11.06.2024

„Was hält die Gesellschaft zusammen?“

Interview mit Ulrich Schmidt-Denter

Titelbild

Foto: richardhe51067 via Flickr / CC BY 2.0

In Deutschland fehlt es an positiver Identifikation mit dem eigenen Land, bemängelt ein Psychologieprofessor. Er kritisiert neben Wokeness auch Irrwege der Holocaust-Erziehung.

Christian Zeller: Sie beschäftigen sich intensiv mit Fragen der Identität. Ich möchte mit Ihnen gerne einen Bogen von der Woke Culture und den Bestrebungen neurechter Gruppierungen zur Frage der nationalen Identität in Deutschland schlagen. Mich interessiert die Frage: Wie wirkt sich denn die Woke Culture unter den besonderen Bedingungen aus, unter denen sich die Identität von Deutschen herausbildet, und welchen Einfluss hat das wiederum auf die neurechte Bewegung? Werfen wir erst einmal einen Blick auf die Woke Culture, also auf linke Identitätspolitik. Wie ordnen Sie diese aus psychologischer Sicht ein?

Ulrich Schmidt-Denter: Forschungen zur sozialen Identität haben nachgewiesen, dass Menschen dazu neigen, die Gruppen, denen sie selbst angehören, aufzuwerten, und andere Gruppen abzuwerten. Dieser Mechanismus der Dichotomisierung von Eigen- und Fremdgruppe ist tief in der sozialen Wahrnehmung des Menschen verankert und evolutionär bedingt. Die Identitätspolitik bedient sich dieser archaischen Prädisposition, organisiert sie und zelebriert sie. Identitätspolitik im allgemeinen Sinne ist ein historisch bekanntes Phänomen und kann sich auf die Stammeszugehörigkeit, die Religion oder die Nation beziehen. In aktuellen Debatten versteht man darunter aber einen speziellen Begriff, der von den US-amerikanischen sozialen Bewegungen geschaffen wurde.

Zunächst thematisierten Minderheiten wie Afro-Amerikaner, Feministinnen, schwule und lesbische Gruppen ihre erlebte Diskriminierung und wollten als Gegengewicht zu den Zuschreibungen durch die Mehrheitsgesellschaft eine positive Gruppenidentität aufbauen. Es folgten zahllose andere Gruppen, die eine Anerkennung  ihrer Partikularinteressen forderten. Die Bewegung erreichte die amerikanischen Universitäten, an denen die „affirmative action“-Richtlinien zu einer erhöhten Repräsentanz von Minderheiten beigetragen hatten. Diese forderten eine Reform des akademischen Kanons zu ihren Gunsten und einen Schutz vor sprachlichen Verletzungen und Diskriminierungen. Was als legitime Aufforderung zu sprachlicher Sensibilität begann, entwickelte sich aber schnell zu Zensurmaßnahmen, die den Spielraum für akademische und allgemein gesellschaftliche Diskurse stark einengten  (sog. „cancel culture“).

In der psychologischen Forschung werden schon seit Jahrzehnten Kriterien dafür diskutiert, ab wann sich die Ingroup-Outgroup-Differenzierung, die prinzipiell ein notwendiger Baustein der sozialen Identität ist, zu Vorurteilen und Hass steigert.  Else Frenkel-Brunswik führte schon 1949 hierzu das Konzept der Ambiguitätsintoleranz ein. Sie definierte dieses als die Unfähigkeit, Komplexität, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten zu ertragen. Stattdessen wird ein klares Freund-Feind- bzw. Gut-Böse-Schema konstruiert. Dieses Konzept wurde zunächst in Bezug auf rechtsradikale Gruppen untersucht und empirisch bestätigt. Heute ist es aber auch für viele Erscheinungsformen der linken Identitätspolitik kennzeichnend. So sind Ansätze der „Critical Race Theory“ oder der „Critical Whiteness“ mit verändertem Vorzeichen nahezu identisch mit den völkischen Konzepten der extremen Rechten. Man kann somit aus psychologischer Sicht sagen, dass ein strukturelles Prinzip entscheidend ist, das bei unterschiedlichen Inhalten in Erscheinung treten kann.

