25.10.2016

Wendepunkt Arabellion

Interview mit Ibrahim Nehme

Titelbild

Foto: Jonathan Rashad via Wikipedia (CC BY 2.0)

Das libanesische Magazin The Outpost trägt die Impulse des arabischen Frühlings weiter. Der Herausgeber erzählt von den Herausforderungen der arabischen Welt

Ibrahim Nehme: Die Idee entstand 2011 zur Zeit des Arabischen Frühlings. The Outpost sollte diese positive Stimmung des Wandels fortsetzen. Der Zustand der Printmedien im Land war zu dieser Zeit wirklich deprimierend und ich hatte das Gefühl, etwas dagegen tun zu müssen. Der Arabische Frühling hat eine großartige, inspirierende Energie in der gesamten Region freigesetzt, so etwas habe ich noch nie zuvor erlebt. Tausende junge Menschen wollten mehr Einfluss auf ihre eigene Zukunft nehmen. Sie glaubten an den Wandel, obwohl sie gleichzeitig immer noch von viel Trostlosigkeit umgeben waren.

Habt ihr mediale Vorbilder in der arabischen oder der westlichen Welt?

Vorbilder ist zu viel gesagt. Mich inspirieren verschiedene Magazine. Zum Beispiel Harold Hayes und sein Esquire Magazin aus den 60er-Jahren sowie die Bewegung des erzählenden Journalismus, die darauf folgte. In der arabischen Welt holen wir uns Inspiration durch viele kleinere Zeitschriften, einige davon sind auch in den 60er-Jahren entstanden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie an die Vorstellungskraft gerade junger Menschen appellieren und an den bestehenden Dingen rütteln. Das Magazin Souffles gehört dazu, es wurde in Marokko herausgegeben.

Wie werdet ihr von den Medien und dem Publikum wahrgenommen?

Von anderen libanesischen Medienmachern werden wir respektiert, obwohl The Outpost so etwas wie eine publizistische Anomalie auf dem Zeitschriftenmarkt darstellt. Die meisten Magazine hier sind hoch kommerziell und in einer ganz anderen Welt unterwegs. Die Reaktionen der Leser waren bisher großartig. Offenbar inspiriert unser Magazin die Menschen auf unterschiedliche Weise, das ist erstaunlich. Besonders stolz sind viele libanesische Leser auch darauf, dass das Magazin international erfolgreich ist und wahrgenommen wird.

„Im Libanon besteht ein gewisses Maß an Pressefreiheit“

Welche Lesergruppen interessieren sich für euer Magazin?

Das Interesse an unabhängigen Medien, vor allem an unabhängigen Printmedien, nimmt stark zu. Das ist aber ein globales Phänomen und nicht auf den Libanon beschränkt. Für unser Magazin interessieren sich vor allem junge Araber, Magazin-Kenner aus der ganzen Welt und auch im Westen werden wir aufmerksam gelesen. Die westlichen Leser interessieren sich für eine andere Erzählung über die arabische Welt als jene, die sie in ihren heimischen Medien zu lesen bekommen. Die meisten Erzählungen über die arabische Welt handeln von der Unmöglichkeit, dass die Dinge besser werden. Wir fokussieren uns aber genau auf die Chancen und Möglichkeiten des Wandels.

Wie ist es um die Pressefreiheit im Libanon bestellt?

Ich persönlich habe noch keine Einschränkungen erlebt. Im Libanon existiert durchaus ein gewisses Maß an Pressefreiheit. Auf der Rangliste der Pressefreiheit kommt das Land auf Rang 98. Das ist nicht sehr weit vorne, aber immer noch knapp vor zum Beispiel Israel. Hier in der Region ist der Libanon ein Land, in dem die Pressefreiheit einen hohen Stellenwert genießt. Es ist allerdings immer noch so, dass man für bestimmte Behauptungen durchaus im Gefängnis landen kann, wenn die Behörden der Meinung sind, dass dadurch die nationale Ordnung gestört wird. Wir haben aber auch schon über kontroverse Themen geschrieben, etwa über Atheismus oder Homosexualität. Wir testen unsere Grenzen immer wieder neu aus. Vermutlich gibt uns die Tatsache, dass wir in Englisch publizieren und ein internationales Publikum erreichen, mehr Freiheiten zu schreiben, was wir wollen. Und wir sind auch kreativ darin, wie wir bestimmte Dinge ausdrücken, sodass wir wohl auch deshalb noch keine Schwierigkeiten bekommen haben.

