20.09.2021

Verfassungsschutz als Demokratieersatz

Von Kai Rogusch

Titelbild

Foto: JouWatch via Flickr / CC BY-SA 2.0

Anhand der Diskussion über die Beobachtung der AfD wird die zunehmend militante Demokratiefeindlichkeit der politischen „Mitte“ erkennbar. Sie will ihre populistische Konkurrenz aus dem Weg räumen.

Die AfD, die aus der letzten Bundestagwahl 2017 als stärkste Oppositionspartei hervorging, fordert die etablierten Parteien auf der Grundlage eines breiten Themenspektrums heraus: Sie zweifelt die wissenschaftlichen Grundlagen der Klimapolitik an. Sie verlangt eine Neubewertung der Europapolitik, indem sie gar die Möglichkeit eines Austritts Deutschlands aus der EU („Dexit“) ins Spiel bringt. Sie regt zudem die Überprüfung der geopolitischen Ausrichtung Deutschlands mit besonderem Augenmerk auf eine russlandfreundlichere Politik an. Obendrein bringt sie sich gegen Diversitätspolitik, "Genderpolitik" und Multikulturalismus in Stellung. Und sie fordert eine Rückbesinnung auf das Prinzip der „nationalen Souveränität“. Man kann von der Partei halten, was man will. Fakt ist jedenfalls: Kaum eine heilige Kuh der kulturell, medial und politisch Etablierten in der Bundesrepublik Deutschland bleibt von der AfD verschont.

Das ruft bei den Hütern der postnationalen „Errungenschaften“ des modernen Deutschlands gereizte Reaktionen hervor. Ihnen laufen mangels überzeugender Zukunftsperspektiven die Wähler, Leser, Zuhörer, Zuschauer, Anhänger und Mitstreiter davon. Angesichts der Verwerfungen, die unser international und supranational organisiertes System in Form von Flüchtlingskrisen, Finanzkrisen, Eurokrisen und mittlerweile als pandemische Notfälle ausgerufenen Gesundheitskrisen belasten, sind sie mit ihrem Latein am Ende. So sehen die Eliten nicht nur in Deutschland ihr in den letzten Jahrzehnten aufgebautes politisches Vermächtnis durch wachsende populistische Herausforderungen bedroht. Nun gehen sie dazu über, ihre politischen Besitzstände nicht zuletzt mit Hilfe verfassungsrechtlicher Normen und Institutionen abzuschirmen. Sie wollen damit aus ihrer Sicht unaufgeklärte und rückständige politischen Strömungen in Schach halten. Es geht darum, ein angeblich wissenschaftsbasiertes, weltoffenes, multikulturelles und globalisiertes Gefüge weltwirtschaftlicher Beziehungen und entsprechender Institutionen zu schützen.

Dass eine Partei wie die AfD gerade im globalistischen Vorzeigestaat Deutschland aufgrund der sich unübersehbar aufstauenden Probleme den Finger in die Wunde legt (ohne selbstredend gleich zukunftsweisende Lösungen mitzuliefern), sorgt bei der politischen Klasse für eine Wagenburgmentalität: Sie antwortet mit starrer Abschottung bis hin zu aggressiver Ausgrenzung des politischen Gegners. Die politische „Mitte“ unserer Tage führt immer drakonischere Geschütze gegen ihre Gegner auf: Die „wehrhafte Demokratie“ soll den Status Quo des heutigen Deutschlands schützen, indem sie dieses verfassungsgerichtlich zementiert und der demokratischen Entscheidungsfindung entzieht. Dabei schreckt man auch nicht davor zurück, populistische Gegner im Parteienspektrum geheimdienstlich zu beobachten und schließlich am liebsten durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verbieten zu wollen.

Mögliches AfD-Verbot

Es geht hier tatsächlich um die Möglichkeit, die AfD zu verbieten. Bereits jetzt steht die AfD im Visier der Landesämter und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Und das dürfte früher oder später in verstärkt zu vernehmenden Diskussionen über ein mögliches Verbot der AfD - oder zumindest von Teilen dieser Partei - münden. Die Grundlage hierfür hat ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht gelegt. Das BVerfG hat nämlich im letzten Verbotsverfahren über die politisch weitgehend irrelevante  NPD eine ausführliche Vorratsjudikatur 1 entwickelt. Weil sich die AfD  – anders als die NPD – als eine politisch relevante Partei in unserer Gesellschaft verankert hat, wird nun auch das freiheitsgefährdende Potenzial der angeblich „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ des Grundgesetzes deutlicher erkennbar.

