28.03.2017

Verteidigung des Individuums

Analyse von Ansgar Kruhn

Titelbild

Foto: Todd Quackenbush via Unsplash

Ein neues Stammesdenken greift um sich. Individuen werden auf eine äußere Eigenschaft reduziert, mit der sie sich identifizieren sollen.

Das Individuum, gedacht als rational handelndes und unmittelbar für sich selbst verantwortliches Wesen, hat viele Väter. Im antiken Athen waren es die Philosophen und besonders die Sophisten, die das Individuum in den Mittelpunkt der Welt gerückt haben. In den Tragödien wirkt der Gedanke, dass das Individuum für sein Handeln auch dann die Verantwortung übernehmen muss, wenn die Einflüsse von außen überwältigend sind, bis heute nach. Auch das Christentum – letztlich ein Produkt der ausgehenden Antike – setzte bei aller Gemeinschaftsrhetorik doch auf den einzelnen Menschen und seine individuelle Glaubensbereitschaft. Spätestens in der Renaissance erlebte das Individuum einen neuen Aufschwung, der Renaissance-Mensch ist mithin sprichwörtlich geworden. Anders als noch im Mittelalter wurde Individualität zunehmend nicht nur als Eigenschaft der Elite, sondern als Charakteristikum von potentiell allen Menschen angesehen. Philosophisch vollendet wurde das Individuum schließlich in der Aufklärung, die unmittelbar die Ursprünge des modernen Liberalismus, der auf das ökonomische und politische Individuum fußte, ausbildete.

Es geht vermutlich nicht zu weit, den Erfolg der Europäer zumindest in Teilen auf diese Gedanken zurückzuführen. Studiert man die im 15. Jahrhundert beginnende „europäische Expansion“, erkennt man deutlich, wie es durch die immense Energie von gegeneinander arbeitenden und von ihren Ideen erheblich motivierten Individuen möglich wurde, dass die verschiedenen kleinen europäischen Herrschaften nicht nur Amerika erobern, sondern auch die asiatischen Reiche – ungleich reicher und größer als die europäischen Länder – dominieren konnten.

„Die Attacke auf das Individuum kommt aus zwei Richtungen: Dem Tribalismus und der Funktionslogik des globalen Wirtschaftssystems“

Im 20. Jahrhundert wurde schließlich eine doppelte Attacke auf das Individuum, das weitgehend in Gestalt des Bürgers auftrat, geritten: Die modernen Massengesellschaften luden förmlich dazu ein, das Individuum als anachronistisch abzuschaffen und durch gegliederte Körperschaften zu ersetzen. Dafür ließ sich auf eine Ordnung der Gleichheit (Kommunismus) oder eine Ordnung der Ungleichheit (Faschismus) setzen. Bei allen Unterschieden zwischen diesen beiden Ideologien kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass im Kern ihres Feindbildes der Liberalismus und mit ihm der eigenständige, sich in erster Linie selbstverantwortliche Mensch mit eigengewählter Lebensform stand. Hitlers Begeisterung für Architektur, stramm marschierende Massen und geometrische Menschenformationen kann man als Sinnbild für dieses Denken ansehen, das im Menschen keinen individuellen Wert erkennen konnte – außer der Erfüllung einer Funktion.

Der Mensch als Sklave seiner Äußerlichkeit

Der Faschismus unterlag, der Kommunismus fast ein halbes Jahrhundert später ebenso. Nach 1945 erlebte man im Westen eine fortschreitende Individualisierung der Lebensformen, die Glorifizierung des „mündigen Bürgers“ und einen ungeahnten wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. In den 1990er Jahren schien die Zukunft für das Individuum rosig. Keine 20 Jahre später kann man dies nicht mehr behaupten. Auch diesmal scheint die Attacke auf das Individuum aus zwei Richtungen zu kommen. Einmal wäre da eine Erscheinung, die ich Tribalismus nennen möchte, und dann die Funktionslogik des globalen Wirtschaftssystems.

