10.07.2017
Wer hat Angst vorm bösen Nitrat?
Analyse von Georg Keckl
Seit 30 Jahren sind die Nitratgehalte im Trinkwasser rückläufig. Dennoch betreibt das Umweltbundesamt weiterhin Panikmache über angeblich gefährlich steigende Werte.
Geht es nach den Skandalmeldungen der letzten Wochen und Monate, dann ist unser Trinkwasser in höchster Gefahr. Eine steigende Belastung mit Nitrat und um bis zu 45 Prozent höhere Kosten, um das Stickstoffsalz zu entfernen, das ist das Schreckensszenario, das eine Gruppierung selbsternannter Umwelt- und Verbraucherschützer an die Wand malt. Zu ihr gehören – federführend – der Bundesverband der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft, der im Januar ein Gutachten zu „Kosten der Nitratbelastung – Deutschland braucht Agrarwende“ publizierte; unterstützt wurde er von einer Reihe von Umweltverbänden und der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Am Pranger steht die Landwirtschaft, die das Grundwasser mit Nitrat-Düngesalzen und mit Gülle verunreinige. Handfeste Unterstützung für die Kampagne liefert ausgerechnet eine Bundesbehörde: das Umweltbundesamt (UBA).
Das ist umso erstaunlicher, als die Daten des UBA zur Wasserqualität seit Jahren eine völlig andere Sprache sprechen. Die Nitratgehalte im Trinkwasser gehen laufend zurück. Überschreitungen des zulässigen Nitrat-Grenzwerts tendieren nach Angaben des UBA gegen Null: „Im Jahr 1999 gab es 1,1 Prozent (%) Überschreitungen des Grenzwerts, im Jahr 2004 0,13 %, im Jahr 2007 noch 0,08 % und ab dem Jahr 2010 keine mehr.“
Der Grenzwert für Nitrat im Trinkwasser liegt seit 1986 bei 50 Milligramm pro Liter. Zuvor hatte er 90 Milligramm betragen 1, auch dies ein in der Praxis gesundheitlich unbedenklicher Wert. Die Absenkung war schwierig und von Ausnahmegenehmigungen begleitet. Einige Wasserwerke hatten in den 80er-Jahren Trinkwasser mit weit mehr als 100 Milligramm Nitrat pro Liter abgegeben 2.
„Seit 30 Jahren sind die Nitratgehalte im Trinkwasser rückläufig.“
Seit 30 Jahren sind die Nitratgehalte im Trinkwasser rückläufig. Unverdrossen wird vom UBA aber eine Kampagne fortgeführt, die seit 1983 vor immer höheren Nitratgehalten im Trinkwasser und explodierenden Trinkwasserpreisen warnt. Im Spiegel hieß es 1986, die Bundesrepublik schlittere nach Analysen von „Experten und Naturschützern“ bald „unweigerlich in einen Wassernotstand“.
Ein Katastrophenszenario steigender Nitratwerte und explodierender Wasserpreise im Stern von 1983 3 stützte sich auf Prognosen von Professor Karl Aurand, damals im Bundesgesundheitsamt (BGA) Leiter des Institutes für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, das 1994 in das Umweltbundesamt eingegliedert wurde. Der Stern zur Nitratbelastung: „‚Der Boden ist voll davon‘, sagt Karl Aurand, ‚selbst wenn Sie das morgen verbieten, wird es noch lange dauern, bis das Zeug im Trinkwasserbrunnen ankommt. Bis zu zwanzig Jahre braucht die Chemikalie für die Reise vom Mutterboden bis in tiefe Grundwasserströme.‘“
Die extrem langen 20 Jahre „Einsickerungszeit“ des Professors Aurand waren 2003 vorüber. Die durchschnittlichen Trinkwasser-Nitratwerte sind seitdem allerdings kontinuierlich besser statt schlechter geworden. Das lag hauptsächlich daran, dass man tiefere Brunnen bohrte und dass die Düngung effektiver wurde. Flache Brunnen hatten zu allen Zeiten schlechtere Werte als tiefe. Die „Erkenntnisse“ des BGA/UBA von 1983, dass das gesamte Grundwasser in spätestens 20 Jahren die Grenzwerte für Nitrat überschreiten würde, entpuppten sich also als Panikmache. Aber keiner der Experten und Naturschützer musste sich je für die Fehlprognosen verantworten. Vielmehr verbreiten diese Institutionen ihre Thesen als „wissenschaftlich gesicherte“ Erkenntnisse einfach weiter. Die einzige Konsequenz des UBA besteht darin, dass es in seiner letzten Pressemeldung zum Thema auf die Möglichkeitsform auswich: „Zu viel Dünger: Trinkwasser könnte teurer werden.“
Der Mythos vom „reinen“ Grundwasser
Nur an Gebirgsrändern entspricht Grundwasser den von den Wasserwerken gern propagierten „reinen Quellen“. Im Flachland enthalten die Böden alle Stoffe und deren Zersetzungsprodukte, die im Laufe der Erdgeschichte die Erosion angespült oder angeweht hat; vieles davon wird ins Grundwasser eingewaschen. Fast überall ist Grundwasser daher eine schwermetallverseuchte, stinkende Rostbrühe, die man nicht einmal dem Vieh zum Saufen geben kann. Erst durch Aufbereitung wird es trinkbar. Mangan und Eisen („Ocker“) werden entfernt, durch Belüftung wird der Gestank vertrieben.