Als Rechtfertigung für die identitätspolitische Rigidität und Militanz wird von der Bewegung der „Opferstatus“ herangezogen, der mit der Zuschreibung eines „Täterstatus“ korrespondiert. Dieses Modell ist in westlichen Gesellschaften so wirkmächtig, dass als offenkundiger Widerspruch auch in liberalen Demokratien ein hohes Maß an Dogmatismus und Autoritarismus akzeptiert und erfolgreich eingesetzt werden kann. Dies zeigt sich auf politischer Ebene und in der Unterstützung durch die Medien. Paradoxerweise sind hiervon aber auch die Universitäten stark betroffen, die eigentlich als Hort des kontroversen Gedankenaustauschs und der freien Rede zu gelten hätten.

„Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus benötigten linke Bewegungen und Parteien einen Ersatz für den ‚Klassenkampf‘ und suchten eine neue Klientel.“

Welche sozialen und sozialpsychologischen Rahmenbedingungen fördern linke Identitätspolitik?

Eine wichtige Grundlage bildet die Emanzipation von Minderheiten in den westlichen Demokratien. Die Bezeichnung „Toqueville-Paradox“ für dieses widersprüchlich anmutende Phänomen lässt sich auf die Beobachtung von Alexis de Toqueville zurückführen, dass die zunehmende Gleichheit in einer Gesellschaft die Sensibilität für Ungleichheit schärft. Minderheiten treten dort am militantesten auf, wo der Emanzipationsprozess schon am weitesten fortgeschritten ist. Das hohe Maß an Freiheitsrechten garantiert, dass die Ansprüche auf Teilhabe auch gefahrlos formuliert und durchgesetzt werden können. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani fordert daher die Minderheiten auf, ihre Politik der Destabilisierung der westlichen Gesellschaften zu beenden, weil nur diese ihre Rechte garantieren könnten.

Der Aufstieg aus kleinen Intellektuellen-Zirkeln auf die große gesellschaftliche Bühne wäre der Identitätspolitik wohl nicht gelungen, wenn sie nicht zum zentralen Thema der politischen Linken geworden wäre. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus benötigten linke Bewegungen und Parteien einen Ersatz für den „Klassenkampf“ und suchten eine neue Klientel. Politischen Analysten wie Francis Fukuyama zufolge zahlten sie für diesen Kurswechsel einen hohen Preis, indem sie sich von der bodenständigen arbeitenden Bevölkerung entfremdeten.

Eine wichtige Voraussetzung aus psychologischer Sicht besteht in aktuellen Sozialisationsfaktoren. Sensibilisierung und Empathie stehen hoch im Kurs und bilden zentrale pädagogische Ziele. Dies bildet eine psychologische Basis für „Wokeness“ und Bereitschaft zu Schuldgefühlen. Vor kontroversen Debatten besteht eine gewisse Scheu, man möchte weder andere verletzen noch selber verletzt werden. Gefühle werden als Wahrheitskriterium akzeptiert.

Welche gesellschaftlichen und politischen Folgen hat die Woke Culture aus Ihrer Sicht?

Der deutlichste gesellschaftliche Reflex auf die Identitätspolitik besteht in einer Polarisierung von Meinungen und Positionen. Zu Recht wird oft beklagt, dass eine freie Debatte, wie sie für eine Demokratie selbstverständlich sein sollte, darunter leidet bzw. unmöglich gemacht wird.  

Mehrere Studien weisen darauf hin, dass diese Entwicklung deswegen besonders bedrohlich ist, weil sie auch die soziale Mittelschicht erfasst hat, die traditionell als Anker der gesellschaftlichen Stabilität angesehen wird. Die „cancel culture“, die sich die öffentliche Meinung, die Medien, die Kulturszene und die Wissenschaft auferlegt haben, hat zu einem in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Vertrauensverlust beigetragen.  

Mit Blick auf das als „rechts“ bezeichnete politische Spektrum muss von einer Wechselwirkung ausgegangen werden. Zum einen erscheint es logisch, dass eine Bewegung, die sich links verortet und die sich linke Parteien zu eigen gemacht haben, bei konservativen Menschen besonders auf Widerstand trifft und Abwehrreflexe hervorruft. Zum anderen trägt die Identitätspolitik aber auch dazu bei, überhaupt erst zu definieren, was rechts ist, wobei der Unterschied zum Rechtsextremismus oft verwischt wird.

