17.12.2018
Von Marcuse zum NetzDG
Zum Erbe der 68er gehören auch Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, Verachtung der Massen und neues Spießertum.
Ein halbes Jahrhundert „1968“ – darüber wurde dieses Jahr viel geredet und gesprochen. Auch von 68ern selbst, die – wie manche meinen – aus Eigeninteresse ihre historische Rolle überhöhen. Viele Experten relativieren heute die Studentenprotestler, schließlich haben sie Entwicklungen wie die „sexuelle Revolution“, die Demokratisierung der Bundesrepublik oder die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht angestoßen, sondern allenfalls beschleunigt.
Aufbruch und Befreiung oder extreme Verirrungen verwöhnter Bürgerkinder? Auswirkungen und Erbe dieser vergangenen Zeit gehen über das hinaus, was viele damals als kurzfristige Folgen wahrnahmen. Klar mussten alte Zöpfe abgeschnitten werden, katholischer Muff, Spießbürgertum und Pickelhauben passten nicht eine Zeit des Aufbruchs. Männer durften nun die Haare lang tragen, Frauen Hosen. An der Uni konnten sich Kommilitonen jetzt duzen und auf die Krawatte verzichten. Man brauchte nicht mehr „brav“ zu sein – klingt alles nach einem Gewinn an Freiheit. Doch unter dieser Oberfläche wuchs anderes heran. Zunächst ein Blick zurück auf ausgewählte Ereignisse.
1968
- In Nanterre wird die heutige Universität Paris-Nanterre fleißiger ausgebaut als an ihr studiert. Die damalige Fakultät der Sorbonne wird Zentrum der französischen Studentenproteste, Daniel Cohn-Bendit hält seine erste große Rede, nach Unruhen erfolgt die Räumung, die Geschehnisse eskalieren. In einer westdeutschen TV-Reportage bemerkt Peter Scholl-Latour, dass die Arbeiter auf der Baustelle wenig Interesse an den bourgeoisen Studenten zeigen, die sich gegen eine „‚Ideologie des Wohlstands‘“ engagieren und sich als Vorhut des Proletariats gerieren.
- Im Februar findet in der TU Berlin der „Internationale Vietnamkongress“ statt, mit Tausenden Teilnehmern ein Fanal der 68er-Bewegung. Ein West-Berliner Vertreter der FDJ (die die Konferenz unterstützte) darf reden, als aber ein CDU-Rechtsanwalt sich des Mikrofons bemächtigt, um gegen die Veranstaltung zu protestieren, wird er mit Gewalt am Weitersprechen gehindert und aus dem Saal entfernt. 68er, selbst für diverse Störmanöver in Hörsälen bekannt, haben umgekehrt wenig Interesse daran, dass gegen sie protestiert wird.
„Die Bevölkerungsmehrheit wollte ihren Wohlstand nicht durch das halbgare 68er-Gemisch aus (Pseudo-)Marxismus und Konsumkritik aufs Spiel setzen.“
- Brandsätze der späteren RAF richten im April in Frankfurter Kaufhäusern erheblichen Schaden an. „Burn, warehouse, burn“ hatte die „Kommune 1“ schon im Vorjahr zu einem Kaufhausbrand in Brüssel mit zahlreichen Toten geschrieben – in einem Flugblatt, wo „im Zentrum einer harschen Amerikakritik die Konsumgesellschaft steht“.
- Im gleichen Monat finden nach dem Attentat auf Rudi Dutschke schwerste Ausschreitungen vor dem Springer-Verlagsgebäude in West-Berlin statt, um die Auslieferung missliebiger Zeitungen an die Leser zu verhindern. Peter Urbach, ein V-Mann des Verfassungsschutzes, trägt entscheidend zur Eskalation bei, indem er Molotowcocktails mitbringt und demonstriert, wie man Lieferwagen am besten entzündet, was dann auch geschieht. Urbach versorgt auch die keimende RAF mit Waffen und liefert 1969 den Tupamaros um Dieter Kunzelmann die Bombe für einen gescheiterten Anschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus – ausgerechnet am 9. November …
- Zu den geistigen Vätern der 68er gehört Herbert Marcuse, und seinen Aufsatz „Repressive Toleranz“ lesen in dem Jahr viele Studenten. „Unparteiische Toleranz“, die auch „der Rechten“ und „der Partei des Hasses“ gewährt wird, lehnt der in den USA lehrende Philosoph ab. „Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links“. Denn zur Befreiung gehöre nun mal auch Unterdrückung. Man lebe in einer schlimmen Notsituation, die eine „extreme Aufhebung des Rechts der freien Rede und freien Versammlung“ erlaube. Jedenfalls für Menschen, die „eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen.“
Nach 68
Einer „Ausweitung des öffentlichen Dienstes“ haben sich damals nur wenige widersetzt, und zahlreiche 68er gelangten so beim Marsch durch die Institutionen an ihre Schreibtische und Pensionsansprüche, finanziert durch die Bevölkerungsmehrheit, die sich durch die „herrschenden Verhältnisse“ gar nicht so fürchterlich unterdrückt fand. Und die ihre relativ freiheitlich-demokratischen Lebensumstände und ihren Wohlstand nicht durch das halbgare 68er-Gemisch von (Pseudo-)Marxismus, Psychotheorie, Konsumkritik und Anbetung von Terrorregimen aufs Spiel setzen wollte.
