05.04.2024
Vater Staat, seine Kinder und seine neue Frau
Von Boris Kotchoubey
Wenn das Volk seiner Regierung wie ein folgsames Kind oder wie ein pubertierender Jugendlicher begegnet, sind das beides keine erwachsenen Reaktionen.
Das Verhältnis zwischen Regierung und Volk wird oft mit dem Verhältnis zwischen Hirte und Herde verglichen. Dieser Vergleich ist aber schwierig nachzuvollziehen, weil niemand von uns ein Schaf war (zumindest nicht in diesem Leben, wenn man an Seelenwanderung glaubt).
Ein Kind war aber jeder von uns. Deshalb kann ich einen anderen häufigen Vergleich besser nachvollziehen: Das Verhältnis zwischen Regierung und Volk ist wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Das sagt uns schon die bekannte Metapher über den „Vater Staat“. Die Mutter war einst die Kirche, aber möglicherweise hat der Vater inzwischen eine andere Frau geheiratet. Zu dieser Dame kommen wir später noch.
Für ein Kind besitzen seine Eltern zwei wichtigste Eigenschaften. Zum einen haben sie eine große Macht über das Kind. Das Kind hängt von den Eltern vollständig ab, sie bestimmen sein Leben, sie setzen die Regeln, nach denen es lebt, sie erklären ihm, was gut und was schlecht ist, was es darf und was es muss. Zum anderen benutzen sie diese enorme Macht im Interesse des Kindes. Sie ernähren und bekleiden es. Sie kümmern sich ums Kind mehr als um sich selbst. Sie sind gegenüber dem Kind altruistisch, d.h. sie stellen eigene Interessen und Bedürfnisse zurück, um Interessen und Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Sie können sogar eigene Lebenspläne opfern, um bessere Bedingungen für das Kind zu erschaffen.
Und solange wir Kinder sind – viele bleiben es bis in den Tod – sind für uns diese zwei Eigenschaften miteinander verschmolzen. Sie sind ein und dasselbe. D.h., wenn jemand Macht hat, über mich herrscht, mein Leben bestimmt, dann nehme ich als Kind automatisch und mit Selbstverständlichkeit an, dass er sich auch um mich kümmert. Er weiß Bescheid, ich nicht. Die Politiker, die mir diktieren, wie ich leben soll, denken nicht an sich, sondern an mich. Sie interessieren sich nicht für ihre eigene Karriere, sondern ausschließlich für mein Wohl. Ihre eigenen Bedürfnisse vergessen sie, nur um meine Bedürfnisse zu stillen. Anderes ist einfach unvorstellbar, weil sie unsere Eltern sind, und wir sollen ihre braven und dankbaren Kinder sein.
„Immer mehr Menschen fühlen sich als Kinder des fürsorglichen Staates, der verspricht, uns alle glücklich zu machen.“
Daher auch die Allergie gegen Verschwörungstheorien. Als Verschwörungstheorie wird jede Andeutung dessen bezeichnet, dass unsere Eltern, sprich die regierenden Politiker, etwas zu ihren eigenen Gunsten und sogar vielleicht gegen uns Kinder vorhaben. Dieser Gedanke ist erschreckend, unerträglich. Er bedeutet Zusammenbruch unserer gesamten Welt. Denn wenn auf die da oben kein Verlass mehr ist, sind wir verloren. Ohne das grenzenlose Vertrauen darauf, dass wir stets in ihrer Obhut sind, sind wir Kinder nicht überlebensfähig.
