04.12.2024

Verfassungsschutz ist Bürgersache (Teil 2/2)

Von Jan Dochhorn

Das Bundesinnenministerium versucht, unter dem Mantel der Rechtsextremismus-Bekämpfung einen übergriffen Staat zu legitimieren und die Demokratie zu lenken.

IV. Das Maßnahmenpapier imaginiert einen monolithischen Staat

Dem Zug zum „Ganzheitlichen“ entsprechend führt das Papier aus dem Innenministerium uns den Staat tendenziell als einen monolithischen Block vor Augen: „Zuständige Ordnungsbehörden“ sollen vor Ort Maßnahmen gegen Versamm­lungen ergreifen, das Bundesamt für Verfassungsschutz soll den Behörden dafür Informationen vermitteln, Landes- und Kommunalbehörden sollen „sensibilisiert“ werden; von „demokratischen Kräften“ ist die Rede, die „auf allen Ebenen zusammenwirken sollen“, und unmittelbar darauf findet „der gesamte Verfassungs­schutzverbund“ Erwähnung (S. 4).

Was die Innenministerin sich unter „demokra­tischen Kräften“ vorstellt, bleibt einmal wieder unklar; man kennt entsprechendes Vokabular aus dem DDR-Wort­schatz1, an den das hier verhandelte Papier auch sonst Anklänge aufweist (siehe den ersten Teil). Immerhin wird ersichtlich, dass die demokratischen Kräfte in einem Atemzug mit Inlands­geheimdiensten genannt werden können. Ist das so typisch für „demokratische Kräfte“? Man wüsste gerne Genaueres. Es bleibt zu hoffen, dass eine derart diffuse Diktion auch heute noch an Universitäten nicht proseminar­tauglich ist, aber Hoffnung kann trügen.

Wo es schwammig wird, lauert Gefahr, und so ist es auch hier. Mit dem Diffusen geht etwas einher, das zutiefst beunruhigt: Das Innenministerium stellt sich den Staat offenbar als ein von oben nach unten hin einheitliches Ganzes vor, mit den Kommunen als unterster Ebene, wobei die Geheimdienste ebenfalls eine Einheit bilden und mit Behörden auf allen Ebenen gut vernetzt sind, damit Nachrichten über Bürger mühelos ausgetauscht werden können. Das ist nicht das Bild vom Staat, wie wir es aus dem Grundgesetz kennen. Deutscher Tradition entspricht ein föderalistisches Staats­verständnis, das Kommunen herkömmlich gar nicht umfasst; kommunaler Selbstverwaltung eignet ein Moment des Vorstaatlichen. Verfassungstreue Bürger halten diese Tradition aufrecht, auch weil sie wissen, dass zwei totalitäre Diktaturen sie in Deutschland missachtet haben, um die Gesellschaft besser gleichschalten zu können.

Auch ist freier Bürgersinn es gewohnt, den Datenfluss von Behörde zu Behörde eher kritisch zu sehen. Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung stehen in unser politischen Kultur herkömmlich hoch im Kurs, und wir schätzen es nicht, wenn aufgrund uns unbekannter Informationen aus geheimer Quelle unversehens beruflich bei uns das eine oder andere schiefgeht – oder privat etwas vorfällt, das wir uns schwer erklären können. Etwas wie geheim­dienstliche Zersetzungsarbeit darf es in Deutschland nie wieder geben. Das Innenministerium muss explizit darlegen, was es tut, um Geheimdienste einzuhegen und den Bürger gegen einen ins Kriminelle tendierenden deep state abzusichern.

„Normalerweise sollte es den Staat überhaupt gar nichts angehen, was seine Bürger denken; eher schon wird er sich nach dem Denken seiner Bürger ausrichten müssen.“

Bundesstaatlichkeit gehört zum Kernbereich dessen, was ein Innenministerium eigentlich achten und verteidigen sollte, und das hat etwas mit Freiheit zu tun: Der Staat sorgt herkömmlich für Ordnung, ohne dabei „durchzuregieren“; es wird nicht von Berlin aus das ganze Land formiert. Bundesländer können eine eigene Agenda haben, und das schützt uns vor dem totalen Staat. Dies wird nicht zuletzt dann der Fall sein, wenn die AfD an Landesregierungen beteiligt sein wird. Autoritäres politisches Denken kann mit solchen Konstellationen schwer umgehen, aber die Erfahrung lehrt, dass Föderalismus funktioniert. Auch unser Grundgesetz ist dieser Meinung.

