig zuverlässig erledigt. Jeder Mensch, jedes Unternehmen, jede Organisation weiß, was nach einer Phase der Schwäche und mangelnder Leistung zu tun ist: zurück zu den Kernaufgaben, diese professionell erledigen – und auf Nebenschauplätze verzichten. Für den Staat gilt nichts anderes.
Darüber hinaus geht es um mehr: Wir müssen die Kräfte der Menschen entfesseln – in Gesellschaft und Wirtschaft, im Tandem. Das ist die zeitlose Botschaft der Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft, des Liberalismus und eines freien, friedlichen Europa. Ein Staat, der stark sein will, muss den Menschen nicht nur Freiräume lassen, ihnen Eigentum und Einkommen sichern und nur dort eingreifen, wo sie es selbst nicht schaffen – und dann auch nur, wenn er es nachweislich besser macht. Dieser hochwertige Staat ist andersherum konzipiert: Die Menschen haben als Bürger, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Unternehmer, soziale Wohltäter im Kleinen und Großen, als Künstler und Erfinder per se Vorfahrt. Der Staatsapparat mit seinen Beamten und Verwaltungsangestellten als Kern des handelnden Staates hält sich stets zurück und bietet allenfalls Hilfe zur Selbsthilfe – als neutrale Instanz. Ein Staat, der Freiräume „lässt“, hat seine Rolle missverstanden. Freiheit ist das Erste, staatliche Zuständigkeit das Abgeleitete – beschränkt darauf, Spielregeln zu sichern, ohne selbst Spieler zu werden. Alles andere ist Anmaßung.
Ein solcher Staat wäre kein schwacher Staat, sondern ein gelingender.