27.07.2023

Was steckt hinter den israelischen Protesten?

Von Daniel Ben-Ami

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Foto: ACBAhn via WikiCommons (CC BY 3.0 / bearbeitet)

Die Justizreform in Israel soll das Parlament gegenüber ungewählten Richtern stärken. Dagegen demonstriert eine elitäre Bewegung, die antidemokratische Züge aufweist.

Am Montagabend hat das israelische Parlament, die Knesset, inmitten großer Proteste den ersten Teil des Justizreformpakets der Regierung verabschiedet.

Das Gesetz zur „Angemessenheit", das mit 64 zu 0 Stimmen verabschiedet wurde, soll die weitreichenden Befugnisse des Obersten Gerichtshofs Israels einschränken. Wie Jeremy Sharon in der Times of Israel dargelegt hat, kann der Oberste Gerichtshof Israels mit Hilfe des Instruments der „Angemessenheit" die Entscheidungen gewählter Minister oder Funktionsträger als „unangemessen" verwerfen. Er kann dies selbst dann tun, wenn diese Maßnahmen „nicht gegen ein bestimmtes Gesetz verstoßen oder im Widerspruch zu anderen Verwaltungsentscheidungen stehen". Falls das Gesetz – der Oberste Gerichtshof könnte das Angemessenheitsgesetz allerdings noch für „unangemessen" erklären – in Kraft tritt, wäre dies nicht mehr möglich.

Auf jeden Fall stärkt das Angemessenheitsgesetz die israelische Demokratie. Es ermächtigt gewählte Parlamentarier zu Lasten einer nicht gewählten Justiz. Aber so stellen es diejenigen, die gegen die Justizreformen in Israel protestieren, nicht dar. Für diese Demonstranten und ihre Anführer in der israelischen Wirtschafts- und Militärelite sind die Justizreformen, die das Parlament stärken sollen, ein „Staatsstreich".

Gleichzeitig vertreten die Demonstranten die antidemokratische Auffassung, dass ein mächtiger Oberster Gerichtshof die Macht des gewählten Parlaments beschneiden sollte. Sie protestieren im Namen der Demokratie, aber ihr Hauptanliegen ist es, das Handeln der gewählten Vertreter einzuschränken.

„Die Reformen stärken das Parlament. Das kommt der Demokratie im Allgemeinen zugute, nicht einer bestimmten Partei im Besonderen.“

Das Angemessenheitsgesetz ist nur einer von mehreren Bestandteilen des Gesetzespakets der Regierung zur Justizreform. Zu den anderen gehören die Außerkraftsetzungsklausel (die es der Knesset ermöglichen würde, den Obersten Gerichtshof mit einfacher Mehrheit zu überstimmen), die Änderung der Richterernennung, und die Möglichkeit für Minister, ihre juristischen Berater selbst zu ernennen. Insgesamt sind die Reformen demokratisch ausgerichtet, indem die Macht der gewählten Politiker gestärkt und die der nicht gewählten Richter eingeschränkt wird.

Das Ganze gestaltet sich komplizierter, wenn man die Besonderheiten der israelischen Politik berücksichtigt. Die Koalitionsregierung, die diese Reformen vorantreibt, ist im Großen und Ganzen nationalistisch, religiös sowie gesellschaftlich konservativ und unterstützt die Siedlungen im Westjordanland. Sie umfasst sogar eine kleine, aber bedeutende Minderheit von Politikern, die man mit Recht als rechtsextrem bezeichnen könnte. Das bemerkenswerteste Beispiel ist Itamar Ben-Gvir, der Minister für Innere Sicherheit, der in der Vergangenheit wegen Unterstützung der jüdischen Terrorgruppe Kach verurteilt wurde.

Aus der politischen Einstellung der Regierung ergibt sich jedoch nicht, dass die Reformen selbst undemokratisch sind. Im Gegenteil: Die Reformen stärken das Parlament. Das kommt der Demokratie im Allgemeinen zugute, nicht einer bestimmten Partei im Besonderen.

Die Protestbewegung ist im Großen und Ganzen als links einzuordnen. Ihre Anhänger sind in der Regel eher säkular und gesellschaftlich liberal eingestellt. Sie sind in vielen Fällen auch elitär und betrachten die Masse der Bevölkerung mit Verachtung. Aus diesem Grund sind die Demonstranten bestrebt, einen Obersten Gerichtshof zu unterstützen, der die Souveränität des Volkes aushöhlt.

