07.05.2021
Von der Pandemie in die Endemie
Von Julius Felix
Durch Evolution verändern sich Coronaviren, sie werden auf Dauer heimisch. Bereits jetzt besteht viel Immunität. Impfstoffe bieten zwar Chancen, hierbei aber auch Risiken.
Die Infektiologin Jennie S. Lavine und zwei Kollegen haben auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse fundiert in die Zukunft geschaut – nicht ahnungslos in die Glaskugel, wie so mancher Talkshow-Gast, sondern wissenschaftlich erklärt, warum es so kommen wird. In der Fachwelt war das keine Überraschung, weil so gut wie keiner wirklich mit der Möglichkeit rechnet, das Virus wieder los zu werden. In einer Umfrage des Fachjournals Nature unter renommierten Experten wurde klar, dass die Wissenschaft von einem Übergang von der Pandemie in die Endemie ausgeht.
Ein scheinbares Monster wird plötzlich zum Schoßhund – das klingt unglaublich, ist uns aber schon öfter mal passiert. Es gibt nämlich schon vier endemische Coronaviren, mit denen wir seit Jahren leben: NL63, 229E, OC43 und HKU1. Sie klingen nicht nur unspektakulär, sondern sind es auch, zumindest, wenn man die mediale Aufmerksamkeit beachtet, die ihnen zu Teil wird, aber sie steuern immerhin rund 10-30 Prozent zu den Grippewellen, die wir so erleben, bei. Auch bei den übrigen Grippeverursachern sehen wir das, was der Grund dafür ist, dass die Grippe-Impfung regelmäßig angepasst werden muss.
Um dazu mal einen Eindruck zu liefern: Vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2019 wurden 21.662 Proben vom IHU Méditerranée Infection Diagnostic Laboratory in Marseille getestet. Unter diesen waren 770 Proben mit acht Todesfällen (Mortalitätsrate 1%) positiv für Coronaviren. Allerdings ist dabei anzumerken, dass man seriös nur davon sprechen kann, dass sie mit dem Virus verstorben sind, ob sie auch direkt am Virus verstorben sind, ist nicht klar nachgewiesen. Unter den identifizierten Coronaviren wurden 63 als HKU1 (ein Todesfall, Sterblichkeitsrate 1,6%), 74 als NL63 (zwei Todesfälle, Sterblichkeitsrate 2,7%), 92 als E229 (ein Todesfall, Sterblichkeitsrate 1,1%) und 160 als OC43 identifiziert (vier Todesfälle, Sterblichkeitsrate 2,5%). 381 Coronaviren, die von 2017 an bis eben 2019 diagnostiziert wurden, wurden keinem dieser vier Stämme zugeordnet. (Roussel et al.)
„Bereits in jungen Jahren erwerben Menschen durch Infektion mit diesen Viren eine Immunität – und zwar durch Epidemien.“
Warum gelten diese Viren aber für Medien und Politik nicht als ausreichend relevante Probleme? Bereits in jungen Jahren erwerben Menschen durch Infektion mit diesen Viren eine Immunität – und zwar durch Epidemien. Alle vier verursachen nämlich in beständiger Regelmäßigkeit Epidemien in dieser jungen Altersgruppe: das Erkrankungsalter liegt dann zwischen drei und fünf Jahren. Viele bemerken das gar nicht beziehungsweise nehmen sie es nicht als Coronavirus wahr – die Letalität in dieser Altersgruppe ist ohnehin gering, also ist es nichts, worüber man sich Sorgen macht. In der Vergangenheit hat man sich darum auch nie groß gekümmert und in der Regel nicht mal getestet, um welchen Erreger es sich handelt, weil man es als normale Immunisierung in diesem Alter betrachtet hat.
Callow et al. haben hervorragend beschrieben, was bei der Immunisierung passiert: Die Infektion hinterlässt eine kurzzeitige sterile Immunität (= Schutz vor Transmission), die sich dann in eine Teilimmunität, eine so genannte klinische Immunität (=Schutz vor [starken] Symptomen) wandelt, auf deren Basis nach einem Jahr bereits eine weitere Infektion vorkommen kann, die dann milder verläuft, weil das Immunsystem gelernt hat, damit umzugehen. Diese Teilimmunität bleibt lebenslang. Das ist auch die maximalste Form der Immunität, die jemals gegen Coronaviren erzeugt worden ist. Dabei spielen T-Zellen eine entscheidende Rolle.
Diese T-Zellen-Immunität bleibt häufig unberücksichtigt: Die Karolinska COVID-19 Study Group hat schon im Oktober eine Studie vorgelegt, die nachweist, dass es bereits eine weit verbreitete Immunantwort gibt, die schwere Verläufe verhindert – die wenigsten positiv Getesteten haben schwere Verläufe. Diese Immunität kommt unter anderem auch von anderen humanen Coronaviren (HCoVs). Diese Menschen sind bereits in hohem Maße geschützt.
Wie mutiert ein Coronavirus?
Bei respiratorischen Viren gibt es gewisse Grundlagen, die man kennen sollte und auf die sich auch zum Beispiel Prof. Hendrik Streeck bezog, als er, genau wie Lavine, eine solche Entwicklung des Coronavirus skizzierte: Je näher an der Lunge sich ein Virus vermehren kann, desto gefährlicher ist es, aber umso schlechter verbreitet es sich auch. Je besser sich aber so ein Virus vermehren kann, desto ansteckender ist es, aber umso ungefährlicher ist es im Gegenzug. Diese These basiert auf den Erfahrungen mit Coronaviren und ist als Faustregel zu betrachten, die ihre Ausnahmen kennt, deren Eintreffen aber offensichtlich weder von Lavine noch von Streeck erwartet wird.