V. Das Maßnahmenpapier imaginiert einen übergriffigen Staat

Nach dem bisher Festgestellten ist kaum anzunehmen, dass der Rechtsstaat bei denjenigen, die für das Maßnahmenpapier verantwortlich zeichnen, in guten Händen ist. Eigentlich sollte klar sein, dass der Staat um der politisch ganz und gar prioritären Freiheit seiner Bürger willen sehr viel nicht darf, auch nicht bei der Verbrechensbekämpfung. Aber ein solches Bewusstsein lässt dieser Text immer wieder vermissen:

1. Eine Differen­zierung zwischen Gewaltdelikten oder auch Verstößen gegen die Eigentumsordnung einerseits und unangemessener Gesinnung andererseits findet in dem Papier kaum je statt. Normalerweise sollte es den Staat überhaupt gar nichts angehen, was seine Bürger denken; eher schon wird er sich nach dem Denken seiner Bürger ausrichten müssen. Es gilt, sich ins Bewusstsein zurück­zurufen, dass es Gesinnungsdelikte in einer demokratischen Kultur prinzipiell gar nicht geben kann – mit eng definierten Ausnahmen (wenn etwa die persönliche Ehre eines Menschen angegriffen wird).2

2. Höchst bedenklich sind Überlegungen, für Rechtsextremisten die Reisefreiheit einzu­grenzen (S. 6). Sie stehen nicht nur in merk­würdigem Gegensatz zu der gängigen Behauptung, dass eine Grenzsicherung, etwa gegen illegale Migration, nicht möglich sei, sondern erinnern an dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Nach fast 30 Jahren Mauer und Stacheldraht auf deutschem Boden verbietet sich unbefangenes Nachdenken über die Einschränkung von Reisefreiheit, zumal wenn davon bloße Gesin­nungen betroffen sein sollen, die noch nicht einmal klar definiert werden.

„Wir sind aufgewachsen in einer Rechtskultur, in der Verdacht allein keine rechtlichen Restriktionen mit sich führt, und in einer solchen wollen wir auch bleiben; unter anderem deswegen wenden wir uns gegen Rechtsextremismus.“

3. Rechts­staatliche Sicherungen erscheinen in dem Papier mehrfach als unnötige Hindernisse, die wegzuräumen sind, was kaum je zu rechtsstaatlichem Denken passt: Bei der „Ent­fernung“ von Extremisten aus dem Öffentlichen Dienst wird eine „deut­liche Beschleu­nigung der Verfahren“ angestrebt, und: „Das langwierige Disziplinar­klageverfahren, mit dem der Dienstherr statusrelevante Disziplinarmaß­nahmen vor Gericht bean­tragen musste, entfällt“ (S. 9). Langwierig sind solche Verfahren, weil es im Rechts­staat die Unschuldsvermutung gibt; der vom autoritären Alltagsverstand gerne einge­forderte „kurze Prozess“ ist nicht Sache des Rechtsstaates. Man kann solch eine Menta­lität auch mit dem Stichwort „Entbürokratisierung“ bemänteln. Eine solche wird angekündigt im Zusammenhang mit „Innovationen“, die das Bankgeheimnis betref­fen: „Außerdem müssen Verfahren entbürokratisiert werden: Es ist unange­messen, die schlichte Auskunft, wo eine Person ein Girokonto hat (,Konto­stammdaten‘), dem glei­chen aufwändigen Verfahren zu unterwerfen wie eine Telefonkommunikations­über­wachung“ (S. 5). Diese „schlichte Auskunft“ betrifft etwas, das den Staat zuallererst einmal nichts angehen soll. Darüber geht man hier mit dem Vokabular eines gemeinen Menschenverstandes hinweg, der nicht einsehen will, warum „solche Umstände“ ge­macht werden.

