16.06.2023
Austausch, Moral und Wohlstand
Von Sascha Tamm
Heute vor 300 Jahren wurde Adam Smith getauft. Das Werk des schottischen Aufklärers und Ökonomen bietet auch für die heutige Zeit Anregungen.
Anlässlich seines 300. Geburtstages häufen sich derzeit die Würdigungen für Adam Smith (1723-1790), einen der größten Sozialphilosophen seiner Zeit – und immens einflussreich bis heute. Wie es bei allen großen Denkern der Fall ist, wurde er immer wieder zitiert und interpretiert. Seine Werke liefern weiterhin Argumente für politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Seine Metapher der „unsichtbaren Hand“, seine Analyse von Arbeitsteilung und freiem Handel und die damit verbundene scharfe Kritik des Merkantilismus in seinem nationalökonomischen Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) sind wichtige Grundpfeiler des ökonomischen Denkens.
In den letzten Jahrzehnten wieder stärker in den Vordergrund gerückt sind seine moralphilosophischen Überlegungen, die er in der „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759) systematisierte. Darin wird der Mensch als ein mit moralischen Überzeugungen, mit der Fähigkeit zur Sympathie ausgestattetes Wesen analysiert. Menschen können sich, so Smith, zur Reflexion über ihr eigenes Handeln an einen imaginären unparteiischen Beobachter (impartial spectator) wenden, der sich in ihrer Brust befindet und damit eine Außenperspektive einnehmen.
Ausführlich ist über die Widersprüche diskutiert worden, die viele Interpreten zwischen den Ideengebäuden seiner beiden genannten Hauptwerke sehen. Die Spannungen zwischen beiden Werken werden sogar als das „Adam-Smith-Problem“ bezeichnet. Anlass dafür gibt vor allem Smith‘ Darstellung von Marktprozessen im „Wohlstand der Nationen“, in der er die Bedeutung des Eigeninteresses der einzelnen Anbieter von Waren – der Fleischer, Brauer und Bäcker etwa – bei der Schaffung von Wohlstand betont. In ihrem Selbstinteresse befriedigen diese die Bedürfnisse anderer. Die vielzitierte (und von Smith selbst nur sehr spärlich erwähnte) „unsichtbare Hand“ des Marktes sorgt dann dafür, dass die verschiedenen Interessen miteinander in Einklang kommen. Die Moralvorstellungen der Einzelnen spielen in dieser verengten Interpretation keine Rolle für ihr Handeln auf Märkten. Diese Aufteilung in weitgehend voneinander getrennte Sphären lag Adam Smith fern – nirgendwo gibt es Hinweise darauf, dass die Anbieter von Waren oder Dienstleistungen den unparteiischen Beobachter in ihrer Brust abschalten sollten, wenn sie Geschäfte machen.
„Die ursprüngliche Fähigkeit, miteinander zu handeln und zu tauschen, hat für Smith eine herausgehobene Bedeutung.“
Ganz im Gegenteil: Smith legt immer wieder dar, wie die Menschen versuchen müssen, die Interessen und Werte anderer zu erkennen, um mit ihnen geschäftlich kooperieren zu können. Ohne ihre Eigeninteressen, ihre Selbstliebe zu ignorieren, sind sie auch gezwungen, diese bei den jeweils anderen zu berücksichtigen. Sonst kommen sie weder beim Geschäftlichen noch bei anderen sozialen Interaktionen zusammen. Damit sind wir bei einem umfassenden Konzept des großen Schotten, das mehr Beachtung verdient und bis heute wichtige Hinweise für ein friedliches, zivilisiertes Zusammenleben geben kann – dem Austausch, der weit über die Sphäre der wirtschaftlichen Tätigkeit im engeren Sinn hinausgeht.
Der Drang und die Fähigkeit, mit anderen in Austausch zu treten, sind den Menschen unmittelbar gegeben. Diese Fähigkeit ist fundamental für die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen, aber auch aller anderen Aktivitäten.