„Angesichts populistischer Herausforderungen gehen die Eliten nicht nur in Deutschland dazu über, ihr in den letzten Jahrzehnten aufgebautes politisches Vermächtnis von aus ihrer Sicht unaufgeklärten und rückständigen politischen Strömungen abzuschirmen.“ 

Die „wehrhafte Demokratie“ tritt nicht zuletzt durch die Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz in Aktion. Hierbei handelt es sich letztlich um politische Inlandsgeheimdienste, die ausgerechnet mit jenem Bundesverfassungsgericht zusammenwirken, das in Deutschland zwar einmal eine durchaus freiheitssichernde Rolle spielte, mittlerweile aber selber zu einem Problem geworden ist. In dem BVerfG-Urteil im NPD-Verbotsverfahren vom 17. Januar 2017 wurde zwar erneut der Antrag abgewiesen, die NPD zu verbieten. Liest man dieses Urteil jedoch genauer, so erkennt man, dass Maßstäbe entwickelt worden sind, nach denen politische Parteien, die nach etablierter Auffassung als „verfassungsfeindlich“ deklariert werden und sich gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ richten, durchaus verboten werden können. Und zwar dann, wenn ihre politischen Erfolgsaussichten anders als bei der NPD nicht von vornherein aussichtslos erscheinen. Das führt dazu, dass zumindest der als „völkisch“ und rechtsextremistisch eingestufte, offiziell zwar aufgelöste, aber informell vermutlich nach wie vor wirkende „Flügel“ der AfD, dem man beachtlichen innerparteilichen Einfluss beimisst, in die Verbotszone der BVerfG-Judikatur gerät.

Den wenigsten ist der folgende Umstand bewusst: Durch die Festschreibung der „wehrhaften Demokratie“ im Grundgesetz wurde ein Zustand geschaffen, in dem an sich legal agierende Oppositionsparteien ins politische, gesellschaftliche und rechtliche Abseits gedrängt werden können. Konkreter: Oppositionsparteien, die eigentlich im rechtlich garantierten Schutzbereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit agieren, erleiden nun doch Nachteile. Schauen wir uns beispielsweise den vielfach erwähnten Thüringer Landesverband um Björn Höcke an, den das dortige Landesamt für Verfassungsschutz als „gesichert extremistisch“ einstuft. Einem einflussreichen Teil der in der thüringischen AfD Aktiven sollen mitunter radikale Maßnahmen vorschweben: Sie wollen anscheinend mittels recht straffer politischer Führung eine ethnische und kulturelle Homogenität des deutschen Volkes (wieder)herstellen. Eine Politik, die dieses „völkische“ Verständnis demokratischer Staatsbürgerschaft in die Tat umsetze, greife die Menschenwürde von Minderheiten an – und somit ein zentrales Prinzip unseres Grundgesetzes, wird argumentiert. 2

Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz stufte den dortigen Landesverband mithin im Januar 2019 als einen „Verdachtsfall“ und schließlich im März 2020 als einen „Beobachtungsfall“ ein. Er kann ihn also seit über zwei Jahren durch ein Spektrum an geheimdienstlichen Mitteln beobachten und ausforschen. Das ist für die AfD-Aktiven nicht gerade angenehm. Durch die Anwerbung sogenannter V-Leute kann in der Partei ein Zustand geschaffen werden, in dem immer weniger sicher erscheint, welchem Parteimitglied man überhaupt trauen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass durch den Staat eingeschleuste Agenten die Partei in die eine oder andere Richtung beeinflussen können. Außerdem gibt es die Möglichkeit, die interne Kommunikation von Parteimitgliedern auf der Grundlage eines Beschlusses der G-10-Kommission, eines abgeschottet tagenden vierköpfigen parlamentarischen Gremiums, zu überwachen.