Unter Tribalismus verstehe ich die aktuelle Erscheinung, zwischen das Individuum und die Gesellschaft (Summe der Individuen) neue Teilgemeinschaften zu konstruieren, die auf mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Eigenschaften einzelner Menschen beruhen. Diese Eigenschaften (wie ethnische Herkunft, Geschlecht, äußere Erscheinungsmerkmale, sexuelle Orientierung etc.) haben die Funktion von Identitätsträgern, das heißt das Individuum gibt einen Teil seiner Individualität zugunsten der Zugehörigkeit zu einer essentialistisch gedachten Gemeinschaft auf. Die typische rhetorische Figur dazu lautet: „Ich – als Frau / Homosexueller / Behinderter / Schwarzer etc. – sage, dass ...“ Diese neu gewonnene Identität verheißt dem Einzelnen eine höhere Autorität in seinen Äußerungen, da er sie gewissermaßen als Sprachrohr für eine ganze Gruppe tätigt. Dazu kommt in einem weiteren Schritt die Überzeugung, dass erst solche Identitäten einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen. Rationalität und Objektivität gelten überall dort nicht mehr, wo die verschiedenen Identitäten direkt oder indirekt betroffen sind. Mit anderen Worten: Aussagen über die verschiedenen Identitäten lassen sich – in diesem Denken – nur von den Angehörigen der jeweiligen Gruppen treffen.

„Rationalität und Objektivität gelten überall dort nicht mehr, wo die verschiedenen Identitäten betroffen sind“

Man könnte hier schnell geneigt sein, dies als politischen Trick einzelner Interessenvertreter abzutun, doch scheint die Entwicklung dahin zu gehen, dass auch Individuen, die sich dieser „identity politics“ widersetzen, entsprechend ihrer äußerlichen Eigenschaften eingestuft werden. Hier wäre die rhetorische Figur: „Wie kannst Du als Frau / Homosexueller / Behinderter / Schwarzer etc. denn ... sagen?“ Das Individuum wird so unabhängig von seiner Individualität in seinen aus Äußerlichkeiten gezimmerten Stamm eingesperrt. So wird ein neues politisches Denken geschaffen: Dem Tribalismus geht es nicht mehr darum, einen Staat zu schaffen, der den Individuen ein freies, das heißt individuelles Leben im Rahmen gewisser Grenzen (Freiheit der Anderen) ermöglichen soll, stattdessen wird es zur staatlichen Aufgabe, den imaginierten Bedürfnissen der verschiedenen Identitätsgruppen Rechnung zu tragen, was in aller erster Linie bedeutet, die Menschen so zu erziehen, dass sie Individualität nur noch für innerhalb ihres Stammes möglich halten.

Seine Überzeugungen bekommt dieser „Mensch als Sklave seiner Äußerlichkeit“ direkt von seinem Stamm mitgeliefert. Eine Politik auf Grundlage von rationalen Entscheidungen zum Wohle der Gesellschaft ist aus Sicht des Tribalismus eine anachronistische Unmöglichkeit, die den verschiedenen Identitätsstämmen keine Rechnung trägt. Die Folge davon dürfte eine zunehmende Balkanisierung des Staates zusammen mit einer Alimentierung der Eliten der verschiedenen Identitätsstämme sein.

Homogenisierung der Angestellten

Kann man den Tribalismus als eine vornehmlich linke Erscheinung, die ihren Rassismus und Sexismus allerdings nur durch die immer wieder wiederholte und unhinterfragte Behauptung, man sei antirassistisch und antisexistisch, verdeckt, begreifen, dann stellt die Funktionslogik der globalen Wirtschaft den aktuellen (eher) rechten Angriff auf die Individualität dar. Dass die Einteilung des politischen Feldes in links und rechts keinen eigentlichen Sinn mehr hat, wird auch durch diese Überlegungen bekräftigt. Wie dem auch sei, die globale Wirtschaft der großen Konzerne folgt aktuell einer überstaatlichen Funktionslogik, die auf eine Homogenisierung der Angestellten setzt. Zwar wird aktuell die Bedeutung von Diversität betont, doch scheint es sich dabei weniger um individuelle Köpfe als um den Einbezug von Trägern der oben beschriebenen Identitätsstämme zu drehen. Ob man nun weiß oder schwarz, hetero- oder homosexuell ist, komplexe Zusammenhänge sind für alle in das Kauderwelsch der PowerPoint’schen Halbsätze zu pressen.

