09.07.2018

Werbefrei – nein danke!

Von Johannes Richardt

Die Bürgerinitiative „Berlin Werbefrei“ möchte kommerzielle Werbung aus dem öffentlichen Raum verbannen. Ein Irrweg. Die Aktivisten missverstehen, was Öffentlichkeit in einer Demokratie bedeutet.

„Fastfood, Smartphones und Models in Unterwäsche werden fast vollständig aus dem Straßenbild verschwinden“. Das versprechen die Initiatoren von „Berlin Werbefrei“ auf ihrer Website. Seit Anfang des Jahres, nun ja, wie soll man sagen, werben sie in der Stadt für einen Volksentscheid, der vor allem darauf abzielt, kommerzielle Reklame im öffentlichen Raum massiv einzuschränken. Als erstes Etappenziel sollen bis Ende der Woche mehr als 20.000 Unterstützer-Unterschriften bei der Berliner Senatsverwaltung abgegeben werden.

Die Botschaft der Anti-Werbeaktivisten ist klar und eingängig: Die Stadt ist zur Ware verkommen. Wirtschaftliche Interessen von Großkonzernen bestimmen das Bild. Sie überziehen die Stadt mit „nervigen Kaufaufforderungen“ und „häufig geschmacklosen Werbebotschaften“. Gegen die Kommerzialisierung hilft nur noch ein „Ad-Blocker für den öffentlichen Raum“.

Nur: Wo fängt Werbekritik an und wo hört man auf? Was ein konsumkritischer Oberstudienrat in Kreuzberg als unästhetisch oder störend empfindet, mag den Nicht-Postmaterialisten in Spandau kalt lassen oder sogar zum Kauf anregen. Es soll sogar Menschen geben, die Werbeplakate multinationaler Konzerne weniger „geschmacklos“ und „nervig“ finden als etwa inhaltsleere Parteiwahlwerbung oder hypermoralisierende NGO-Spendenaufrufe. Müsste aus diesem subjektiven Geschmacksempfinden heraus nicht auch solche Reklame verboten werden? Wenn schon, denn schon!

„Die Anti-Werbeaktivisten verkennen vollkommen die Aufgabe des öffentlichen Raums.“

Aber so konsequent ist „Berlin Werbefrei“ dann auch wieder nicht. Wie in den eigenen vier Wänden wollen die Anti-Werbe-Aktivisten vor allem das aus dem öffentlichen Raum tilgen, was ihnen selbst nicht gefällt. Aber was in ihrer Privatsphäre ihr selbstverständliches Recht wäre, hat in Bezug auf den öffentlichen Raum etwas Anmaßendes und Übergriffiges. Noch schlimmer. Sie verkennen vollkommen die Aufgabe des öffentlichen Raums.

In der Öffentlichkeit sollten gerade nicht persönliche Befindlichkeiten im Zentrum stehen. Wo das Private einen Rückzugsraum darstellt, ist die Öffentlichkeit – und das gilt insbesondere für Metropolen wie Berlin! - ein Ort des Austauschs und, ja, auch des Konflikts. In pluralen demokratischen Gesellschaften, wo Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen zusammenleben, bedeutet das auch: Es aushalten zu können, mit Dingen konfrontiert zu werden, die einem selbst anstößig, beleidigend oder unmoralisch vorkommen.

Nicht eine „Freiheit von“ (Werbung, Belästigung usw.), sondern eine „Freiheit zu“ ist konstituierend für die demokratische Öffentlichkeit: die Freiheit zu sagen und zu hören, was man möchte. Wir nennen diese Freiheit Meinungsfreiheit. Und sie gilt selbstverständlich auch für kommerzielle Akteure. Auch wenn diese – da haben die „Berlin Werbefrei“-Initiatoren Recht – meistens über ungleich größere finanzielle Mittel verfügen, ihre Botschaften hör- und sehbar zu machen als normale Bürger. Das spricht aber nicht gegen das Prinzip.

Meinungsfreiheit gibt’s entweder ganz oder gar nicht. Und neben ihrem Nutzen für die Marktwirtschaft (Wettbewerb und Kundeninformation) gehört Werbung auch zur Ausdrucksfreiheit eines Unternehmens. Zudem sollte es den einzelnen Bürgern überlassen bleiben, sich selbst ein Urteil über kommerzielle Reklamebotschaften bilden zu dürfen. Die Meinungsfreiheit schützt nämlich nicht nur das Recht des Senders, sich zu äußern, sondern auch das Recht des Empfängers, eine Meinungsäußerung zu hören oder zu sehen.

„Die kleinliche und freudlose Berliner Anti-Werbe-Initiative ist eine weitere Perle in einer Kette der Illiberalität.“

Nicht die von den Initiatoren beklagte „Kommerzialisierung“ ist heute die größte Bedrohung für den öffentlichen Raum. Diese ist alles andere als Neu und gehört, man denke an die Glitzerwelten der „goldenen“ 1920er Jahre, bis heute zum Mythos Berlin. Viel problematischer für unser Gemeinwesen ist, wie der öffentliche Raum zunehmend von Regeln und Verboten überzogen wird. Unterschiedlichste Akteure treiben diese Durchregulierung voran. Wie bei „Berlin Werbefrei“ behaupten sie die Öffentlichkeit schützen zu wollen. Aber letztlich tragen sie alle dazu bei, die Öffentlichkeit als Ort, wo freier und spontaner Austausch möglich ist, scheibchenweise abzuwickeln.

Um nur einige Beispiele zu nennen: Im Namen der Sicherheit dürfen in vielen Innenstädten Straßenmusiker nur noch mit Lizenz auftreten. Immer mehr Kommunen erlassen öffentliche Alkoholverbote. Auch die Videoüberwachung wird zunehmend ausgebaut. Und an den Universitäten setzen sich Studenten für „Safe Spaces“ ein, wo sie vor Meinungen und Ideen oder – wie kürzlich an Alice Salomon Hochschule – Gedichten geschützt werden, die sie in ihrer Identität verstören könnten. Jede dieser Initiativen hat, für sich genommen, die Freiheit des öffentlichen Raums ein Stück weit reduziert. Die kleinliche und freudlose Berliner Anti-Werbe-Initiative wäre eine weitere Perle in dieser Kette der Illiberalität.

Je mehr die Regeln des öffentlichen Raums von denjenigen bestimmt werden, die am lautesten Gefahr, Belästigung oder Empörung schreien, desto unfreier wird er. Es scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten, dass unterschiedliche Interessen und Leidenschaften der Bürger nicht nur legitim sind, sondern aus ihrem Konflikt die produktive Dynamik erwächst, die eine offene Gesellschaften auszeichnet. Es geht heute vor allem darum, die Öffentlichkeit vor ihren selbsternannten Schützern zu schützen. Deshalb: Werbefrei, nein danke!

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