4. Im Waffenrecht plant das Innenministerium Restriktionen schon bei „Mitglied­schaft in einer Organisation, die vom Verfassungsschutz als ,bloßer‘ Verdachtsfall geführt wird“ (S. 11). Wir sind aufgewachsen in einer Rechtskultur, in der Verdacht allein keine rechtlichen Restriktionen mit sich führt, und in einer solchen wollen wir auch bleiben; unter anderem deswegen wenden wir uns gegen Rechtsextremismus. Und nicht zuletzt gibt es für uns nicht die Kategorie des „bloßen“ Verdachts. Die Anführungs­striche stammen vom Innenministerium – und lassen in Abgründe blicken: Es entspricht autoritär-spießbürgerlicher Gesinnung, wenn nicht Schlim­merem, einen Verdächtigen schon als kriminell anzusehen, bloß weil er ver­dächtigt ist. Rechtsstaatlichem Denken muss ein Verdacht in der Tat zunächst einmal ein „bloßer“ Verdacht sein und damit als ein Geringes gelten, auch wenn der Inhalt des Verdachts kein Geringes ist. Dies gilt umso mehr, wenn ein Verdacht konstruiert ist, womit rechtsstaatliches Denken immer rechnen muss. Verdacht verdächtig zu finden steht jedem gut an, der den Rechtsstaat schützen will.

5. Gänzlich außer Kontrolle gerät das Innenministerium mit seiner Ankündigung, für Armbrüste eine Erlaubnispflicht einzuführen, weil sie in der „rechten Szene“ beliebt seien. Wieder einmal wird nicht zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ unterschieden – und nicht zufällig entgleitet dann auch schon jeder Sinn für Freiheit. Armbrust­schie­ßen ist Lebensstil, wahrscheinlich testosteronbetont und mit Herois­mus-Attitüden verbunden, zuweilen wohl auch mit einer Vorliebe für nationalkonservative, rechts­populistische oder neopagane Ansichten; es kann auch Mittelalterkitsch involviert sein und lautstarker Biergenuss. Für nichts dergleichen wird irgend­jemand eine sozialdemokratische Innenministerin um Erlaubnis bitten müssen.

6. Zu einem freiheitlichen Rechtsstaat gehört die Anerkennung der primären Staatsunabhängigkeit gesellschaftlicher Teilpraxen wie auch die Trennung zwischen Handlungslogiken entsprechend diesen Teilpraxen. Die Staatsunabhängigkeit der Teilpraxen wird nicht beherzigt, wenn laut Innenministerium das Bundeskriminalamt den Providern von Internetplatt­formen „inkriminierte Inhalte“ „zur Löschung anregt“ (S. 7). Prinzi­piell sind nämlich wirtschaftliche Akteure nicht der verlängerte Arm der Exekutive. Erfahrungsgemäß besteht bei derart inoffiziellen Anregungen zum Löschen von Inhalten die Gefahr, dass willkürlich und nicht rechtsgebunden gelöscht wird (was zum Zwecke gesellschaftlicher Einschüchterung von Opposition durchaus gewünscht sein kann). Hier ist also eine Trennung von Staat und Wirtschaft erforderlich – und paradoxerweise mehr Staat (es sollte der Staat sein, der – an Recht und Gesetz gebunden und von der Öffentlichkeit bewacht – zu Sanktionen greift, wenn sie denn vonnöten sind, und nicht ein privater Akteur, der demokratisch nicht legitimiert und kontrolliert ist).

Die Differenzierung von Handlungslogiken wiederum wird nicht berücksichtigt, wenn gegen Rechtsextreme auch das Gaststättenrecht in Geltung gebracht werden soll (S. 4). Beim Gaststättenrecht ist der Eigenlogik des Gaststätten­wesens entsprechend nicht von Belang, was die Gäste oder auch die Wirte denken, sondern es geht etwa darum, dass in der Küche keine Küchenschaben herumkriechen sollten. Dies scheint die Innenministerin nicht mehr zu berück­sichtigen, weil sie gegen Rechtsextreme (bzw. was sie dafür hält) schlichtweg alles in Stellung bringen will. So handelt aber kein Rechtsstaat.