„Durch die Festschreibung der ‚wehrhaften Demokratie‘ im Grundgesetz wurde ein Zustand geschaffen, in dem an sich legal agierende Oppositionsparteien ins politische, gesellschaftliche und rechtliche Abseits gedrängt werden können.“

Um es klar zu sagen: Hier werden an sich legal agierende politische Oppositionelle geheimdienstlich ins Visier genommen und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Das fördert den bereits vorhandenen Trend, wonach sich unsere Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich und kulturell aufspaltet, sondern sogar in Bevölkerungsteile auseinander fällt, die einander verständnislos gegenüberstehen. Die gesellschaftlichen Fronten dürften sich in der Folge immer weiter verhärten. Eine sich immer weiter von einem gesamtgesellschaftlichen Meinungsstreit abschottende „Mitte“ steht einer sich verhärtenden und in Teilen immer weiter ins Konspirative abdriftenden Front politischer Abweichler und Übergangener gegenüber. Schaut man sich die Wahlergebnisse der AfD in einigen Bundesländern an, so muss man zu dem Schluss kommen, dass in ganzen Regionen eine sich dort als normal empfindende Bevölkerung von der herkömmlichen Öffentlichkeit abkoppelt.

Auf diese Weise entsteht eine ängstliche und misstrauische Gesellschaft mit immer weniger gemeinsamen Bezugspunkten. Wenn sich die politischen Wünsche einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr in der offiziellen Politik widerspiegeln, dürfte dies früher oder später eine weitere Folge haben: Die gesetzten staatlichen Regeln werden immer weniger ernst genommen. Angesichts einer sich daraus ergebenden Normenerosion dürfte im Gegenzug eine weiterhin bestehende Mehrheit ängstlicher Orientierungsloser nach autoritärem staatlichem Durchgreifen rufen. In diesem Prozess werden dann immer mehr normale Bürger sozusagen zu Staatsfeinden erklärt. Auf diese Weise entsteht ein nervöser, fragiler und zugleich autoritärer Staat, der immer weniger Rückhalt in der Gesellschaft hat. Eine Gesellschaft entsteht, in der sich breite Teile der Bevölkerung nicht nur aus dem politischen Leben ausgeschlossen finden, sondern obendrein fast schon kriminalisiert werden. Und genau das ist am Beispiel der AfD mittlerweile gut zu erkennen. Inzwischen geht es nicht mehr nur um den radikalen „Flügel“. Die Einschätzung nämlich, der „Flügel“ übe einen beträchtlichen, gar maßgeblichen Einfluss auch auf die Bundespartei der AfD aus, könnte – nach derzeit noch ausstehender verwaltungsgerichtlicher Klärung – auch die im Bundestag vergleichsweise gemäßigt in Erscheinung tretende Bundes-AfD ins Visier des Bundesamtes für Verfassungsschutz rücken – dann als sogenannten Verdachtsfall.

Staatsgefährdung durch die
politische Klasse

So oder so ist die – nach derzeit noch im Bundestag abgebildeten parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen – größte Oppositionspartei in Deutschland in eine Situation geraten, in welcher der politische Wettbewerb erheblich verzerrt wird. Das geschieht entgegen anderslautender Ansicht nicht nur auf der Grundlage rein rechtlicher Erwägungen der sachlich für den Verfassungsschutz zuständigen Verantwortlichen. Es geschieht vielmehr auf Betreiben der Bundesregierung, deren Innenminister die Aufsicht über den Verfassungsschutz ausübt. Der politische Gegner wird durch anprangernde Verfassungsschutzberichte und damit einhergehende mediale Berichterstattung geächtet. Staatliche Ausforschung (und mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen zumindest im öffentlichen Dienst) machen das Leben für bekennende AfD-Mitglieder schwer. Der freie politische Willensbildungsprozess wird durch Tabuisierung politischer Inhalte beschnitten: Denn jede an sich noch so unterstützenswerte – oder zumindest vertretbare – politische Initiative oder Idee, die in irgendeiner Form den Verdacht auf sich zieht, AfD-nah zu sein, wird lieber verschwiegen. So verselbstständigen sich gesellschaftliche Fehlentwicklungen, weil die üblichen demokratischen Korrekturmechanismen fehlen.

