24.07.2025

Transparenz als Bürgermacht

Von Michael von Prollius

Der finnische Pfarrer Anders Chydenius erkannte schon 1765, was heute viele übersehen: Meinungskontrolle funktioniert nur mit staatlicher Macht. Seine Antwort war radikal – und hochaktuell.

Wenn in Deutschland NGOs wie „Respect!" staatliche Anerkennung als privilegierte Meldestellen erhalten, wenn Amadeu Antonio Stiftung und Co. mit Millionen aus dem Bundesfamilienministerium alimentiert werden, um „Hassrede" zu bekämpfen, dann zeigt sich: Cancel Culture ist kein privates Phänomen empörter Twitter-Nutzer, sondern ein staatlich orchestriertes System der Meinungskontrolle.

Die jüngste Debatte über die Finanzierung von Organisationen, die sich als „Zivilgesellschaft" tarnen, aber faktisch als verlängerter Arm der Exekutive agieren, offenbart das Gesicht moderner Zensur. Sie kommt nicht mehr als Verbot daher, sondern als moralischer Druck – finanziert vom Steuerzahler, legitimiert durch vermeintlich unabhängige Experten.

Diese Mechanismen der verdeckten Meinungslenkung hätte ein Mann durchschaut, der vor 260 Jahren einen ähnlichen Kampf führte: Anders Chydenius (1729–1803), ein finnischer Landpfarrer, der zum Architekten der modernen Meinungsfreiheit wurde.1

1765 stand Chydenius vor einem Problem, das erschreckend vertraut klingt. In Schweden kontrollierte ein Zensor namens Niclas von Oelreich, was gedruckt werden durfte. Offiziell sollte er nur „staatsfeindliche" und „sittenwidrige" Schriften verhindern. Praktisch entschied er nach Gusto und politischer Opportunität, welche Meinungen die Öffentlichkeit erreichen durften. Chydenius erkannte das Grundproblem: 

Es ist jedoch eine merkwürdige Tatsache, dass die meisten Staaten ein wachsames Auge auf diejenigen haben, die sich außerhalb der Gesellschaft befinden, aber oft diejenigen, die sich innerhalb der Gesellschaft befinden, gut bewaffnet lassen, da man wissen sollte, dass die Menschen überall gleich sind und immer leichter in der Lage sind, unter dem Deckmantel des Patriotismus Schaden anzurichten als in der Gestalt eines Feindes. („Die Quelle der Schwäche unseres Landes“, 1765)

Der innere Feind war gefährlicher als der äußere – weil er im Namen des Gemeinwohls agierte und sich der Kritik entzog. Genau wie heute NGOs und Faktenchecker, die unter dem Banner der „Demokratieverteidigung" Meinungen unterdrücken.

Zensur und Transparenz

In seiner „Denkschrift über die Pressefreiheit" von 1765 sezierte Chydenius die Mechanismen staatlicher Meinungskontrolle mit chirurgischer Präzision. Der Zensor, so seine Analyse, agiere als „Richter über Gedanken und Vernunft der gesamten Nation", ohne selbst kontrolliert zu werden.

Nichts dürfte dann erscheinen, was in irgendeiner Weise seine persönlichen Interessen berührt, selbst wenn das öffentliche Interesse es verlangt. Der Zensor könnte so diejenigen um ihren Lebensunterhalt bringen, die nur über gelehrte Bildung verfügen und durch ihre Schriften leben wollen, er könnte aus persönlichem Hass gegen bestimmte Personen oder Wahrheiten nützliche Informationen zurückhalten.

Klingt das nicht wie eine Beschreibung heutiger Verhältnisse? Wissenschaftler, die ihre Stelle verlieren, weil sie die falschen Fragen zum Klimawandel stellen. Journalisten, die gemieden werden, weil sie zu kritisch über Migration schreiben. Unternehmer, die Aufträge verlieren, weil sie sich politisch unkorrekt äußern. Der entscheidende Unterschied: Damals war der Mechanismus noch transparent. Heute versteckt er sich hinter dem Schleier der „Zivilgesellschaft".

„Zensoren und ihre Auftraggeber scheuen das Licht der Öffentlichkeit.“

Chydenius' Antwort war revolutionär: Er forderte nicht nur die Abschaffung der Zensur, sondern die Einführung radikaler Transparenz. Seine Argumente überzeugten den schwedischen Reichstag, 1766 die weltweit erste Pressefreiheitsverordnung zu verabschieden. Diese ging weit über bloße Meinungsfreiheit hinaus. Sie etablierte das „Öffentlichkeitsprinzip": Bürger erhielten erstmals das Recht, Regierungsdokumente einzusehen. Was heute als Informationsfreiheitsgesetz bekannt ist, geht auf Chydenius zurück. Seine Begründung war bestechend einfach: „Die Freiheit eines Volkes wird nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch öffentliche Information und Kenntnis ihrer Anwendung bewahrt." Nur wer weiß, wie Macht ausgeübt wird, kann sie kontrollieren.

Chydenius verstand: Meinungskontrolle gedeiht im Verborgenen. Zensoren und ihre Auftraggeber scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Deshalb war Transparenz seine schärfste Waffe gegen Expertenmacht und Bürokratenwillkür.

Da die Bank keine Person ist, obwohl sie von Personen verwaltet wird, sondern ein Fonds ist, der aus dem Geld derjenigen besteht, die es aus Bequemlichkeit vorgezogen haben, Banknoten zu verwenden, und der für den Gebrauch aller eingerichtet wurde, so hängt der Kredit dieses Fonds auch davon ab, dass jedermann vollkommene Kenntnis von der gesamten Einrichtung hat.