„Zur Rechts­staatlichkeit gehört eine klare Gewaltenteilung. Diese aber ist in Gefahr, wenn die Regeln für die Ernennung von Verfassungsrichtern manipuliert werden sollen.“

7. Das Innenministerium versäumt nicht den Hinweis, dass es mit Rechtsextremismus ähnlich umgehen wolle wie mit organisierter Kriminalität oder Clankriminalität (S. 4). Das ist unkontrolliert emotionalisierende Rhetorik: Etwas, das zunächst einmal Gesinnung ist, wird auf eine Ebene gestellt mit Gangstern, die Auftragsmörder beschäftigen. Rechtsstaatliches Denken aber wird zwischen verschiedenen Formen der Kriminalität behutsam differenzieren und vor allem klar definieren, was überhaupt kriminell ist. Und etwas beunruhigt sind wir dann auch in anderer Hinsicht: Wir wünschen vom Staat gegen rechtsextreme Gewalt wirksamer geschützt zu werden, als er es bei der Clankriminalität leistet.

8. Zur Rechts­staatlichkeit gehört eine klare Gewaltenteilung. Diese aber ist in Gefahr, wenn die Regeln für die Ernennung von Verfassungsrichtern manipuliert werden sollen. Man hat solches der neuerdings abgelösten rechtsgerichteten Regierung in Polen immer vorgehalten. Doch genau dies scheint nun unsere Regierung zu planen, wobei dieses Ansinnen – wieder einmal – hinter vagem Vokabular verborgen wird, das man hier einmal als verschwurbelt bezeichnen kann: „Die Unabhängigkeit des Bundesver­fas­sungs­gerichts“, so heißt es, soll „gegen die Einflussnahme demo­kratiegefährdender Kräfte ab[ge]sicher[t]“ werden (S. 3). Im Klartext müsste das heißen, dass bei der Wahl von Verfassungsrichtern die AfD gegen die bisher geltenden Regeln diskriminiert werden soll, was dem demokratischen Gleichbehandlungs­grundsatz diametral entgegen­steht, zumal man eine eindeutig verfassungsfeindliche Kandidatin der Linkspartei schon zur Verfassungsrichterin gemacht hat – in Mecklenburg-Vorpom­mern.3

Grundsätz­lich hat zu gelten: Jede Wählerstimme muss die gleiche Chance auf politischen Einfluss haben, auch bei der Richterwahl. Im Übrigen ist es schon nahezu verlogen, von der Unabhängigkeit des Bundesverfas­sungsgerichts gerade da zu reden, wo die Bestel­lung von Richtern nach partei­politischen Kriterien neujustiert werden soll, damit unerwünschte Wahlergebnisse sich nicht mehr auswirken.

9. Generell ist die Frage zu stellen, wo eigentlich in der Gedankenwelt des Innenministeriums der für den Rechtsstaat essentielle Gleich­behandlungsgrundsatz noch eine Rolle spielen soll. Es fehlt jeder Hinweis, dass man gegen Linksextremismus und Islamismus analog vorzugehen gedenkt.

VI. Das Maßnahmenpapier sieht eine exekutiv gelenkte Demokratie vor

Grundlegend für eine demokratische Verfassung ist die Volkssouveränität: Alle staatliche Gewalt geht vom Volke aus. Vom Volkswillen her wird staatliches Handeln bestimmt, und nicht umgekehrt erziehen Inhaber staatlicher Macht das Volk – mit der tendenziellen Konsequenz, dass ihre Macht perpetuiert würde. Nichts dergleichen ist in dem vorliegenden Maßnahmenkatalog zu erkennen. Hier sehen wir eher das Bild einer von den Inhabern staatlicher Gewalt von oben her durchgestalteten Gesellschaft, in der dann das Richtige gedacht wird, wobei das exekutiv anerzogene Richtige als „demokratisch“ bezeichnet wird. Dies ist an drei Beispielen auszuführen:

