15.06.2015
Sollte man Parteien verbieten?
Analyse von Horst Meier
Das Parteiverbot ist eher ein Problem als eine Lösung. Die Verbotsdrohung schwächt die Demokratie. An die Stelle eines ideologischen „Verfassungsschutzes“ muss ein gefahrenbezogener Republikschutz treten, erläutert der Jurist Horst Meier anhand von 18 Thesen
1.
Im Umgang mit dem Parteiverbot hatte die deutsche Politik bislang keine glückliche Hand. Nüchtern betrachtet wurde Art. 21 II GG nicht gebraucht. Indes verführt sein Ausgrenzungspotenzial zu symbolischer Verbotspolitik, wo es doch gilt, gegenüber Antidemokraten demokratische Prinzipien hochzuhalten. Von daher stellt das Parteiverbot ein Problem dar, statt eine Lösung zu bieten.
2.
Im Anfang war die Parteienfreiheit. Wer vom Verbot spricht, darf darüber nicht schweigen.
3.
Jeder Eingriff in die Freiheit „unerträglicher“ Opposition verzerrt den politischen Wettbewerb zugunsten der Mehrheitsparteien. Ein Verbot lässt sich nur rechtfertigen, wenn und soweit es zur Verteidigung der Demokratie notwendig ist.
4.
In der Weimarer Republik konnte eine Partei, deren „Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft“, aufgelöst werden (§ 2 Abs.1 des Vereinsgesetzes von 1908). Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes bietet die Möglichkeit, Parteien bereits wegen ihrer politischen „Ziele“ zu verbieten. Die Verbotsurteile gegen SRP (1952) und KPD (1956) waren einseitig auf verfassungswidrige Propaganda (d.h. den Inhalt von Politik) bezogen. Beide hatten mit einer Gefahrenlage nichts zu tun.
„Man muss zwischen anstößigen Meinungen und wirklichen Gefahren unterscheiden“
5.
Eine restriktive Interpretation ist notwendig und möglich; ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, die zweite, bislang ausgeblendete Verbotsalternative einzubeziehen: Das illegale, gewalttätige „Verhalten“ der Parteianhänger (d.h. die Form von Politik). Auf diese Weise kann das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung“, das im KPD-Urteil praktisch folgenlos blieb, die ihm zugedachte limitierende Funktion bekommen (Einsatz illegaler Mittel).
6.
Die Instrumente der „streitbaren“ Demokratie laufen darauf hinaus, die Legalität politisch unerwünschten Handelns nachträglich zu entwerten: Unter Berufung auf die Legitimität einer „Grundordnung“. Diese deutsche Streitbarkeit ist ein Problem, das bis heute mit einer Errungenschaft verwechselt wird.
7.
Die herrschende Lehre von der „streitbaren Demokratie“ unterscheidet nicht zwischen anstößigen Meinungen und wirklichen Gefahren. Sie stellt einseitig auf Prävention und „Gefahrenvorsorge“ ab. Indem sie verfassungsfeindliches „Gedankengut“ ächtet, ist sie im Kern illiberal.
8.
Eine konzeptionelle Wende ist fällig: Aus ideologischem „Verfassungsschutz“ muss gefahrenbezogener Republikschutz werden.
9.
Das Gewaltkriterium ist der Dreh- und Angelpunkt einer rationalen Strategie für die Verteidigung der Demokratie: Es koppelt den Eingriff in die Parteienfreiheit an konkrete Gefahren – und markiert mit dem Rechtsbruch zugleich eine politisch neutrale Grenze.
10.
Eine praxisorientierte Verfassungsreform sollte klarstellen, dass Art. 21 Abs. 2 als einheitlicher Verbotstatbestand anzusehen ist: Nur solche Parteien sind „verfassungswidrig“, die nach ihren „Zielen“ und dem „Verhalten“ ihrer Anhänger die Grundordnung dieses Staates gefährden. Die Sanktionierung legaler Agitation und Propaganda wäre demnach ausgeschlossen (Schutz der Meinungsfreiheit).
11.
Das Verhältnis von Parteipolitik und Inlandsgeheimdienst ist reformbedürftig. Eine dauerhafte Beobachtung und Infiltration mit nachrichtendienstlichen Mitteln verletzt die Parteienfreiheit. Es sollte daher zeitlich begrenzt werden: Auf die Prüfphase unmittelbar vor einem eventuellen Verbotsantrag.