Die Klassifikation als „rechts“ erfolgt in identitätspolitischen Debatten, aber auch in wissenschaftlichen Studien, durch bestimmte Indikatoren, durch Begriffe, die als nicht mehr sagbar gelten. Da solche Begriffe ständig neu generiert werden, hat sich der Bereich dessen, was als „rechte“ Positionen zu verstehen ist, erheblich erweitert. Was vor wenigen Jahren noch völlig selbstverständlich war und gar nicht als politische Aussage galt, wird heute als Indikator für „rechts/rechtsextrem“ gewertet. Es hat sich also der Maßstab, das Klassifikationskriterium verschoben, nicht unbedingt das Meinungsspektrum.

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang noch einmal frühere Reden im Deutschen Bundestag, z. B. der beiden Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt, beide Leuchttürme der Sozialdemokratie, zu lesen, um den Unterschied auf sich wirken zu lassen. Begriffe wie „deutsches Volk“, „Vaterland“ und andere Reizwörter im gegenwärtigen Verständnis gingen ihnen noch ganz selbstverständlich über die Lippen. Heute würden sie dafür wohl in die „rechte Ecke“ gestellt. Politiker sprechen nicht mehr gern von „Deutschland“, sondern bevorzugen Formulierungen wie „das Land“ und maximal „unser Land“. Der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck „wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen“. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth erließ kürzlich eine Umbenennung des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, indem sie die „Deutschen“ aus dem Namen entfernte. Schon seit längerem nennt sich die „Deutsche Bahn“ lieber „Die Bahn“ und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft „Die Mannschaft“. Der Begriff „deutsch“ wird auf breiter Front getilgt und in gewisser Weise geächtet.  Es ist also ein neues Kriterium für „rechts“ entstanden. Ähnliches gilt z.B. für Aussagen über biologische Grundlagen der Geschlechtszugehörigkeit oder Probleme der Zuwanderung.

„Der Ansatz der Holocaust Education geht ideengeschichtlich gesehen auf die Intellektuellen der sog. Frankfurter Schule zurück, die allerdings durchaus unterschiedlicher Meinung waren.“

Kommen wir nun zur Frage der nationalen Identität in Deutschland, bevor wir uns wieder der Woke Culture zuwenden. Tief verwoben mit der nationalen Identität Deutschlands ist die auf den Holocaust bezogene Erinnerungspolitik. Spätestens seit dem Historikerstreit um Positionen von Jürgen Habermas und Ernst Nolte hat sich eine bestimmte Form des Gedenkens an den Holocaust als eine nahezu unhinterfragbare Voraussetzung nationaler Identitätsbildung entwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland unterliegt aufgrund ihres Umgangs mit den nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen also besonderen Bedingungen der Identitätsbildung. Was sind die wesentlichen Ergebnisse aus Ihrer Forschung dazu?

In einem von mir geleiteten Forschungsprojekt haben wir einen interkulturellen Vergleich der personalen und sozialen Identität von Jugendlichen und ihren Eltern in Deutschland und allen angrenzenden Ländern durchgeführt. Die größten Unterschiede fanden wir im Bereich der nationalen Identität. Diese war in Deutschland mit Abstand am schwächsten ausgeprägt. Die deutschen Jugendlichen und die Elterngeneration zeigten die vergleichsweise geringste Verbundenheit nicht nur mit Deutschland als Nation, sondern auch mit ihrem Wohnort und ihrem Bundesland.

Hierfür mag es verschiedene Gründe geben. Auf Nachfrage gaben die von uns untersuchten 14- bis 18-Jährigen jedoch an, dass sie sich primär aufgrund des Unterrichts über das „Dritte Reich“ und insbesondere den Holocaust belastet und befangen fühlen, deutsch zu sein. Sowohl die Jugendlichen mit als auch ohne Migrationshintergrund meinten, dass rein rational gesehen auch die Deutschen das Recht hätten, stolz auf ihre Nation zu sein. Gefühlsmäßig spürten sie selbst jedoch Hemmungen, dies zu zeigen.

