03.09.2025
Die Gartenrepublik als Alternative zur Smart City
Die Gartenmetapher beim Ökonomen und Soziologen Alexander Rüstow lässt sich jenseits romantischer Utopien als konkrete Inspiration zu Freiheitsräumen im menschlichen Maßstab verstehen.
Alexander Rüstow (1885-1963) gehört zu den großen, aber heute weitgehend vergessenen Denkern des 20. Jahrhunderts. Als Mitbegründer des ursprünglichen Neoliberalismus, als Kritiker totalitärer Systeme und als geistiger Architekt der Sozialen Marktwirtschaft prägte er die deutsche Nachkriegsordnung maßgeblich mit. Zugleich entwickelte er eine Vision menschenwürdigen Lebens, die im 21. Jahrhundert erstaunlich aktuell wirkt: die Gartenmetapher als Gegenentwurf zu technokratischen Utopien. „Diese schöne Erde könnte für alle Menschen ein Garten sein, wenn wir nur endlich aufhören wollten, sie uns gegenseitig zur Hölle zu machen“, schrieb Rüstow. In diesem Satz steckt eine ganze Welt: Der Garten ist eine Ordnung zwischen ungezähmter Wildnis und mechanisierter Fabrik, zwischen Chaos und Zwang. Er steht für ein Leben im menschlichen Maßstab, das Kreativität und Eigenverantwortung mit natürlichen Rhythmen verbindet. Ein vitaler Raum, menschengemäß.
Rüstow wollte nicht bei der Kritik an Fehlentwicklungen stehenbleiben. Mit seiner „Vitalpolitik“ beschrieb er eine Orientierung am täglichen Lebensumfeld: Familie, Arbeitsplatz, Wohnform, Freizeitgestaltung – die Vitalsituation, die das Wohlbefinden jedes Menschen bestimmt. Er knüpfte an Humboldt an, der die „proportionierlichste Bildung der Kräfte“ forderte, und dachte an eine umfassende Entfaltung – biologisch, seelisch, geistig, kulturell.
Dabei wandte sich Rüstow gegen die bismarcksche Sozialpolitik, die er als Machtinstrument begriff: Brot, das aus Flugzeugen geworfen wird – und sobald Beschwerden laut werden, verdoppelt man die Zahl der Brote. Stattdessen plädierte er für Rahmenbedingungen, die echte Lebensqualität ermöglichen: familiengerechtes Wohnen, Nähe zur Natur, Vielfalt von Gewerbe und Berufen.
Allerdings steckt in dieser Vision eine Ambivalenz. Eine Vitalpolitik kann leicht in paternalistische Vorgaben kippen: Nudging, staatliche Lebensleitbilder, das Versprechen universeller Wohlfahrtsidyllen. Wer jedem ein Haus mit Garten „garantiert“, verlässt rasch den freiheitlichen Rahmen. Rüstows Intention war nicht, Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, sondern Bedingungen zu schaffen, unter denen sie ihre eigenen Lebensentwürfe verwirklichen können. Klassisch-liberal verstanden bedeutet Vitalpolitik daher kein dirigistisches Programm, sondern die bewusste Sicherung von Freiheitsräumen.
„Der Garten zeigt, dass Vielfalt, Eigeninitiative und Verantwortung stärkere Kräfte sind als Beschleunigung und Effizienzsteigerung.“
Gerade hier entfaltet die Gartenmetapher ihre Kraft. Ein Garten lässt sich nicht zentral planen, nicht „disruptiv“ skalieren. Er verlangt Geduld, Pflege, Kontinuität. Er wächst aus den Händen derer, die ihn bearbeiten, nicht aus einem Algorithmus oder einem fernen Planungsbüro. Der Mensch mag sich noch so anstrengen, beherrschen kann er die Natur nicht, er bleibt ein Teil von ihr und sie ein Teil seines vitalen Lebens. Im Gegensatz zum Mantra des Silicon Valley – „move fast and break things“ – verkörpert der Garten das Prinzip des Beharrens und der Rücksicht auf natürliche Zyklen. Er zeigt, dass Vielfalt, Eigeninitiative und Verantwortung stärkere Kräfte sind als Beschleunigung und Effizienzsteigerung. Rüstows Subsidiaritätsprinzip, wonach Aufgaben auf der kleinstmöglichen Ebene gelöst werden sollen, findet hier seine anschaulichste Verkörperung. Ein Garten ist immer lokal, immer konkret, immer in menschlichem Maßstab.
Schon heute gibt es viele Erscheinungen, die sich mit Rüstows Einsicht verbinden lassen.
- Urban Gardening schafft soziale Bindungen, die keine App ersetzen kann. Nachbarschaftsgärten sind Treffpunkte, Orte des Gesprächs und der Selbsthilfe.
