10.10.2024
Über Angebot und Nachfrage hinausdenken
Von Sascha Tamm
Heute vor 125 Jahren wurde Wilhelm Röpke geboren. Der Ökonom, der als einer der geistigen Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft betrachtet wird, hat bis heute relevante Fragen gestellt.
Wenn anlässlich eines Geburtstages an einen Denker erinnert wird, geht es oft um die Frage: „Wie hätte er auf heute aktuelle Fragen geantwortet?“ Die Antworten sind notwendigerweise spekulativ und geben den Autoren der Würdigungen die Möglichkeit, ihre eigenen Ideen und Aussagen durch die Behauptung zu untermauern, dass der Gewürdigte das genau so gesehen hätte. Für eine derartige Herangehensweise bietet Wilhelm Röpke viele Ansatzpunkte. Das betrifft die Wirkmechanismen der Marktwirtschaft und der sie ordnenden politischen Institutionen ebenso wie Überlegungen zu den internationalen Beziehungen und insbesondere zum Institutionengefüge Europas. Zu all diesen Problemfeldern hat Wilhelm Röpke, dessen Geburtstag sich am heutigen 10. Oktober zum 125. Mal jährt, bleibende Beiträge geleistet.
Doch es ist vielleicht eine ebenso sinnvolle Würdigung, einige der grundlegenden Fragen zu vergegenwärtigen, die ihn sein ganzes Leben lang als Ökonomen, als politischen und sozialen Denker umtrieben und in seinem sehr umfangreichen wissenschaftlichen und publizistischen Werk Niederschlag fanden – ohne unmittelbar Antworten zu suchen und zu geben, die für aktuelle Probleme passgenau sind. Aktuelle öffentliche Debatten sind nicht deshalb oft so unbefriedigend, weil falsche Antworten gegeben werden, sondern weil grundlegende Fragen gar nicht erst gestellt werden.
Wilhelm Röpke war in seinem gesamten Schaffen nicht nur von seinem Erkenntnisinteresse allein getrieben – ohne dass dieses zu vernachlässigen wäre. Er habilitierte sich bereits mit 23 Jahren, wurde schnell Professor und war akademisch sehr erfolgreich. Doch schon sehr früh beteiligte er sich an öffentlichen Debatten und wollte in die Gesellschaft hineinwirken. Dabei ging es ihm nicht nur um wirtschaftspolitische Fragen im engeren Sinne, sondern um die Grundlagen der sozialen Ordnung. Er war konsequent in seiner Ablehnung des Nationalsozialismus, den er schon sehr früh als Form des Kollektivismus identifizierte und als Symptom des Verfalls der Wertesysteme, die eine bürgerliche Gesellschaft zusammenhalten, hart kritisierte. Diese offene und mutige Kritik führte dazu, dass er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland nicht mehr lehren durfte und ins Exil ging. Er fand schließlich eine neue Heimat in der Schweiz – deren politisches System er bewunderte und immer wieder zum Maßstab machte. Gleichzeitig blieb er eine einflussreiche Stimme in der deutschen Politik der Nachkriegszeit.
„Die Benutzung von Menschen als Instrumente eines höheren, kollektiven Willens war für Röpke die Wurzel allen gesellschaftlichen und politischen Übels.“
Die größte Gefahr für die Freiheit der Menschen, für das Menschsein überhaupt, ist der Kollektivismus. Die Benutzung von Menschen als Instrumente eines höheren, kollektiven Willens war für Röpke die Wurzel allen gesellschaftlichen und politischen Übels. Ausgehend von eigenen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg setzte er sich konsequent und zuweilen scharf im Ton gegen alle politischen Tendenzen und Bewegungen zur Wehr, die die Verantwortung für das Handeln vom Individuum auf staatliche Entscheidungsträger verlagerten. Ihm war ein Denken, und vor allem ein politisches Handeln zuwider, dass die „Gesellschaft als Maschine“ betrachtete und behandelte.1
Das hinderte ihn nicht daran, wichtige Staatsaufgaben zu sehen – so im sozialen Ausgleich und in der Beschränkung übergroßer wirtschaftlicher Macht, etwa durch Monopole. Besonders stark wandte er sich gegen staatlich geförderte und gesicherte Monopole, die gerade in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weit verbreitet und akzeptiert waren. Hier finden sich Anschlusspunkte für heutige Debatten. So gibt es ein von Röpke – wie von vielen anderen Ordoliberalen – nicht aufgelöstes Spannungsverhältnis: Wer durch staatliche Maßnahmen wirtschaftliche Macht beschränkt, gibt damit aber gleichzeitig dem per se monopolistischen Staat mehr Macht über wirtschaftliche Prozesse Gerade in seinem Spätwerk bringt Röpke wirtschaftliche Macht immer stärker in einem Zusammenhang mit der Massen- und Konsumgesellschaft, die er als Gefahr für die individuelle Freiheit einstuft und folglich attackiert.