Dieser Befund war für uns Anlass, die Holocaust Education und ihre Auswirkungen näher zu analysieren. Ideengeschichtlich gesehen geht dieser Ansatz auf die Intellektuellen der sog. Frankfurter Schule zurück, die allerdings durchaus unterschiedlicher Meinung waren. Horkheimer fürchtete, dass das dauernde Insistieren auf einer Auseinandersetzung mit der „deutschen Schuld“ neue Verletzungen und neue Ressentiments mit sich bringen würde. Man dürfe nicht Schuldgefühle bei Menschen wecken, die keine Schuld haben. Statt Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur befürwortete er Aufklärung über verschiedene Formen des Totalitarismus. Die Schüler sollten lernen, Taktiken von Demagogen zu erkennen.

Adorno dagegen verfolgte ganz andere pädagogische Ziele. Es sollte Betroffenheit bei den Schülern hervorgerufen werden sowie Empathie und Identifikation mit den Opfern. Es sollte eine permanente und tiefgreifende Beschäftigung exklusiv mit dem Holocaust erfolgen, da er diesen als singulär ansah. Der Ansatz von Adorno hat im Rahmen dieser Kontroverse auf ganzer Linie gesiegt und bildet heute eine unhinterfragte Basis nicht nur für die Pädagogik, sondern auch für die einzig akzeptierte politische Rhetorik.

Erst die Identitätspolitik rüttelte an dieser Bastion. Opfer anderer Genozide und Gruppen, die unter Gewalt, Diskriminierung  und Verfolgung zu leiden haben oder hatten, fordern gegenwärtig eine Anerkennung ihrer Leidensgeschichte und geben sich nicht mit unteren Rangplätzen in einer von ihnen so erlebten „Opferhierarchie“ zufrieden. Anerkannte Holocaust-Forscher stimmen ihnen zu. So bezeichnet  A. Dirk Moses das deutsche Dogma, den Holocaust zu dekontextualisieren und als unvergleichbar zu betrachten als „Zivilreligion“, die von „illiberalen Erinnerungspriestern“ beherrscht werde.

Welche Wirkungen hat denn Ihren Untersuchungen zufolge die Holocaust-Erziehung auf die Psyche von Deutschen? Erfüllt die Erinnerung an den Holocaust eigentlich überhaupt ihren Zweck? Verringert sie Vorurteile gegenüber Juden und andere Menschengruppen?

Unsere Studie verfolgte den klassischen pädagogischen Ansatz, zwischen Erziehungszielen, Erziehungsmitteln und Erziehungserfolg zu unterscheiden.  Bezüglich der Ziele der Holocaust Education existiert eine nahezu unüberschaubare Fülle an Literatur, auch Erziehungsmittel sind gut dokumentiert. Ob dies zu den gewünschten Erfolgen führt, erscheint dagegen sehr fragwürdig. Den wenigen früheren Studien, die wir dazu finden konnten, blieb ein größerer Bekanntheitsgrad versagt. Die Autoren wurden nicht gerade mit Anerkennung belohnt. Dabei hätten die Ergebnisse eigentlich ein Alarmsignal für eine kritische Reflexion der pädagogischen Ansätze und Praktiken sein müssen.1

Unsere eigenen Untersuchungen bestätigen die besorgniserregenden Ergebnisse der früheren Pilot-Studien und geben auch den Bedenken und Befürchtungen Horkheimers Recht. In unseren Daten finden sich keine Hinweise, dass die propagierten und z.T. hochambitionierten Ziele der Holocaust Education auch tatsächlich erreicht werden. Stattdessen zeigen sich überdeutlich unerwünschte Nebeneffekte bei den Schülern wie emotionale Belastungen, Identitätsverunsicherungen, psychosomatische Beschwerden und Schuldgefühle. Es werden Affektstürme ausgelöst, die vielleicht in einer psychotherapeutischen, aber  nicht in einer pädagogischen Situation wieder aufgefangen werden können.2

Zwei Gruppen unter den Schülern gehören in besonderem Maße zu den Leidtragenden. Dies sind zum einen sensible Kinder, meistens aus der sozialen Mittelschicht und häufiger Mädchen, und zum anderen Kinder mit Migrationshintergrund, für die die Identifikation mit Deutschland eine bewusste Entscheidung darstellt. Letztere benötigen ein positives Identitätsangebot, sonst erscheinen ihnen die Herkunftskultur oder andere identitätsstiftenden Verlockungen als attraktiver.3

„Der Holocaust Education werden gleichsam magische Wirkungen zugeschrieben als Allheilmittel für alle möglichen Probleme. Die Diskrepanz zur empirischen Forschungslage könnte kaum größer sein.“

Wie müsste die Holocaust-Erziehung ausgestaltet werden, um negative Effekte zu vermeiden?