- Handwerksbetriebe funktionieren nach dem „vegetativen“ Prinzip: Wissen wird durch persönliche Übertragung von Generation zu Generation weitergegeben. Jeder Meister-Geselle-Lehrling-Zyklus ist ein lebendiger Steckling kultureller Kontinuität.
- Genossenschaften zeigen, dass dezentrale Wirtschaftsstrukturen auch im globalen Wettbewerb bestehen können – von Raiffeisen-Banken bis zu Südtiroler Handwerkerverbünden wie dem Roten Hahn.
- Permakultur-Höfe demonstrieren, wie nachhaltige Landwirtschaft ohne industrielle Großstrukturen funktioniert.
- Cohousing- und Mehrgenerationenprojekte verbinden private Autonomie mit geteilter Infrastruktur und gemeinsamer Verantwortung.
Die Forstwirtschaft mit ihren Nachhaltigkeitsprinzipien seit dem 18. Jahrhundert sorgt für die Pflege, Nutzung und den Anbau von Wäldern, um Holz als Rohstoff zu gewinnen und gleichzeitig die Schutz- und Erholungsfunktionen des Waldes zu erhalten. Heute werden vielfältige Mischwälder angepflanzt, die sowohl ökologisch stabil sind als auch langfristig Holz produzieren und zahlreiche weitere Leistungen erbringen, etwa Luftreinigung, Hochwasserschutz, Lebensraum für Tiere und Erholung für Menschen.
Die Initiativen sind nicht ideologische Umsturzprogramme, sondern praktische Beispiele dafür, wie dezentrale Selbstorganisation funktioniert. Sie entstehen aus Eigeninitiative, wachsen aus konkreten Bedürfnissen vor Ort und gewinnen ihre Kraft aus freiwilliger Zusammenarbeit.
Rüstow sah die Gartenidee nicht nur als kulturelles Leitbild, sondern auch als geopolitisches Gegengewicht. Im Kalten Krieg war für ihn klar: Der Westen kann nur bestehen, wenn er dem totalitären Versprechen einer allumfassenden Überintegration eine menschlichere, freiheitliche Lebensform entgegensetzt.
„Der Garten zeigt, dass Freiheit nicht in zentraler Planung wächst, sondern im Zusammenspiel von Pflege, Geduld und Eigeninitiative.“
Heute gilt das wieder – vielleicht dringlicher als damals. Chinas Sozialkreditsystem ist der Versuch, Menschen in ein digitales Korsett zu pressen. Silicon Valleys Plattformmacht steuert Verhalten subtil, aber wirksam. Beide Systeme sind Varianten desselben Problems: technokratische Überintegration. Die Antwort Europas und der freien Welt kann nur in radikaler Dezentralisierung bestehen: in der Stärkung subsidiärer Strukturen, die menschliche Würde und Verantwortung ermöglichen. Radikal meint von der Wurzel verstehen und ändern. So bleibt der Liberalismus eine attraktive Alternative: nicht als kalte Marktlogik, sondern als humane Gesellschaftsordnung.
Die Gartenrepublik ist keine schwärmerische Idylle, sondern eine Leitidee für konkrete Ordnungsrahmen. Entscheidend ist nicht, dass der Staat „fördert“, sondern dass er Freiheit ermöglicht:
- Abbau bürokratischer Barrieren, etwa im Baurecht oder bei kleinteiligen Gewerben.
- Allgemeine Reduzierung von Steuern und Abgaben, damit Menschen über mehr eigene Mittel verfügen.
- Stärkung kommunaler Freiräume, in denen experimentiert und ausprobiert werden kann – ohne ständige Vorgaben „von oben“.
So entstehen Räume, in denen Neues wachsen kann: Projekte, die lokal beginnen, aber überregional ausstrahlen. Der Staat muss nicht planen, sondern sich zurücknehmen – und dadurch die Voraussetzungen für Eigeninitiative schaffen.
Die Alternative ist klar: Entweder wir überlassen Pekings Technokraten, Brüssels Bürokratien und Silicon Valley die Gestaltung unseres Lebens. Oder wir verwirklichen Rüstows Vision einer Gesellschaft, in der Würde, Verantwortung und Gemeinschaft den Maßstab bilden.
Der Garten ist dabei mehr als eine Metapher. Er ist ein Lehrmeister: Er zeigt, dass Freiheit nicht in zentraler Planung wächst, sondern im Zusammenspiel von Pflege, Geduld und Eigeninitiative. Die Verbindung von Mensch und Natur reicht zurück bis zu den Anfängen unserer Gattung Homo. Heute helfen mehr Garten und weniger pseudo-soziale Medien der jungen Generation und heilen Körper-Seele-Geist.
Die Techno-Feudalisten versprechen Effizienz und Kontrolle. Rüstow bietet etwas anderes: ein Leben in Freiheit, im menschlichen Maßstab. Rüstow klingt fast retro: „Der Garten ist der eigentliche Lebensraum der Familie.“