Röpke bezeichnet die Marktwirtschaft als überlegene Sozialtechnik, um Wohlstand zu schaffen und ein friedliches Miteinander in freiwilliger Kooperation zu ermöglichen. Er verteidigt sie konsequent gegen alle Versuche, von staatlicher Seite in die Prozesse der Preisbildung und der Investition einzugreifen. Das ist, gerade aus der Perspektive der heutigen politischen Realität, in der eine Vielzahl von Interventions- und Steuerungsmechanismen zu unhinterfragten Selbstverständlichkeiten geworden sind, eine unverzichtbare Provokation gegenüber jedem staatlichen Handeln. Seine marktwirtschaftliche Prinzipienfestigkeit führte Wilhelm Röpke in einige Konflikte mit dem deutschen Regierungshandeln der Nachkriegszeit, was z.B. die umlagefinanzierte Rente anging. Diese Kritik unterfüttert er immer wieder mit moralischen Argumenten, mit den Auswirkungen auf die eigenverantwortliche Lebensgestaltung – und hebt sich damit von vielen ab, die sich auf reine Nutzenkalküle beschränken. Er beackert damit ein Feld, das viele Verteidiger der freien Marktwirtschaft viel zu leicht preisgeben – das Feld des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der individuellen Lebensgestaltung, ja des glücklichen Lebens.
„Angebot und Nachfrage können aus Röpkes Sicht nur dann ihre positiven Wirkungen entfalten, wenn sie in einem passenden moralischen Umfeld eingebettet sind.“
Angebot und Nachfrage können aus Röpkes Sicht nur dann ihre positiven Wirkungen entfalten, wenn sie in einem passenden, in einem richtigen moralischen Umfeld eingebettet sind.2 Dieses beruht auf individuellem Eigentum und engen sozialen Bindungen, auf der Anerkennung individueller Leistung. Neben kollektivistischer staatlicher Politik waren kulturelle Bedrohungen der Freiheit für ihn stetig präsent. Er glaubte fest daran, dass ein moralisch und kulturell reiches Leben nur in engen, kleineren sozialen Zusammenhängen möglich ist. Er entwickelte zuweilen geradezu sozialutopische Vorstellungen für das Leben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Es bleibt hier die Frage, wieviel Sozialutopie die Idee der Freiheit verträgt – denn es ist ja gerade Folge der Freiheit, dass Menschen über ihre Lebensgestaltung selbst entscheiden. Das Argument, das Röpke nicht ganz fremd ist, nämlich dass Menschen erst auf den Weg zum richtigen Leben gebracht werden müssen, entbehrt nicht einer autoritativen und kollektivistischen Note. Vor allem stellt sich aber die Frage, wie in einer Welt, die ohne jeden Zweifel auch durch das Zusammenleben in sehr großen Einheiten gekennzeichnet ist, Freiheit gesichert und gelebt werden kann.