Aus evolutionärer Sicht ist das Ziel von Erregern aber nicht das Krankmachen oder Töten des Infizierten, sondern die Verbreitung des eigenen Erbguts. Das funktioniert am besten, wenn es gelingt, sich dauerhaft in einer Wirtspopulation zu halten, also endemisch zu werden. Eine unbeeinflusste Evolution könnte daher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass SARS-CoV-2 es sich in den oberen Atemwegen gemütlich macht, sich munter verbreitet und einen Schnupfen auslöst. So beschreiben es Lavine und zahlreiche andere Experten, die in diesem Bereich arbeiten. Denn Lavines Arbeit ist keine Außenseiterposition, sondern beschreibt einen Konsens.
„Rund 80 Prozent der Fälle verlaufen nur mit milden oder ganz ohne Symptome, was de facto Immunität bedeutet.“
Das Problem von SARS-CoV-2 war, dass man nicht wusste, ob und wie das Immunsystem der Menschen auf dieses Virus reagieren würde oder könnte. Heute weiß man, dank vieler Studien, dass auch die T-Zellen von Menschen auf das neuartige Virus reagieren, die noch gar keinen Kontakt damit hatten. Zudem verlaufen rund 80 Prozent der Fälle nur mit milden oder ganz ohne Symptome, was de facto Immunität bedeutet. Eine dauerhafte sterile Immunität, also eine Immunität, bei der es zu gar keinem Virenbefall kommt, gibt es bei Coronaviren schlicht nicht – keine oder milde Symptome zu haben, ist das Höchste der Gefühle, was man erreichen kann.
Von der Pandemie in die Endemie geht es also über die Evolution der Viren. Vereinfacht gesagt verdrängen häufig Mutationen, die ansteckender und ungefährlicher werden, nach und nach die Varianten des Virus, die weniger ansteckend, aber dafür gefährlicher sind, indem gegen die weiter verbreiten Varianten eine natürliche Immunität entsteht, die gegen alle anderen Varianten ebenfalls einen gewissen Schutz bietet. Einmal eine Infektion durchlaufen, erkennt das Immunsystem das Coronavirus an 30-40 Merkmalen, wodurch sich das Virus nicht unkenntlich mutieren kann, weil einzelne Mutationen nur wenige Merkmale ändern. Diese Immunität ist also stabil gegen andere Varianten.
Die Rolle des Impfstoffes
Der Impfstoff ist ein wichtiges Tool, um Menschen zu schützen, die ohne ihn eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, zu sterben, oder für die ein so genannter schwerer Verlauf wahrscheinlicher ist. Daher ist es wichtig, diesen Menschen ein Impfangebot zu machen, das sie dann mit ihrem Hausarzt in individueller Risikoabwägung besprechen können – so wie bei der Grippeimpfung auch.
Laut einer Studie im Bulletin der WHO liegt für unter 70-jährige die Wahrscheinlichkeit, an der Infektion zu versterben, bei 0,05 Prozent. Das bedeutet über 99,95 Prozent Überlebenschance – viel mehr geht kaum. Für diese Altersgruppe ist daher der Aufbau der Immunität mit und ohne Impfung gleich gefährlich oder ungefährlich, je nachdem, wie man es sehen will.
„Wenn sich eine Variante mit geringer Virulenz durchsetzt, stellt das Virus keine außergewöhnliche Bedrohung mehr dar, weil das einen weiteren Schritt zum Ende der Pandemie hin bedeutet.“
Das Problem der aktuellen Impfstoffe liegt darin, dass sie lückenhaft sind. Eine aktuelle Studie aus Israel deutet darauf hin, dass Geimpfte deutlich empfänglicher für eine Infektion mit der Südafrikanische Variante als mit B.1.1.7 oder dem Wildtyp des Virus sind. Ein Impfstoff, der Selektionsvorteile für eine Variante bietet, die eigentlich weniger ansteckend ist, sich aber dank der Impfung nun besser verbreiten kann, könnte so zum Problem werden. Allerdings nur, wenn es überhaupt zu einer relevanten Ausbreitung kommt. Das könnte den Weg von der Pandemie in die Endemie sogar verzögern. Im Prinzip sind die ansteckenderen und weniger gefährlichen Varianten „die Guten“. Wenn sich eine Variante mit geringer Virulenz durchsetzt, stellt das Virus keine außergewöhnliche Bedrohung mehr dar, weil das einen weiteren Schritt zum Ende der Pandemie hin bedeutet.
Israel hat nun eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, die zwischen Geimpften und Ungeimpften unterscheidet, etabliert, was sich auch in Deutschland anbahnt. Dadurch sorgt die Regierung für ideale Milieus, in denen sich die Varianten, die die Impfung brechen können, vortrefflich verbreiten. Mal abgesehen von der moralischen Verwerflichkeit einer solchen Zwei-Klassen-Gesellschaft ist sie kein taugliches Mittel, um schnell zu normalen Verhältnissen zurückzukehren. Die WHO hat sich sehr deutlich gegen dafür nötige Impfpässe positioniert. Verschiedene US-Bundesstaaten haben sie bereits verboten. Vor dem hier skizzierten Hintergrund ist dies sehr sinnvoll. Es ist durchaus möglich, auch ohne solche Schranken zu öffnen.