Und die Trinkwasserzubereitung aus Grundwasser birgt Gefahren: Sinkt der Grundwasserspiegel durch die Wasserentnahme, können Gebäude und Umwelt Schaden nehmen: Bauwerke bekommen Risse, Bäche können austrocknen, Quellen versiegen, der Baumbestand leidet, Fische sterben.
„Grundwasser ist fast überall eine schwermetallverseuchte, stinkende Rostbrühe. Erst durch Aufbereitung wird es trinkbar.“
Ökologisch vorteilhafter ist eine Wassergewinnung, die den Grundwasserspiegel nicht beeinträchtigt. Das kann das Uferfiltrat von Flüssen sein oder Oberflächenwasser, das über Brunnen zum Versickern gebracht wird. Wer Grundwasser entnimmt, sollte im Flachland entsprechend dem Kreislaufgedanken auch für Nachsickerung von oben sorgen, etwa durch Teichlandschaften.
Das Wasserwerk Grasdorf in Hannover arbeitet nach diesem Prinzip seit 100 Jahren mit dem Wasser der Leine und liefert hervorragendes Leitungswasser. Ohne solche Fluss-Wasserwerke könnten auch die meisten Ballungsräume entlang der Flüsse nicht mit Wasser versorgt werden. Ihre Bedeutung in Europa nimmt zu. Es wird Zeit, dass manche Grundwasserwerke und Wasserverbände sich an die von ihnen verkündeten Prinzipien halten und ihre Wassergewinnung nachhaltig gestalten.
Selektiv auswählen – verfälscht darstellen
In Februar 2014 musste das UBA erneut über eine verbesserte Qualität des Trinkwassers berichten. Das Amt nutzte die Gelegenheit, um erneut vor steigenden Nitratwerten im Grundwasser und höheren Trinkwasserkosten zu warnen. Schon die Überschrift macht den Berichtszweck zur Nebensache: „Zu viel Nitrat im Grundwasser. Im Trinkwasser kein Problem!“ Eine krause Logik! Gäbe es „im Grundwasser zu viel Nitrat“, wäre das selbstverständlich ein Problem für das Trinkwasser, nachdem 67 Prozent davon aus Grundwasser gewonnen werden.
Anstatt die tatsächliche Qualität des Grundwassers darzustellen, rückt das UBA in seiner kurzen Pressemitteilung gleich eine ganze Reihe von falschen und erfunden Behauptungen über das Grundwasser in den Vordergrund:
UBA-Darstellung: „Trinkwasser wird in Deutschland größtenteils aus Grundwasser hergestellt. Dieses Grundwasser ist häufig zu stark mit Nitrat belastet.“
Wahr ist: Das Grundwasser, das die Wasserwerke fördern, ist so gut wie nie „stark“ mit Nitrat belastet, also über dem Grenzwert. Vielmehr werden bekannte Messergebnisse durch angstmachende, übertreibende Adverbien wie „viel“, „häufig“ oder „gefährlich“ ersetzt.
UBA-Darstellung: „Was die Pflanzen an Nitrat nicht verbrauchen können, endet als Nitrat im Grundwasser.“
Wahr ist: Was die Pflanzen an Nitrat nicht verbrauchen, endet nur zum kleinen Teil im Grundwasser. Es gibt daneben Verluste von Nitrat an die Luft, die Zersetzung durch Bakterien, die Einlagerung in den Humus. Vermeidbar ist ein Austrag in das Grundwasser nur in den künstlichen Böden der Gewächshäuser.
UBA-Darstellung: „Rund 50 Prozent aller Grundwasser-Messstellen in Deutschland zeigen derzeit erhöhte Nitrat-Konzentrationen von über zehn Milligramm pro Liter; 15 Prozent des Grundwassers hält sogar den für Trinkwasser geltenden Grenzwert von 50 Milligramm pro Liter nicht ein.“
Wahr ist: Die erwähnten 15 Prozent beziehen sich auf das Messnetz im oberen Grundwasserleiter, aus dem kein Wasser gefördert wird. Niemand besitzt Daten zum Nitratgehalt im gesamten Grundwasser. Ein Nitratgehalt von zehn Milligramm Nitrat pro Liter gilt für das UBA als „anthropogen unverändert“, alles, was darüber liegt, als „erhöht“. Damit wird ein Idealzustand als „sauber und gesund“ dargestellt und alle Abweichungen davon als gefährlich und ungesund. Gegenüber dem Urzustand erhöhte Nitratwerte im oberen Grundwasser sind aber und waren immer ein Zeichen für eine Besiedlung durch den Menschen.