Es wäre sicher nicht falsch, Röpke als etwas zu bezeichnen, was heute zahlreiche Politiker als zumeist unreflektierte Selbstbeschreibung verwenden: Er war ein überzeugter Europäer.3 Das bedeutete für ihn – wiederum anschließend an seine Erfahrungen mit den beiden Weltkriegen –, dass er ein friedliches und produktives Zusammenleben in Europa nur in einer Ordnung der Freiheit und der Subsidiarität als möglich ansah. Er war überzeugt von der großen Bedeutung des Wertekanons, der Europa auf christlichem Fundament, durch lang wirkende Traditionen des Rechts und Aufklärung gleichermaßen weiterentwickelt, zu einer so dynamischen und zugleich bewahrenswerten Zivilisation gemacht hat.
Zu den freiheitsbewahrenden Prinzipien zählte er jedoch auch das Prinzip der Subsidiarität, der Verwurzelung in kleinen Einheiten. Gleichzeitig war ihm vollständig bewusst, dass es Probleme gibt, die nur in großen politischen Einheiten gelöst werden können. Das ist nicht zuletzt die Bedrohung durch kollektivistische, der Kultur des Westens und der freiheitlichen Ordnung feindlich gegenüberstehenden Akteuren. Die Verortung Deutschlands im Westen, auch gedacht als Bollwerk gegen Kollektivismus und Kommunismus war für ihn essentiell – eine im Nachkriegsdeutschland nicht unumstrittene Position. Heute lohnt es, wie damals, wieder darüber nachzudenken, inwieweit die Verteidigung und Stärkung der freiheitlichen Ordnung tatsächlich Entscheidungen in größeren Bündnissen und damit die Unterordnung kleiner Einheiten erfordern und wie diese Machtmechanismen wiederum eingegrenzt werden müssen.
„Wieviel zentrale Entscheidungsfindung ist notwendig und legitimierbar, um die – gewaltigen – Bedrohungen für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Lebensgestaltung abzuwehren?“
Eine oft geäußerte Kritik, insbesondere an seinem späten Wirken, bezieht sich einerseits auf die bereits angedeutete starke Betonung eines festen und tradierten Wertekanons. Besonders wird Röpke vorgeworfen, dass er die Apartheid in Südafrika öffentlich verteidigte – mit dem Verweis darauf, dass die nichtweißen Bevölkerungsgruppen sehr fremde Traditionen und einen niedrigeren Zivilisationstand hätten als die Weißen und deshalb ein friedliches Zusammenleben nur durch die Institutionen der Apartheid möglich wäre.
Hier wird ein kompliziertes Spannungsverhältnis deutlich: Zwischen den konkreten Traditionen einer westlichen, bürgerlichen Gesellschaft und dem von und in dieser Gesellschaft vertretenen Anspruch auf individuelle Freiheit, auf Orientierung am individuellen Handeln, an individuellen Anstrengungen. So wahr es ist, dass geteilte Werte, dass Bildung und Traditionen eine wichtige Grundlage für das Zusammenleben in Freiheit sind, so unverzichtbar ist auch der Grundsatz der Individuellen Freiheit und Verantwortung selbst. Das heißt, dass Menschen nur nach ihrem Handeln, ihren Entscheidungen bewertet werden sollen und nicht nach Herkunft oder anderen, verwandten Kriterien.
Hier hat Röpke den Wertekanon verlassen, den er selbst so oft überzeugend darstellt und verteidigt. Auch das ist wieder ein wichtiges Diskussionsfeld – nicht nur was die Grundsätze der individuellen Freiheit betrifft: Inwieweit gelten allgemeine Grundsätze wirklich allgemein, universell? Und: welche Grundsätze und Prinzipien sind überhaupt universalisierbar? Schließlich, wie bereits oben angedeutet: Wieviel zentrale Entscheidungsfindung ist notwendig und legitimierbar, um die – gewaltigen – Bedrohungen für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Lebensgestaltung abzuwehren?
Der 125. Geburtstag von Wilhelm Röpke kann ein willkommener Anlass ein, sein Werk aufs Neue zu rezipieren, sich den Fragen zu stellen, die er aufwarf und die bis heute wichtig sind und gleichzeitig oft vernachlässigt werden.