Diese Analyse der schwedischen Staatsbank lässt sich mühelos auf heutige NGOs übertragen: Wer finanziert sie? Welche Interessen verfolgen sie wirklich? Nach welchen Kriterien entscheiden sie, was „Hassrede" ist?

Experten und Zensur

Die jüngsten Enthüllungen über die staatliche Finanzierung vermeintlich unabhängiger Organisationen bestätigen Chydenius' Einsichten. Wenn das Bundesfamilienministerium Millionen an die Amadeu Antonio Stiftung überweist, wenn „Respect!" als staatlich privilegierte Meldestelle agiert, wenn Faktenchecker von denselben Regierungen alimentiert werden, deren Politik sie „überprüfen" – dann ist das keine Zivilgesellschaft, sondern Staatsapparat.

Chydenius hätte sofort erkannt: „Gesetze sind nichts weiter als Worte und Sätze und haben niemals von sich aus eine Wirkung auf irgendjemanden; sie können daher von einer höheren Macht entweder willkürlich ausgelegt oder nicht angewandt werden." Die Macht zur Definition von „Hassrede", „Desinformation" und „Extremismus" ist die Macht zur Kontrolle des gesellschaftlichen Diskurses. Wer diese Begriffe definiert, bestimmt die Grenzen des Sagbaren.

„Das System ist perfektioniert: Die Zensur kommt nicht mehr als Verbot, sondern als Expertise daher.“

Chydenius warnte vor einem Problem, das heute aktueller ist denn je: der Anmaßung von Expertenherrschaft. In seinem Brief an Nils von Rosenstein von 1793 schrieb er über die Gefahren charakterloser Berater, die „Regenten im Dunkeln halten, sie von ihrem Volk entfremden und sich bereichern." Roger Koppl, ein Ökonom an der Syracuse University, hat diese Gedanken weiterentwickelt: Experten sind „Menschen, die für ihre Meinung bezahlt werden." Ihre Ko-Evolution mit der Macht ist nicht geplant, aber unvermeidlich. „Expertenversagen birgt aufgrund der Zentralisierung und Reichweite gravierende Risiken für Millionen Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft."2 Genau das erleben wir heute: Eine Klasse selbsternannter Experten für „Demokratieschutz" und „Hassrede-Bekämpfung" definiert, was gesagt werden darf. Ihre Legitimation ziehen sie aus ihrer vermeintlichen Expertise – finanziert vom Staat, den sie zu schützen vorgeben.

Chydenius analysierte bereits 1766, wie Zensur in demokratischen Systemen funktioniert: „Sollte der Zensor hingegen aus Unachtsamkeit oder Parteilichkeit, von der Sterbliche nur selten verschont bleiben, das Erscheinen von Schriften zulassen, die bestimmte Personen beleidigen, und den Autoren erlauben, sich der Verantwortung zu entziehen, indem sie sich hinter dem Zensor verstecken, werden sie nicht nur dreister sein." Heute verstecken sich Zensoren nicht mehr hinter staatlicher Autorität, sondern hinter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit und Gemeinnützigkeit. NGOs definieren „Hassrede", Faktenchecker bestimmen „Wahrheit", Diversity-Beauftragte überwachen „angemessene" Meinungsäußerungen. Das System ist perfektioniert: Die Zensur kommt nicht mehr als Verbot, sondern als Expertise daher.

Der Weg aus der Zensurspirale

Chydenius' Lösung bleibt aktuell: „Eine pluralistische Gesellschaft wird mit Eindeutigkeit und Weisungen unterminiert, Marktwirtschaft und Demokratie werden eingeschnürt durch einen Anordnungsstaat und die autoritative Beschränkung auf das Wissen weniger statt der Koordination des Wissens vieler." Die Antwort auf Expertenmacht ist nicht andere Expertise, sondern Transparenz. Nicht bessere Zensoren, sondern offene Debatten. Nicht staatlich kuratierte Wahrheit, sondern freier Wettbewerb der Ideen.

„Die Waffe gegen moderne Cancel Culture ist nicht Gegenzensur, sondern radikale Transparenz.“

Chydenius' Rezept gegen Cancel Culture war einfach: „Ist die Aussage unsinnig, so werden sich bald welche finden, die sie widerlegen. Ist sie auf Wahrheit gegründet, so bleibt sie unüberwindlich, und keine Festung verdient größeres Lob als jene, die den heftigsten Belagerungen standgehalten hat." Schlechte Ideen bekämpft man mit besseren Ideen, nicht mit Verboten. Lügen widerlegt man mit Wahrheit, nicht mit Zensur. Aber dafür braucht es Mut – den Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und sich dem Urteil der Öffentlichkeit zu stellen.

Die wichtigste Lehre von Anders Chydenius: Meinungsfreiheit und Transparenz gehören zusammen. Ohne Wissen über die Machtverhältnisse ist freie Meinungsbildung unmöglich. Wer die Finanzströme kontrolliert, kontrolliert den Diskurs. „Die Freiheit der Nation ist immer proportional zur Freiheit des Druckens, die sie besitzt, so dass die eine nicht ohne die andere existieren kann", erkannte er bereits 1766. Diese Einsicht ist heute wichtiger denn je: Solange staatlich finanzierte NGOs bestimmen, was gesagt werden darf, herrscht keine Meinungsfreiheit, sondern organisierte Meinungslenkung.

Die Waffe gegen moderne Cancel Culture ist nicht Gegenzensur, sondern radikale Transparenz. Folgt dem (Steuer-)Geld, macht die Netzwerke sichtbar, stellt die richtigen Fragen: Wer bezahlt wen? Welche Interessen – auch nicht-finanzielle – stehen dahinter? Nach welchen Kriterien wird entschieden? Ein finnischer Pfarrer hat vorgemacht, wie es geht. 260 Jahre später sollten wir endlich auf ihn hören.

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