Die Arbeitsteilung, die so viele Vorteile mit sich bringt, ist in ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand, zu dem erstere führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch langsam und schrittweise, aus einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander zu tauschen. (Adam Smith: „Der Wohlstand der Nationen“)
Die ursprüngliche Fähigkeit, miteinander zu handeln und zu tauschen, hat für Smith eine herausgehobene Bedeutung, sie zeichnet aus seiner Sicht den Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen aus. Diese Sicht unterscheidet ihn bis heute von vielen Denkern und politischen Akteuren, die Handel und Tausch, die die Wirtschaft als minderwertig, un- oder amoralisch diskreditieren und die wahre menschliche Bestimmung in anderen Sphären ansiedeln. Dagegen ist für Smith der Austausch die ursprüngliche Methode, mit der Menschen mit anderen in Kontakt treten, ihre eigenen Wertvorstellungen einbringen und sich mit denen anderer Menschen beschäftigen.
Eng verbunden mit dem Austausch ist das Lernen. In jeder Situation, in der über einen Tausch, über einen Preis verhandelt wird, lernen beide Seiten etwas über den Anderen, über seine Wünsche und Präferenzen. Sie nehmen die Eigenliebe des anderen in den Blick. Dies ist für den Realisten Smith ein integraler und notwendiger Bestandteil des Wertesystems jedes Menschen, aber eben nicht der einzige. In einem schrittweisen Prozess kann so eine Übereinkunft erzielt werden. Das ist nicht etwa wertfreies Feilschen, wie gern unterstellt wird, sondern ein Prozess der eigenen Weiterentwicklung, der Anpassung. Dieser Prozess kann zu einem für beide Seiten guten Ergebnis führen, auch zur Entdeckung ganz neuer Möglichkeiten.
„Für Smith ist der Mensch nicht von Natur aus aggressiv und rein egoistisch; er muss deshalb nicht von einem ‚Leviathan‘ beherrscht und zum friedlichen Miteinander gezwungen werden.“
Das gilt auch für die öffentliche Debatte über moralische Werte. Menschen streben, auch aus Selbstliebe, danach, dass ihr Handeln von anderen als gut anerkannt wird. Deshalb begeben sie sich immer wieder in einen geistigen Austausch. Sie wollen von anderen anerkannt werden, sie wollen andere von ihren Werten überzeugen. In diesem Prozess entstehen dann immer kompliziertere Strukturen des Zusammenlebens, der Kooperation, der Arbeitsteilung. Diese werden nicht in einem allgemeinen Plan erdacht, sondern entwickeln sich evolutionär und im Idealfall friedlich.
Mit seinem Menschenbild hebt sich Adam Smith deutlich von anderen Theoretikern ab, die die Notwendigkeit einer starken (staatlichen) Hand betonen, wie etwa Thomas Hobbes. Für Smith ist der Mensch nicht von Natur aus aggressiv und rein egoistisch; er muss deshalb nicht von einem „Leviathan“ beherrscht und zum friedlichen Miteinander gezwungen werden. Die Voraussetzungen für ein Zusammenleben in einer harmonischen Gesellschaft sind in ihm angelegt – Sympathie, die Anlage zur Selbstreflexion aus der Position des imaginären unparteiischen Beobachters, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Das heißt nicht, dass Menschen automatisch und immer moralisch handeln. Deshalb appelliert Smith an vielen Stellen an die moralischen Werte der Einzelnen, an ihr Mitgefühl beispielsweise.