Als Fazit aus unseren Untersuchungsergebnissen haben wir schon vor einigen Jahren eine umfassende Evaluation der Holocaust Education gefordert. Diese wäre die Voraussetzung für eine tiefgreifende Reform. Ein solcher Vorschlag stößt bei vielen Verantwortlichen auf wenig Gegenliebe, was daran liegen könnte, dass es in diesem Bereich – wie von Moses beklagt – tatsächlich autoritative Strukturen geben mag, die an ihrer Deutungshoheit unbeirrt festhalten.  Die Methoden werden trotz empirischer Belege nicht in Frage gestellt. Stattdessen wird seit Jahrzehnten unisono dasselbe gefordert: Eine Erhöhung der Dosis („Es gibt nie ein Genug.“).  

Auf psychologische Bedenken, dass der Unterricht über das „Dritte Reich“ und den Holocaust in der 10. Klasse und somit in der puberalen Entwicklungsphase stattfindet, in der die Jugendlichen besonders vulnerabel auf Identitätsverunsicherungen reagieren, wurde erwidert, dass das Thema dann eben vorverlagert werden müsse. Dies würde aber problematische Methoden nicht zu richtigen machen und wäre erst recht kein Ersatz für die überfällige selbstkritische Reflexion.

Im April 2024 häuften sich die Vorstöße in diese Richtung. So forderte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (zusammen mit der Kulturstaatsministerin Claudia Roth und der Familienministerin Lisa Paus) bei einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen eine Vorverlagerung, weil es als Reaktion auf den Krieg im Nahen Osten zu propalästinensischen Demonstrationen gekommen war. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring forderte eine Erweiterung und Intensivierung, die im Grundschulalter zu beginnen habe, weil zu viele junge Leute in einer Studie Sympathien für die AfD geäußert hätten. Die Innenministerin Nancy Faeser und der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger forderten sogar eine Vorverlagerung in das Vorschulalter zwecks Prävention rassistischer Vorurteile. Man mag sich gar nicht vorstellen, wohin dieser Überbietungswettbewerb noch führen könnte.

Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag forderte schließlich, den Besuch einer KZ-Gedenkstätte verpflichtend zu machen. Der Idee von Zwangsbesuchen widersprachen jedoch die Leiter der sechs wichtigsten Gedenkstätten in Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung. Der Vorschlag zeuge von einem Missverständnis über die Wirksamkeit pädagogischer Prozesse. Ein KZ sei keine moralische Läuterungsanstalt.

Diese und viele andere Debatten zeigen, dass der Holocaust Education gleichsam magische Wirkungen zugeschrieben werden als Allheilmittel für alle möglichen Probleme. Die Diskrepanz zur empirischen Forschungslage könnte kaum größer sein.

Schlagen wir den Bogen nun zurück zur Woke Culture. Gibt es aus Ihrer Sicht Parallelen zwischen linker Identitätspolitik und der Holocaust-Erziehung in Deutschland?

Die Identitätspolitik weist mehrere Parallelen zum pädagogischen Ansatz Adornos auf. Dies gilt insbesondere für die Critical Race Theory, die sich sogar in einer Reihe mit der „reeducation“ der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg sieht und ihre Umerziehungsprogramme danach ausrichtet. In Form einer Kollektivschuldthese werden alle Weißen „strukturell“  (d.h. nur durch ihr Weißsein) als rassistisch angesehen. Nach dem Vorbild der Holocaust Education soll Betroffenheit ausgelöst werden sowie eine Sensibilisierung für Opfergruppen.  

Es gibt aber auch einen Antagonismus zwischen beiden Bereichen, eine Rivalität um die Platzierung in der so empfundenen „Opferhierarchie“. Die identitätspolitischen Bewegungen widersprechen der Singularitätsthese der Holocaust Education. Sie sehen Parallelen zu anderen Genoziden und beanspruchen eine gleichberechtigte Anerkennung ihrer eigenen gegenwärtigen oder historisch abgeleiteten Opfererfahrung.