Wie hat sich das gesellschaftliche Klima seit der „Arabellion“ verändert?

Es ist leider nicht zu leugnen, dass aus dem hoffnungsvollen Frühling ein langer Winter wurde. Aber dennoch sehe ich die Arabellion als Wendepunkt, denn es gibt keinen Weg zurück in die Zeit davor. Die Gesellschaften hier wurden in ihren Grundfesten erschüttert und das kann man immer noch spüren. Junge Menschen sprechen viel offener ihre Ängste und Träume aus, trotz aller Niederlagen, die Meinungsfreiheit und liberales Denken hier immer noch erleiden müssen.

„Aus dem hoffnungsvollen Arabischen Frühling wurde ein langer Winter“

Gibt es einen Generationenkonflikt zwischen religiösen und säkularen Kräften?

Es ist mehr ein politisches Spiel als ein Generationenkonflikt. Es beruht darauf, dass Politiker Überzeugungen erschaffen haben, die Menschen in religiöse Fanatiker verwandeln, indem sie ihre Religion als Identität begreifen. Daraus entsteht dann eine Feindschaft allen gegenüber, die sich von dieser Religion unterscheiden. Diese Politik hat einzig das Ziel, Chaos in der Region zu erzeugen.

Welche Rolle spielen die Medien bei diesem Spiel?

Das hängt davon ab, welche Medien man betrachtet. Die Medien, die dem Staat oder der mächtigen Klasse gehören, haben ein Interesse daran, die Kluft zwischen den Religiösen und den Säkularen zu vertiefen. Andere Medien, dazu zählen auch wir uns, setzen auf säkulare Erzählungen und wollen berichten, was wirklich los ist.

Welche Botschaften willst du an das arabische Publikum richten?

Botschaften der Hoffnung, ein positives Selbstverständnis und den Glauben, dass Veränderungen möglich sind. Veränderungen beginnen von Innen, bei jedem selbst, und breiten sich dann von dort aus.

Derzeit fliehen viele Menschen aus der arabischen Welt in den Westen. Sehen sie keine Chance mehr, ihre Heimat zu verbessern?

Wie können sie eine Chance darauf sehen, wenn regional oder international geplante Angriffe ihre Städte dem Erdboden gleichmachen? Das tötet Millionen, traumatisiert die Überlebenden und lähmt ihre Zukunftshoffnung. Es ist einfach unrealistisch, dass die Menschen in der jetzigen Situation in ihren Heimatländern bleiben und die Situation verbessern können, denn sie fühlen sich völlig machtlos dem gegenüber, was dort passiert.

„Es ist eine Schande, dass Saudi-Arabien bisher keine Flüchtlinge aufnimmt“

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil der Weltpolitik durch einige wenige mächtige Länder kontrolliert wird und dass sich ihre Politik, ob absichtlich oder nicht, zerstörerisch auf viele Gesellschaften auswirkt. Die Verbreitung des IS ist eine Folge davon, auch erleichtert durch Saudi-Arabien, einem großen amerikanischen Verbündeten.

Welche Möglichkeiten haben die Flüchtlinge denn in der arabischen Welt?

Jordanien und Libanon ersticken derzeit unter dem Gewicht der Flüchtlinge. Der Libanon, ein Land mit 4,5 Millionen Einwohnern, hat nun mehr als 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Ich weiß nicht, warum Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und die übrigen Golfstaaten bisher keine Flüchtlinge aufnehmen. Es ist eine Schande, dass sie es nicht tun.

Erschwert es den Wandel in der arabischen Welt, wenn gerade die Unzufriedenen fortgehen?

Ja, aber das Problem ist nicht neu. Die Abwanderung von Fachkräften geschieht seit Jahrzehnten aufgrund der Missstände in den arabischen Gesellschaften. Das wirkt sich natürlich auf ihre Fähigkeiten zur positiven Veränderung aus. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass viele hoffnungsvolle Menschen in der Region bleiben werden und für den gesellschaftlichen Wandel kämpfen.

Ibrahim, vielen Dank für das Gespräch!

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