„Die Neue Linke hat immer auf der falschen Seite der Geschichte gestanden.“
Die „Befreiung“, von der die sich herausbildende Neue Linke sprach, war – wie Marcuse schon theoretisiert hatte – häufig mit Unterdrückung verbunden, ob nun bei Mao oder Che Guevara. Die spätere SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die sich zunächst weigerte, sich aufs Grundgesetz zu verpflichten, um Lehrerin zu werden, hatte als Aktivistin des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) in den 1970ern Pol Pot, Idi Ami und Robert Mugabe unterstützt, Rechtfertigung: „Besser da als bei den Nazis“. Ein zur Schau getragener „Antifaschismus“ dient oft als Legitimationsgrundlage, um von Terror und anderen Schandtaten abzulenken.
Problematisch war auch das Verhältnis zur DDR: Die Neue Linke nahm zwar die Annehmlichkeiten des Westens gerne mit, arbeitete aber gegen seine Grundlagen. Und emigrierte nicht jenseits der Maurer – mit Ausnahme derjenigen RAF-Terroristen, die sich in den 1980ern dort versteckten. Denn die RAF genoss in erheblichen Teilen der Neuen Linken gewisse Sympathien, bis hin zur Legende von der „Isolationsfolter“, während Baader, Meinhof & Co. in Stuttgart-Stammheim in Wahrheit die privilegiertesten Untersuchungshäftlinge der BRD-Geschichte waren. Schon die Anti-Springer-Kampagne kam ursprünglich aus der DDR, und in den 1980ern sangen die „Friedenaktivisten“, die Anhänger einer einseitigen Abrüstung zugunsten des Ostblocks, fleißig „Das weiche Wasser bricht den Stein“ aus der Feder von Stasi-IM Diether Dehm (heute MdB der aus der SED entstandenen Linkspartei). Die Neue Linke hat immer auf der falschen Seite der Geschichte gestanden.
Da die heimische Arbeiterschaft sich nicht für ihre Zwecke einspannen ließ und man ohnehin mit „antiimperialistischen“ Bewegungen in anderen Teilen der Welt sympathisierte, wandte man sich später den hiesigen Migranten zu, die davon zunächst nichts mitbekamen, auf die man sich aber im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus bezog. In diesem Zusammenhang entdeckte man aus Rousseaus Werk den „edlen Wilden“ und natürlich die unter von Menschen „entartete“ Natur. Gerade die Öko-Ideologie (nicht gleichzusetzen mit Umweltschutz) bot ganz neue Möglichkeiten. Um größere gesellschaftliche Relevanz zu erlangen, verbündete sich die Neue Linke mit technikfeindlicher Landbevölkerung im Kampf gegen Atomkraft und mit dem konservativen Bürgertum im Kampf gegen moderne Stadtplanung.
„Anti-autoritär im Gehorchen, autoritär im Befehlen.“
Die scheinbar gegen das „Regressive“ und „Reaktionäre“ streitenden (Post-)68er setzten sich so an die Spitze des fortschritts-, industrie-, wohlstands- und letztlich zivilisationsfeindlichen Denkens. Wenn inzwischen von manchen beklagt wird, dass der öffentliche Diskurs in Deutschland „scharf anti-liberale und anti-konservative Züge“ trägt, sollte dabei nicht vergessen werden, dass das erste Opfer der Neuen Linken gewissermaßen die Alte Linke war. Deren zumindest deklarierte Ziele auf Wachstum und bessere Bedürfnisbefriedigung breiter Bevölkerungsteile, auf ein „Schneller, höher, weiter“ sind längst einer grünen Verzichtsreligion gewichen.