„Den militärischen, wirtschaftlichen, akademischen und medialen Eliten gegenüber steht die schnell wachsende konservative Mehrheit in Israel.“

Außerdem besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Protestbewegung von wichtigen Teilen der israelischen Elite unterstützt wird. Alle führenden Bereiche des Militärs und der Geheimdienste, die eine Schlüsselrolle in der israelischen Gesellschaft spielen, sind stark vertreten. Öffentliche Unterstützung erhielt sie von drei ehemaligen Stabschefs des israelischen Militärs, fünf ehemaligen Leitern des Mossad (des Auslandsgeheimdienstes) und drei ehemaligen Leitern des Shin Bet (des Inlandsgeheimdienstes).

Zudem haben Tausende von Reservisten aus militärischen Eliteeinheiten erklärt, dass sie ihren Dienst verweigern werden, sobald die Reformen verabschiedet sind. Für ein Land wie Israel, das an mehreren Fronten mit Sicherheitsbedrohungen konfrontiert ist, unter anderem durch die Hamas, die Hisbollah und den Iran, stellt dies ein großes Problem dar. Die israelische Geschäftswelt, einschließlich des wichtigen High-Tech-Sektors, befürwortet die Proteste ebenfalls mit überwältigender Mehrheit, ebenso wie die akademische Welt und die Medien.

Den militärischen, wirtschaftlichen, akademischen und medialen Eliten gegenüber steht die schnell wachsende konservative Mehrheit in Israel. Diese tendenziell nationalistisch und religiös geprägte Bevölkerung wächst viel schneller als die säkulare Linke in Israel. Letztere hat daher das Gefühl, dass sie das politische System nicht mehr so dominieren kann, wie sie es seit der Gründung Israels getan hat. Daher konzentriert sie sich darauf, den Obersten Gerichtshof zu nutzen, um die Macht der gewählten Politiker zu beschneiden.

Natürlich sollten sich säkulare Israelis nicht auf den Obersten Gerichtshof verlassen müssen, um ihre Weltanschauung durchzusetzen. Sie könnten versuchen, ihre Landsleute davon zu überzeugen, liberalere Anschauungen anzunehmen. In der Tat wäre es ein Schritt nach vorn, die verschiedenen Teile der israelischen Gesellschaft davon zu überzeugen, eine liberalere Haltung einzunehmen, zum Beispiel in der Palästinenserfrage. Aber stattdessen fällt es der Linken leichter, ein richterliches Veto gegen gewählte Politiker zu fordern.

„Diese Proteste sind Ausdruck einer elitären Bewegung, die mit Unterstützung der USA darauf abzielt, den Willen der Massen zu unterdrücken.“

Yuval Noah Harari, ein internationaler Bestsellerautor, verkörpert die schlimmste Form dieser elitären Reaktion. Anfang dieses Monats kam er in Haaretz, dem israelischen Pendant zum Guardian oder zur New York Times, mit dem außergewöhnlichen Argument, dass Israel zunehmend antisemitisch wird. Er vollbrachte dieses bemerkenswerte Kunststück, indem er die Demonstranten in die historische Rolle der Juden in der Diaspora rückte, die „als ausländische Agenten, Kosmopoliten, nicht mit dem Land verbunden und als Verräter, die verschiedenen Arten von linken und Weltverschwörungen dienten", verunglimpft wurden. Er kommt zu dem Schluss, dass „genau die gleichen Anschuldigungen heute von der israelischen Regierung gegen liberale Bürger des Landes erhoben werden".

Es überrascht nicht, dass die traditionelleren Mitglieder der israelischen Bevölkerung wenig begeistert darauf reagieren, als Rassisten hingestellt zu werden. Wenn überhaupt, dann wird solch verächtliches Gerede ihren Illiberalismus noch verstärken, aus Gegnerschaft zu liberalen Scharfmachern wie Harari.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Regierung Biden nun offen auf die Seite der Demonstranten stellt und sich damit in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einmischt. Das Weiße Haus hat diesen Monat sogar Thomas Friedman, einen altgedienten Kolumnisten der New York Times, ins Oval Office geholt, um Bidens Botschaft der israelischen Öffentlichkeit zu überbringen. Friedman zufolge fordert Biden die israelische Führung auf, „einen Konsens in kontroversen Politikbereichen" zu finden und „nichts zu überstürzen". Damit fordert Biden die israelische Regierung auf, die demokratischen Reformen im eigenen Land nicht weiter voranzutreiben.

In aller Deutlichkeit: Diese Proteste sind Ausdruck einer elitären Bewegung, die mit Unterstützung der USA darauf abzielt, den Willen der Massen zu unterdrücken. Israels „prodemokratische" Proteste sind alles andere als demokratisch.

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