1. Harmlos klingt die Mitteilung, das BMI habe mit der Bertelsmann-Stiftung das „Bürgerbeteiligungsprojekt ,Forum gegen Fakes‘“ einge­richtet (S. 8). Immerhin sind Bürger beteiligt, was im demokratischen Kontext seltsam klingt und wie ein unfreiwilliges Eingeständnis eines Mangels an Demokratie aussieht. Aber warum geht dergleichen nicht ganz einfach von den Bürgern selbst aus, ohne dass noch Beamte dabei störten, Mittel bewilligten und Anträge genehmigten oder abwiesen? Und vor allem: Dann ist noch eine Großkapitalstiftung beteiligt, die demokratisch nicht legitimiert ist und dennoch in der Politik erheblichen und auch fatalen Einfluss ausübt, nicht zuletzt in der Universitätspolitik. Der Staat ist normalerweise geheißen, gesellschaftlicher Macht von solcher Wirkkraft die Balance zu halten. Dies ist der Sinn etwa der Trennung von Kirche und Staat. Auch eine Trennung von Staat und (wokem) Großkapital ist erforderlich; das wird man Sozialdemokraten offenbar erklären müssen. Es sollte übrigens nicht nur der Staat dem Großkapital, sondern auch das Großkapital dem Staat die Balance halten.

„Der Bundesregierung wird geraten, das Maßnahmenpapier ausdrücklich als eine Fehlleistung zu verwerfen.“

2. Der Gleichschritt von Staat und Gesellschaft ist typisch für totalitäre Gesellschafts­formen und gerade nicht für die offene Gesellschaft. Aber die Innenministerin wünscht dem Staat „die demokratische Zivilgesellschaft an seiner Seite“ (S. 12). Man erfährt in diesem Zusammenhang auch, was „demokratisch“ ist: Vom Staat „verlässlich“ unterstützte „zahllose zivilgesellschaftliche Initiativen“ (S. 12) – und wohl nicht die Desiderius-Erasmus-Stiftung, die ja auch zivilgesellschaftlich ist (und sich zur Demokratie bekennt). Die Sorge, dass „demokratisch“ sehr leicht zu einem Synonym werden könnte für das von Machtinhabern (von der Exekutive) Erwünschte, scheint die Innenministerin nicht zu beschleichen. Dem ist nachdrücklich entgegenzuhalten, dass eine an der Seite des Staates stehende und von ihm alimentierte Zivilgesellschaft mit Pluralismus sehr wenig zu tun hat; demokratie­tauglich ist dagegen ein diverses, vom Staate unabhän­giges und hauptsächlich nach formalen Kriterien geregeltes Vereinswesen.

3.  Satirisches Potential eignet einem neu ausgelobten Preis für „Sport mit Haltung“, der gegen Rechtsextremismus gerichtete „Haltung“ belobigen soll; es wird dann die Absicht bekundet, staatlicherseits „die demokratisch-integrative Kraft im gemein­nützig organisierten Sport zu stärken“ (S. 13). Wir geben hier nur am Rande zu bedenken, dass „Haltung“ eigentlich eher demjenigen zuzusprechen ist, der sich gegen Mächtige stellt, als dass sie bezeichnend wäre für ein von den Machtinhabern erwünschtes Auftreten gegen die Opposition, was immer das für eine Opposition ist und was immer man von ihr denken soll.