„Bassam Tibi stellte die provokante Frage, wie die Deutschen den Migranten eigentlich eine tragfähige Identität anbieten wollten, wenn sie selbst keine hätten.“

Wie blicken Sie in die Zukunft? Welche Prognosen lassen sich aus Ihren Forschungen möglicherweise ableiten?

Die Identitätspolitik wird sicherlich auch in Zukunft ein wichtiges Thema bleiben. Dies ergibt sich aus der zunehmenden ethnischen Pluralisierung durch Zuwanderung und demografische Veränderungen. Es droht somit der Zerfall der Gesellschaft durch Tribalisierung und die Dominanz von Partikularinteressen gegenüber dem Gemeinwohl. Es stellt sich somit die Frage: Was hält die Gesellschaft zusammen? Es bedarf bei allen Unterschieden einer gemeinsamen Identität, einer bindungsstiftenden Idee.

Widerlegt ist sicherlich die Vorstellung, dass es einer solchen gar nicht bedarf, da wir uns sowieso bald alle nur noch als Europäer fühlen oder bald nur noch Weltbürger im globalen Dorf sein werden. Jürgen Habermas sah die Deutschen als Avantgarde auf diesem Weg und betrachtete die schwach ausgeprägte nationale Identität der Deutschen als günstige Voraussetzung. Gegenwärtig sieht es aber ganz danach aus, dass die Deutschen weltweit allein auf ihrem Sonderweg sind und niemand bereit ist, ihnen zu folgen. 

Habermas wollte den Deutschen lediglich einen Verfassungspatriotismus zugestehen. Nur der Stolz auf die Rechts- und Sozialordnung sollte erlaubt sein, eine Berufung auf vorpolitische Traditionsbestände jedoch nicht. Hierzu merkte schon Dolf Sternberger, der den Begriff Verfassungspatriotismus als erster geprägt hatte, an, dass es sich um ein seelenloses, rein rationalistisches Konzept handele. Es bedürfe weiterer emotionaler Komponenten, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern. Zu diesen zählte er „natürliche Heimatlichkeit“, „geschichtliche Überlieferung“ und „ausgebildete Sprachkultur“.

Ganz offensichtlich ist es in Deutschland besonders schwierig, solche Voraussetzungen zu schaffen. Bassam Tibi stellte die provokante Frage, wie die Deutschen den Migranten eigentlich eine tragfähige Identität anbieten wollten, wenn sie selbst keine hätten. Am Beispiel unserer Studien zur Holocaust Education zeigte sich tatsächlich, dass ein ausschließlich negativer Gründungsmythos und eine Nur-Problematisierung der deutschen Identität den Bedürfnissen gerade der Jugendlichen mit Migrationshintergrund nach Stolz und unbelasteter Zugehörigkeit nicht gerecht wird. Es sieht so aus, dass Horkheimer mit seinen Bedenken doch nicht hinter Adorno unsichtbar bleiben sollte.

Nun kann man natürlich nicht die Geschichte umschreiben, nur weil sie belastend wirkt und auch das Lernen aus der Vergangenheit muss Bestandteil der Sozialisation bleiben. Allerdings lässt sich vielfach die demonstrative Weigerung oder Unfähigkeit zur positiven Identitätsstiftung in der Gegenwart gar nicht durch die Vergangenheit begründen. Wie die Kommission der Bundesregierung „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ in ihrem Abschlussbericht herausstellt, ist es gerade für die Stabilisierung der Demokratie wichtig, ihre Symbole „leuchten zu lassen“, anstatt sie verschämt zu verstecken. Das Land bedürfe patriotischen Stolzes über das Geleistete und eine optimistische Grundstimmung, um als attraktives Identifikationsobjekt dienen zu können. Ablehnung, Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit gegenüber dem eigenen Land erzeuge ein affektives Vakuum, das von den Feinden der Demokratie besetzt werden könne. Dies gehört sicherlich zu den größten Gefahren in Gegenwart und Zukunft.

Ich danke Ihnen für die anregende Konversation.

Das Interview führte Novo-Autor Christian Zeller.

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