Gleichzeitig ignoriert Smith die Eigenliebe der Menschen keineswegs – sie ist für ihn ein unverrückbares Faktum und die Voraussetzung für das Überleben der Menschen. Sie sollte nur eigeordnet werden in ein größeres Wertesystem, das auch die Interessen oder das Leid anderer Menschen einbezieht – nicht nur in der näheren Umgebung, sondern auf der ganzen Welt. Smith liegt es fern, für einzelne Handlungen in bestimmten Kontexten vorzugeben, ob sie gut oder schlecht seien. Er fordert die Menschen vielmehr auf, ihr Handeln an ihren eigenen Moralvorstellungen zu messen und diese immer wieder – im Austausch mit anderen – weiterzuentwickeln. Die Grundlage dafür ist ein weiteres Streben, das für Smith allen Menschen innewohnt: Das Streben nach Zustimmung zum eigenen Handeln, zu den eigenen Werten durch andere Menschen. Damit sind Menschen gezwungen, sich mit den moralischen Gefühlen anderer auseinanderzusetzen, sie möglicherweise zu beeinflussen, sich aber auch selbst anzupassen. All das ist Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben, für eine harmonische Gesellschaft, die Smith anstrebte.
„Der freie Austausch, das Abwägen, aneinander Reiben und Weiterentwickeln unserer eigenen Positionen ist das wichtigste Fundament einer freien und wohlhabenden Gesellschaft.“
Smith war kein fundamentaler Kritiker staatlichen Handelns an sich, er war auch kein Minimalstaatler im modernen Sinn. Er untersuchte jedoch staatliches Handeln genau hinsichtlich seiner tatsächlichen Folgen. Auch auf diesem Feld wird sein vorsichtiges Herantasten an die Zusammenhänge und Kausalitäten deutlich. Wenn er allerdings eine Politik als falsch erkannte, dann kritisierte er sie scharf und detailliert. Einer der Schwerpunkte dabei ist seine Kritik des Merkantilismus, der zu seiner Zeit vorherrschenden wirtschaftspolitischen Denkrichtung. Sie ging davon aus, dass für ein Land Exporte gut seien und stimuliert werden müssten, Importe dagegen schlecht. Letztere sollte minimiert werden, um – so das Ziel – das Staatsvermögen zu steigern. Smith zeigt sehr genau, dass das nicht zu mehr Wohlstand führt, sondern zu weniger. Dabei wird ein anderes Merkmal deutlich, das Smith von vielen Denkern seiner Zeit unterscheidet: Der Wohlstand einer Nation zeigt sich für ihn nicht im Reichtum der Herrscher oder bestimmter extrem wohlhabender Gruppen, sondern er analysiert die Wohlstandseffekte für alle.
Und hier zeigt er – in gewisser Weise als Vorgriff auf die Public-Choice-Theorie –, dass eine merkantilistische Politik nur wenigen nützt, die von Einschränkungen des freien Handels profitieren, für die meisten aber Wohlstandschancen verbaut. In gleicher Weise analysiert er weitere Politikfelder und entwickelt ein System, in dem die Möglichkeit freien Austausches Wohlstandsgewinne für alle eröffnen. Er ist damit gerade nicht – wie ihm oft unterstellt wird – ein Apologet der Reichen und der Eigentümer, sondern denkt immer die Effekte für diejenigen mit, die einfache und schlecht bezahlte Arbeiten ausführen.
Die Beachtung der Interessen aller war für ihn die Voraussetzung einer harmonischen und prosperierenden Gesellschaft – in diesem Sinne wollte er die Politik seiner Zeit beeinflussen und macht immer wieder Vorschläge, wie die Verhältnisse an eine Ordnung des freien Austausches, der Wohlstandsmehrung und des harmonischen Zusammenlebens angenähert werden können. Dabei steht der freie Austausch von Ideen und Gütern, das graduelle, vorsichtige Vorgehen im Mittelpunkt.
Diese Herangehensweise bietet viele Anregungen für das Heute. Neben den im engeren Sinne wirtschaftspolitischen Lehren, die in einem Zeitgeist, den man durchaus als neo-merkantilistisch bezeichnen kann, ihre Wichtigkeit beweisen, vor allem eine: Der freie Austausch, das Abwägen, aneinander Reiben und Weiterentwickeln unserer eigenen Positionen ist das wichtigste Fundament einer freien und wohlhabenden Gesellschaft.