In der Hauptsache ist mit allem Nachdruck einzufordern, dass der Staat und mit ihm die Politik sich gefälligst aus dem gesellschaftlichen Leben heraushalten möge. Politik ist nur eine von vielen gesellschaftlichen Teilpraxen, sie ist Mittel zu dem Zweck, dass anderes und Besseres als Politik möglich ist, ob dies nun Armbrustschießen sei oder die Pflege der metaphysischen Tradition des Abendlandes im vertrauten Kreise. Es ist eben keinesfalls „alles politisch“; dies muss politischen Richtungen, die von der 68er-Bewegung geprägt und wie diese ganz offenbar eher autoritär als emanzipatorisch veranlagt sind, immer wieder entgegengehalten werden. Wir tun es mit Unlust, denn eigentlich interessieren wir uns für Politik in der Hauptsache nur deshalb, weil wir von der Politik in Ruhe gelassen werden wollen.

Und nebenbei ist dann noch aufzuzeigen, dass man die Wörter „demokratisch“ und „integrativ“ besser nicht in einem Atemzug verwendet: Charakteristisch für das Demokratische ist nicht das große Wir, in dem „wir“ uns integrieren, um dann bei Kerzenschein die gemeinsame „demokratische“ Gesinnung zu zelebrieren, sondern der Streit, bei dem das Gegenüber von Rechts und Links auf archetypische Weise sich immer wieder einstellt. Man muss das nicht schön finden, aber man muss es hinnehmen, sonst ist man kein Demokrat. 

Ausblick

Der Bundesregierung wird geraten, das Maßnahmenpapier ausdrücklich als eine Fehlleistung zu verwerfen. Untätig sollte die Politik aber nicht bleiben im Umgang mit Extremismus, nur muss sie dabei Verstand und Augenmaß walten lassen; man verteidigt nicht die Verfassung, indem man sie faktisch zerstört. Wie eine bessere Politik aussehen kann, sei hier in Kürze angedeutet:

1. Festzustehen hat das Ziel, dass jeder in Deutschland sich auf der Straße, zu Hause und im Beruf vor Anfeindungen sicher fühlen muss – ohne Ansehen einer Hautfarbe, seines Geschlechts, seiner Religion und (!) seiner Gesinnung. Als Jude sollte man mit Kippa, als Verbindungsstudent mit Mütze, als Muslima mit Schleier in Deutschland unbehelligt umhergehen können.

2. Diesem Ziel dient gute Polizeiarbeit, die wie gehabt überwiegend reaktiv bleibt, das heißt: auf Straftaten reagiert, und zwar derart effektiv, dass ein signifikanter Abschreckungs­effekt entsteht. Gerechtigkeits-Fundamentalisten aus dem Law-and-Order-Milieu und woke Antidiskriminierungs-Perfektionisten sind mit diesem defensiven Ansatz nie zufrieden, aber man sollte sie ignorieren. Politik mit Augenmaß weiß: Das angeblich Beste ist der Feind des Guten.

3. Zu guter Polizeiarbeit muss die Polizei dann auch imstande sein. Dies heißt vor allem: Sie darf an ihrer eigentlichen Arbeit nicht gehindert werden. Entfremdung des Berufes von der ihm eigenen Fachlichkeit ist in Wohlstandsgesellschaften weit verbreitet, laut Auskünften aus diesen Kreisen auch bei der Polizei. Entbürokratisierung, Kontrollabbau, Abschied von der Verbetriebswirtschaftung des Beruflichen ist erforderlich, wohl nahezu überall.

4. Die Polizei wird mit rechtsextremen Gewalttätern sicher besser fertig werden, wenn sie nicht permanent durch die Antifa von dieser Arbeit abgelenkt wird. Wie mit ihr zu verfahren ist, kann hier nicht erörtert werden, auch wenn die Richtung wohl klar sein müsste: Man tut auch gegen die Antifa nicht alles, sondern das Richtige.

„Da es demokratiewidrig ist, wenn der Staat Gesinnungen verfolgt, soll er sie auch nicht ausspionieren.“

5. Nicht alles tun, sondern das Richtige: Der Staat hat wieder zu respektieren, dass er nicht zuständig ist für die Gedanken seiner Bürger, ganz im Gegenteil: Er hat sich in dieser Hinsicht demütig zurückzuhalten, ja sogar unterzuordnen – dem, was sich im gesellschaftlichen Gespräch und dann in Wahlen als Volkswille konstelliert. Ein solcher Staat wird effizienter als gegenwärtig seine eigentlichen Aufgaben erledigen, auch was den Schutz von Minderheiten betrifft, und wieder an natürlicher Autorität gewinnen, ohne dass „Demokratieerziehung“ nachhelfen müsste.