Und heute?
- Mit Bauarbeitern – siehe eingangs – haben die heutigen neulinken Studenten weniger gemein denn je. Nach Beschwerden des AStA untersagt das Rektorat der Uni Köln 2018 Bauarbeitern auf hochschuleigenen Baustellen das Tragen von rechtsextremer Szene-Kleidung (etwa der Marke „Thor Steinar“, die ja nicht gesetzwidrig ist wie etwa das Zeigen von Hakenkreuz-Emblemen), was vereinzelt vorgekommen war. Kontrollgänge der Verwaltung stellen sicher, dass das Verbot eingehalten und damit die Uni „ein diskriminierungsfreier Ort bleibt“, wie es der AStA-Vorsitzende (ein Juso) formuliert. Im Sinne Marcuses werden vermutlich T-Shirts mit dem Konterfei des stalinistischen Unterdrückers Che-Guevara oder Gewaltbereitschaft signalisierende Antifa-Slogans geduldet. Die ja zumeist von Kommilitonen mit Interesse an steuerfinanzierten Jobs und nicht vom produktiv arbeitenden Pöbel getragen werden.
- Im öffentlichen Diskurs wollen auch heute „linke“ Kreise den – in der Formulierung des vielen sicher nicht mehr näher bekannten Marcuse – „systematischen Entzug von Toleranz gegenüber [in ihren Augen] rückschrittlichen und repressiven Meinungen und Bewegungen“ durchsetzen – und offenbaren somit vor allem die eigene Intoleranz. Als ein Baustein fungiert dabei das NetzDG, das seit dem vergangenen Jahr zu Löschorgien und „Overblocking“-Zensur in den Social Media führt. Dabei geht es auch gegen den „Hass“ – allerdings nicht gegen den eigenen auf Andersdenkende. Schon 1968 gab es „ein ungemeines Maß an Hass, Intoleranz und Wahnvorstellungen bei den Revoltierenden“, wie ein Alt-68er-Soziologe feststellt. Bei so manchem Zeitzeugen kamen unangenehme Erinnerungen an 1933 hoch. Sie „agierten unter dem Siegel des Anti-Autoritären selbst doch reichlich autoritär“, urteilt ein Historiker. Anti-autoritär im Gehorchen, autoritär im Befehlen.
- Im Sommer trifft sich ein Kölner Abiturjahrgang von 1968. Einer der Veteranen bringt ein Schild mit der Aufschrift „weniger“ mit, andere tragen entsprechende T-Shirts. „Weniger Konsum, weniger Eigensinn, weniger Besitzstreben.“ Damit steht er nicht alleine. Der Askesekult nach 68 ist heute Standard in etablierter Politik und Massenmedien: Weniger Autofahren, weniger Strom verbrauchen, weniger Fleisch und Zucker essen, weniger rauchen sowieso und am besten noch weniger Kinder kriegen – dem „Klima“ zuliebe. Apropos Klima: Aus „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“ (der Verballhornung einer Bundesbahn-Reklame) wurde 1990 schon „Wir reden vom Wetter“, ein Slogan, mit dem die Grünen damals noch bei der Bundestagswahl scheiterten. Heute ist der Glaube an den drohenden Weltuntergang Gemeingut geworden. Nicht mit Zukunftsvisionen von 68, sondern mit grünen Angstszenarien vermochten sie Einfluss zu gewinnen.
Weihnachten 68 wird der ein oder andere für die Wiederauferstehung von „Jesu-Kind-Dutschke“ gebetet haben, der durchschnittliche Bundesbürger aber hat nach Würstchen und Braten eine Zigarette im heimeligen Wohnzimmer genossen, sich seines neuen Autos erfreut und den Apollo-8-Raumflug im Fernsehen verfolgt. Ob er Weihnachten 2018 beim Essen Angst um seinen Bauchumfang hat und ihm „Massentierhaltung“ ein schlechtes Gewissen bereitet? Ob er sich zum Rauchen vor die Tür jagen lässt? Ob er sich um den Wertverfall seines Diesel-Wagens sorgt und eine Doku übers Klima-Armageddon schaut? Wenn ja, haben ihm die Erben der 68er die Bescherung verhagelt. Vorsatz fürs neue Jahr sollte dann sein: Gelbe Warnweste anziehen.