„Lehrpläne werden durch Kompetenzpläne ersetzt, in denen es nicht mehr um Wissen als Selbstzweck sondern die Vermittlung von wirtschaftsnahen Fähigkeiten geht“

Während die Bedeutung von Steuergeldern, die für immer umfangreichere Projekte (auch bereits solche des Tribalismus im oben formulierten Sinne) benötigt werden, wächst, steigt zwangsläufig auch die Bedeutung der Wirtschaftsunternehmen, die ihre Vorstellungen wiederum in staatlichen Einrichtungen wie der Schule und den Universitäten umsetzen können. Die alten Lehrpläne, die für die Vermittlung eines gewissen Bildungskanons standen, werden zunehmend durch Kompetenzpläne ersetzt, in denen es nicht mehr um Wissen als Selbstzweck sondern die Vermittlung von wirtschaftsnahen Fähigkeiten geht. Ein solches Bildungssystem fördert nicht das Heranwachsen von Individuen, sondern von Funktionserfüllern. Ähnlich ist es an den Universitäten, wofür ich ein persönliches Beispiel anführen möchte. Ich unterhielt mich mit einer älteren Informatikprofessorin, die enge Verbindungen zu einem großen deutschen IT-Unternehmen hat. Dieses Unternehmen trat damals für die Einführung des Bachelors und Masters ein, da man an jüngeren und billigeren Absolventen großes Interesse hatte. Aus Sicht des Unternehmens sind für die meisten Aufgaben keine voll ausgebildeten Akademiker nötig, das Tagesgeschäft benötigt im Kern spezialisierte Sachbearbeiter. Entsprechend betonte man, dass der Bachelorstudiengang möglichst praktisch anzulegen sei. Für die wichtigen Innovationen und neue Produkte hingegen kauft sich das Unternehmen zielgerichtet und international Absolventen von amerikanischen Elitehochschulen und Experten ein. Für einen Großteil der Angestellten ist Austauschbarkeit das wichtigste Kriterium.

Am Ende steht der Funktionsmensch

Neben den beiden ausführlicher beschriebenen Faktoren sind weitere Entwicklungen zu nennen, die zu einer Schwächung des Individuums führen. Da wäre beispielsweise eine Politik der großen Zahl, die es sich mehr und mehr zur Aufgabe macht, Probleme durch Zahlenverschieberei zu lösen. Stimmt die definierte Wunschzahl von Akademikern nicht, dann wandelt man eben Ausbildungen in Studiengänge um, bis die Zahlen „stimmen“. Ähnlich macht man es bei der Bevölkerungszahl. Geht die Zahl der Deutschen runter, dann müssen eben Zuwanderer angelockt werden, bis die Zahlen wieder „stimmen“. Ob es überhaupt die Aufgabe des Staates ist, seine Bürger in gewünschte Richtungen zu drängen oder vor vollendete Tatsachen zu stellen, spielt dabei keine Rolle. Der Gedanke, dass der Bürger in erster Linie eine Funktion für den Staat zu erfüllen hat, scheint sich weitgehend durchgesetzt zu haben. Entsprechend hart werden Steuerhinterziehungen oder sogar das Nicht-Bezahlen von GEZ-Gebühren bestraft. Durchaus auf einer Linie mit den Nationalsozialisten ist man wieder im Hinblick auf Gesundheitsfragen: Gesunde Ernährung, sportliche Betätigung, reduzierter Alkohol- und Tabakgenuss sind mithin Bürgerpflichten geworden, die über Besteuerung, politische Bildung und in Zukunft vielleicht auch über Gesetze eingefordert werden. Liberalismus ist geradezu zum Schimpfwort geworden, obgleich er als einziges der drei großen politischen Systeme des 20. Jahrhunderts keine Lager zur Verfolgung und Vernichtung seiner Gegner errichtet und stattdessen ein bisher unerreichtes Lebensniveau geschaffen hat.

Am Ende der genannten Entwicklungen wird, wenn es so weitergeht, nicht mehr das Individuum stehen, sondern der Funktionsmensch. Vielleicht hat sich das Individuum historisch einfach überlebt und taugt nicht mehr für die neuen sozialen und politischen Systeme, deren Entstehen wir gerade beiwohnen. Wir werden sehen.

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