UBA-Darstellung: „Über 27 Prozent der Grundwasserkörper überschreiten derzeit den Grenzwert von 50 mg/l.“
Wahr ist: Über 27 Prozent der deutschen Grundwasserkörper sind hinsichtlich Nitrat als „schlecht“ bewertet. Falsch ist, daraus abzuleiten, dort würde das gesamte Grundwasser über 50 Milligramm Nitrat pro Liter haben. Im Extrem genügt eine einzige Messstelle mit mehr als 50 Milligramm, um den gesamten Wasserkörper als schlecht einzustufen. Das UBA weiß das.
UBA-Darstellung: „Gerade in Gebieten mit landwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen ist das Grundwasser häufig durch zu viel Stickstoff belastet. Grund sind die auf den Feldern aufgebrachte Gülle und Mist aus der intensiven Tierhaltung oder Mineraldünger für Obst- und Gemüseanbau.“
Wahr ist: Gründe für höhere Nitratwerte sind in erster Linie die mangelnde Wasser- und damit Nitrathaltefähigkeit leichter oder flacher Böden sowie der Anbau von Pflanzen, die Nitrat nicht „just in time“ verwerten können. Auch das wissen die UBA-Experten. Und der Hauptgrund höherer Nitratauswaschungen seit 2004 liegt im explosionsartigen Zubau von Biogasanlagen mit Maisanbau, gefördert nicht zuletzt durch UBA und Freunde.
Die UBA-Nitrat-Kampagne: Eine Schmutzkampagne?
Ein Gutachten des Wasserlobbyverbands BDEW brachte dem UBA eine willkommene Auffrischung seiner Nitrat- und Trinkwasser-Kampagne. „Trinkwasser könnte teurer werden – Preissteigerung bis zu 45 Prozent erwartet“, titelte das UBA. Der Konjunktiv ist geschickt gewählt. Ob, wann und wo Trinkwasser teurer wird, dazu gibt es keine konkreten Angaben. Dafür Angst-Phrasen ohne Gewähr und Worst-Case-Hochrechnungen.
Basis des BDEW-Gutachtens war eine Abfrage bei den Wasserwerken zur Nitratbelastung ihres Rohwassers. Erstaunlicherweise haben von 1400 angeschriebenen BDEW-Mitgliedern lediglich 188 geantwortet. Die Bundesstatistik erfasst insgesamt 4321 öffentliche Wasserversorger; nicht alle sind im BDEW organisiert. Der WDR meldete sogar: „188 von 6.000 Wasserversorgern befragt“. Wenn aber nur Daten von drei oder fünf Prozent der aktiven Unternehmen vorliegen, dann heißt das: Die Ergebnisse der BDEW-Umfrage sind nicht repräsentativ, sind Schrott. Sie liefern keine Handlungsgrundlage.
„Ob Trinkwasser teurer wird, dazu gibt es keine konkreten Angaben. Dafür Angst-Phrasen ohne Gewähr und Worst-Case-Hochrechnungen.“
Schmutzkampagnen sind Kampagnen, die mit unlauteren, unfairen Mitteln geführt werden, egal welchen Zweck sie verfolgen. Wikimedia definiert Schmutzkampagnen so: Fakten werden selektiv ausgewählt oder verfälscht dargestellt; Vorwürfe basieren häufig auf unbewiesenen oder unbeweisbaren Gerüchten oder Vermutungen („saurer Regen verursacht Waldsterben“, „genveränderte Pflanzen könnten langfristig krank machen“); falsche Urteile werden impliziert; die Unverhältnismäßigkeit der Argumentation nimmt oft die Diffamierung der Opfer in Kauf, dient einer Emotionalisierung der uninformierten Öffentlichkeit, statt der Aufklärung über die echten, oft komplizierten Zusammenhänge.
Das Fälschen von Statistiken und „Umfragen“ beziehungsweise deren absichtliche Fehlinterpretation sind häufig gebrauchte Mittel, um der Desinformation den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu verleihen. Zum Beitrag des UBA zu dieser Kampagne ist festzuhalten: Die Planung oder Mitwirkung an solchen Kampagnen widerspricht sowohl den Prinzipien des Berufsbeamtentums („Sie haben ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen.“) als auch der Wissenschaftstheorie.