„Auf diese Weise entsteht eine ängstliche und misstrauische Gesellschaft mit immer weniger gemeinsamen Bezugspunkten.“ 

Man wendet zwar gerne ein, dass eine Partei, die sich nicht von vermutlich menschenverachtendem Gedankengut eines erheblichen Teils ihrer Mitglieder glaubhaft distanzieren könne, ihre Existenzberechtigung im demokratischen Diskurs verwirkt habe. Doch diese Sichtweise entspringt einem oberflächlichen Verständnis der gegenwärtigen Phänomene identitärer Gruppen im rechten Spektrum. In der AfD wirken Kräfte, die sich auf traditionelle Werte, auf Familie, auf herkömmliche Geschlechtsbilder und auf die Vorstellung kulturell homogener Nationalstaaten berufen und die wohl tatsächlich einem robusten Führerkult frönen. Manchen dieser Leute scheint gar tatsächlich vorzuschweben, den Untergang Deutschlands beispielsweise durch brutale „Remigrationsmaßnahmen“ (in Form inhumaner Abschiebungen und Umsiedlungen) im Falle eines noch in der ferneren Zukunft liegenden politischen Erfolges abzuwenden.

Bei diesen Bestrebungen innerhalb der AfD handelt es sich allerdings um eine reaktionäre Antwort auf den bereits vollzogenen Abbau demokratischer Souveränität durch die herrschende Politik – und auf die von ihr mutwillig oder fahrlässig herbeigeführte Auflösung eines gesellschaftlichen Gemeinwesens. Die Politik hat in den letzten Jahren Grundelemente einer freiheitlichen und demokratischen Verfassung bereits geschliffen und demontiert. So wurden beispielsweise nach den Worten des mittlerweile verstorbenen ehemaligen Bundespräsidenten und Verfassungsrichters Roman Herzog bereits „zentnerweise“ Souveränitätsrechte auf die Europäische Union übertragen. Durch diesen schleichenden Prozess wurde das Prinzip, dass alle Macht vom Volk ausgeht, zugunsten einer – die persönliche Autonomie der Bürger mitunter sehr kleinteilig einschnürenden – Herrschaft von nationalen Spitzenpolitikern, internationalen Bürokraten, handverlesenen Experten, megareichen Interessengruppen und Zentralbankern durchlöchert. Das unterscheidet die etablierte Politik von der AfD, der bislang lediglich das Potenzial beigemessen wird, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen oder auch nur zu beeinträchtigen.

Die Entwicklung hin zu einem defensiven, autoritären und zensorischen Gebaren großer Teile der politischen Klasse ist mittlerweile so weit gediehen, dass selbst eher biedere, bürgerliche und professionelle Kritik als gefährlich angesehen wird. Wer bestimmte politische Entscheidungen wie etwa die diskussionsbedürftigen Corona-Maßnahmen in Frage stellt, zieht heute den Vorwurf auf sich, die ‚Saat des Zweifels‘ gegenüber den etablierten demokratischen Institutionen zu streuen. Entsprechend nimmt der Verfassungsschutz jetzt auch die Querdenker-Bewegung ins Visier und wirft ihr eine „Delegitimierung des Staates“ vor. Dies mag in Teilen zutreffen. Allerdings haben wir in den letzten 18 Monaten auch nie dagewesene Einschränkungen der Grundrechte erlebt, so dass zumindest die Frage nach der Legitimität dieser Maßnahmen nicht ohne weiteres als staatsgefährdend einzuordnen ist.

Wenn sich in den kommenden Monaten nichts grundlegend ändert, so ist auch nach der Bundestagswahl zu erwarten, dass sich die etablierten politischen Kräfte hinter einer wachsenden Geistesstarre verschanzen werden. Die Gesellschaft zerfällt weiter, das geistige Leben stirbt. Eine technokratische Staats-, EU- und UN-Bürokratie, die im gegenwärtigen Grundgesetz angelegt ist, wächst weiter und verdrängt eine funktionierende gesellschaftliche Selbstorganisation innerhalb eines souveränen Nationalstaates. Statt nach dem Verfassungsschutz zu rufen, liegt es an uns, eine neue Verfassung zu entwickeln, die den Bürgern weitaus mehr Befugnisse und damit einhergehend mehr Verantwortung im Prozess der politischen Selbstverständigung verleiht.

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