6. Da es demokratiewidrig ist, wenn der Staat Gesinnungen verfolgt, soll er sie auch nicht ausspionieren. Daraus folgt: Der Verfassungsschutz, wenn er überhaupt noch zu halten ist, wird um die Aufgabe der Überwachung (oder gar Infiltration und Radikalisierung) der Vereinigungen von Andersdenkenden entlastet.4 Es gilt die Regel: Was immer geredet wird, ist nur dann kriminell, wenn es gewaltsam, privat schädigend, ehrverletzend ist. So beschaffen aber ist in der Politik vor allem öffentliche Rede, und um die zu erfassen und gegebenenfalls als peinlich zu degoutieren, bedarf es keiner Geheimpolizei. Der kritische Geist ist sich selbst Verfassungsschutz genug und braucht keine Assistenz, um etwa Jan Böhmermanns gegen die FPÖ (!) gerichtete Aussage, Nazis sollten gekeult werden, für gefährlich und unmoralisch zu halten – übrigens völlig unabhängig davon, wie die Gerichte urteilen.

7. Es muss im öffentlichen Diskurs unbeirrt einem Missbrauch des Vergangenheits­bewältigungsdiskurses entgegengetreten werden. Wer anderen Nationalsozialismus-Affinität vorwirft, sollte beweispflichtig sein und müsste – als einer, der verdächtigt – erst einmal selber unter Verdacht stehen: Es ist nämlich unedel, anderen Böses nachzusagen, es sei denn, man hat Gründe, die äußerst gewissenhaft abgewogen sind. Es muss immer wieder hervorgehoben werden: Nationalsozialismus-Affinität oder National­sozialismus zeigt sich nicht darin, dass jemand für Bürgerrechte gegen einen Impfzwang eintritt oder für eine restriktive Migrationspolitik, wie sie auch Dänemark praktiziert. Und rechtsextrem ist mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht eine Partei, die eine lesbische Bundes­vorsitzende hat und Waffenlieferungen an die Ukraine mit dem Argument kritisiert, es dürfe laut Grundgesetz von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen. Notwen­digerweise vergeht ein klares Gefühl für das eigentlich Skandalöse am Nationalsozialismus, wenn ständig Menschen als „Nazis“ identifiziert werden, gegen die man argumentativ offenbar nicht anders ankommt.

8. Einsatz für die Demokratie beginnt mit einer Erfassung des Potentials. Und hier ist momentan realistisch eine Einschätzung der Lage, die zumindest für die rechte Seite des politischen Spektrums eher optimistisch als alarmistisch ausfallen muss. Wir befinden uns nicht in einer Situation, die derjenigen am Ende der Weimarer Republik entspräche. Es sitzt seit mittlerweile acht Jahren kein Abgeordneter der NPD (jetzt: „Die Heimat“) mehr in einem deutschen Parlament. Die Bundesregierung ist gegenwärtig, sieht man von der weithin konformen Christdemokratie einmal ab, hauptsächlich von einer konservativen und libertären Opposition herausgefordert, die sich mit allem Nachdruck auf die Werte des Grundgesetzes beruft, und dies nicht rhetorisch, sondern in voller Überzeugung. Nicht ein Zuviel an Freiheitsrechten etwa stört die Corona-Maßnahmenkritiker, sondern ein Zuwenig. Wir alle sind aufgeru­fen, die Chancen für die Demokratie zu sehen, die sich hier andeuten. Linke und Christdemokraten sollten einmal versuchen, ihre politischen Mitbewerber nicht als Feinde zu sehen und sie bei ihrem Selbstver­ständnis zu nehmen. Es könnte sich dabei ein neuer Zustand unserer Verfassungskultur ergeben; die Demokratie könnte sich als unverhofft vital erweisen.

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