12.
Die heutige NPD ist konstitutionell unfähig, die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ dieses Staates zu „beeinträchtigen“ oder gar zu „beseitigen“. Soweit sie „darauf ausgeht“, handelt es sich um einen untauglichen Versuch. Ihre Gefährlichkeit wird kolportiert, entbehrt aber der tatsächlichen Grundlage. Es ist kein Zufall, dass der zweite Verbotsantrag des Bundesrats sich vor allem auf einige hundert Zitate stützt (303 „Belege“). Ihre Anleihen bei der Naziideologie (These von der „Wesensverwandtschaft“) machen die NPD – ganz im Gegensatz zur SRP – keineswegs zur Nachfolgeorganisation der NSDAP.
13.
Sonderrecht gegen neonazistische Parteien kennt das Grundgesetz ebenso wenig wie gegen neonazistische Meinungen. Mit der Kritik am Wunsiedelbeschluss des Verfassungsgerichts (Erster Senat) bleibt festzuhalten: Die Garantien der Verfassung gelten unterschiedslos und unverkürzt für alle politischen Richtungen – ohne Gesinnungsabschlag.
„Ein Verbot ist nur dann gerechtfertigt, wenn die betreffende Partei eine konkrete Gefahr für die Demokratie darstellt“
14.
Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes von 1949 ist ein Sammelbegriff aus dem Kalten Krieg – für das, „was wir von ‚früher‘ und von ‚drüben‘ als politische Ordnung unbedingt nicht wollen“ (Günter Dürig). Wer heute lieber eine andere, eine antinazistische „Grundordnung“ haben möchte, muss die öffentliche Debatte über eine entsprechende Verfassungsänderung führen.
15.
Dass man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießt, gilt auch für die Anwendung von Art. 21 II GG. Maßstäbe von Verhältnismäßigkeit sind auch und gerade bei der Ausschaltung „verfassungswidriger“ Parteien anzulegen. Nur so ist fallbezogen eine „praktische Konkordanz“ von Freiheitsgarantie und Verbotsmöglichkeit herzustellen. Der Rechtsstaat kennt keine Eingriffe ohne Maß.
16.
Gegen eine Partei, die keine militanten und klandestinen Strukturen aufweist, die bundesweit an der Fünfprozenthürde scheitert und die sich an die Spielregeln des Meinungskampfes hält (d.h., sich allgemein erlaubter Mittel bedient) – gegen eine solche Partei kommt ein Verbot nicht in Betracht. Eine Maßnahme, die offenkundig nicht erforderlich ist, kann nicht verhältnismäßig sein.
17.
Jedes deutsche Parteiverbot muss sich an den Standards messen lassen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt hat: Ein Verbot ist nur dann gerechtfertigt, wenn die betreffende Partei eine konkrete Gefahr für die Demokratie darstellt (Militanz oder Wahlerfolge).
18.
Im „Normalbetrieb“ gibt es gegen antidemokratische Parteien, mögen sie noch so provozierend auftreten, nur eine systemgerechte Waffe: Den freien politischen Wettbewerb und den Stimmzettel. Das wiederkehrende Urteil der Wähler ist vernichtender als eines von Richtern jemals sein könnte.
Eine weitere Lehre aus der Geschichte
Die Deutschen, die ihre Freiheit an das Hitlerregime einst weggaben oder verloren und später (aus verständlichen Gründen) nicht imstande waren, sie aus eigener Kraft zurückzuerobern, müssen lernen, die geschenkte Freiheit zu verteidigen: Mehr Demokratie wagen. Dass sich auch Radikale, „Extremisten“, Fanatiker und andere Wutbürger auf Grundrechte berufen können, gehört zum Wesen und Wert der Demokratie. Dem Generalvorbehalt der deutschen „inneren“ Sicherheit sei gesagt: Die Demokratie ist eine Verfassung der Freiheit; sie lebt mit, ja von den Risiken, die sie entbindet. Deshalb ist ein gewisses Betriebsrisiko auch kein Zufall, sondern systembedingt. Eine Verfassung „ist nun einmal keine politische Lebensversicherung“ (Horst Ehmke). Nur wer das „Restrisiko“ der Freiheit nicht scheut, nur wer ihren Preis zahlt, verdient sie.
Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#119 - I/2015) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.