Von den Hohenzollern bis Scholz
Diese Metapher ist mittelalterlicher Herkunft und war damals explizit und offensichtlich. Ein Feudalherrscher, etwa Graf oder Herzog, herrschte über seine Untertanen, zugleich aber schützte er sie. Aber schon gegen Ende des Mittelalters, am Anfang der Neuzeit, erwies sich dieses Konzept als hohl. Im 16. und 17. Jahrhundert herrschten die feudalen Landesherren weiterhin, die Steuer- und Abgabelast (das materielle Zeichen der Untertanentreue) nahm eher zu als ab, aber der landesväterliche Schutz war praktisch unwirksam. „Es handelte sich nur mehr um ein reines Ausbeutungsverhältnis. Die Distanz zwischen den Untertanen und den Fürsten wuchs von Generation zu Generation“1, schließlich wohnten viele Fürsten meistens in Großstädten wie Paris oder Wien und betrachteten ihre Länder eher als Jagdreviere. „Die gesamte Hausvatergebärde des absolutistischen Staates [entlarvte sich] als das, was sie in Wirklichkeit war: Die reine Ideologie zur moralischen Bindung der Untertanen an den Staat.“2
Im 18. Jahrhundert wurde dieses Missverhältnis offen angesprochen. In vielen Ländern des Westens verschwand die Metapher nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution fast vollständig. Nicht so in Deutschland. Man beachte das Vokabular, das der Fürst Konstantin von Hohenzollern-Hechingen in seiner Ansprache verwendete, als er im März 1848 die schon angefangene Revolution verhindern wollte: „Wir haben […] im treuen Wohlwollen für unsere geliebten Untertanen und in landesväterlichen Berücksichtigung ihrer dermaligen gedrückten Verhältnisse, Uns entschlossen, ihnen [bestimmte Arten von Abgaben] gnädigst nachzulassen, unter der Voraussetzung jedoch, dass dieselben mit treuer Liebe und Dankbarkeit allen anderweitigen Schuldbarkeiten stets nachkommen werden.“ Es war schon die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Aber es kam noch schlimmer. Die Untertanen der früheren Jahrhunderte waren der Notwendigkeit des gegenseitigen Treueverhältnisses bewusst und daher bereit zum Widerstand, falls der „Vater“ sich seinen elterlichen Pflichten entzog. Eine lange Reihe von Bauernaufständen und bürgerlichen Auflehnungen bezeugt diese Bereitschaft. Nach der Revolution von 1848 mit dem darauffolgenden Aufstieg Preußens entstand ein neuer Typ, der uns am besten aus dem Roman von Heinrich Mann bekannt ist: Eine einseitige Unterordnung unter den mächtigen Vater Staat, indem der „Untertan“ seinen früheren Anspruch auf eigene Rechte nunmehr in einer bedingungslosen Dankbarkeit gegenüber dem Herrscher auflöst. Die oben zitierte väterliche Ansprache des hohenzollerschen Fürsten wirkt dabei wie die gymnasiale Oberstufe im Vergleich zur Kita-Sprache von Olaf Scholz.
Die vielbesprochene „antiautoritäre Erziehung“ vermag schon deshalb an dieser Einstellung nichts zu rühren, weil die Lehre der „antiautoritären Erzieher“ nicht darin bestand, dass man keiner Autorität folgen sollte, sondern darin, dass man statt den alten falschen Autoritäten nun nur noch der Autorität der antiautoritären Erzieher folgen sollte. Das Motto war: „Glaub keiner Autorität – glaub mir!“ Über die Mechanismen der fortschreitenden Infantilisierung kann man viel diskutieren, aber das Ergebnis steht fest: Immer mehr Menschen fühlen sich als Kinder des fürsorglichen Staates, der verspricht, uns alle glücklich zu machen.
In der Pubertät
Aber natürlich stecken nicht alle in unserer Gesellschaft bis zum Rentenalter im Kindesalter fest. Was passiert mit den anderen?
Das Wachstum des Menschen unterscheidet sich von dem aller anderen Wirbeltiere in einer wichtigen Hinsicht Der Mensch wird wie alle Wirbeltiere klein geboren, wächst in den ersten Monaten und Jahren sehr schnell, dann langsamer und langsamer. Im Gegensatz zu seinen biologischen Verwandten beschleunigt sich aber sein körperliches Wachstum plötzlich wieder. Erst dann wird es zum zweiten Mal langsamer, bis der Mensch seine erwachsene Körpergröße erreicht.
Diese zweite Phase des beschleunigten Wachstums, die es nur bei Menschen gibt, ist die Pubertät. Wenn also der Mensch das Kindesalter verlässt, wird er nicht gleich erwachsen, sondern zuerst ein Heranwachsender, ein Teenager. Psychologisch ist für diese Altersstufe typisch, dass Menschen jetzt alles verneinen, was sie gerade noch als Kinder alles bejaht haben. Das Negationsprinzip lautet: Ob Sonne oder Regen, ich bin dagegen. Kinder akzeptieren unkritisch alles, was ihnen die Eltern gesagt haben; Teenager lehnen genauso unkritisch alles ab, was ihnen die Eltern sagen. Kinder glauben an jedes Narrativ, das ihnen in der Familie erzählt wird; Teenager sind oft bereit, an jedes Narrativ zu glauben, das ihnen Fremde erzählen – Hauptsache, es ist anders, es unterscheidet sich möglichst radikal von Narrativ zu Hause. Hauptsache was Neues, was Alternatives. Pubertät ist die Suche nach Alternativen.
„Den Preis falscher Alternativen einer pubertierenden Gesellschaft kennen wir nicht nur aus der persönlichen, sondern auch aus der politischen Geschichte.“
Aus der persönlichen Geschichte wissen wir, wie wichtig diese Phase, die Phase der Negation für die Emanzipierung, Trennung vom Gewöhnlichen, Überwindung der Familienmythen ist. In diesem Alter endet die Alternativlosigkeit der Kindheit, eine Breite von Optionen öffnet sich dem jungen Menschen. Aber wir wissen ebenfalls, dass oft die Teenager, die die Lüge und Philisterei der eigenen Familie erkannt haben, die Enttäuschten, die aus diesem Grund Verzweifelten, die totale Ablehnung ihrer familiären Werte nicht aushalten können, fieberhaft nach jeder Möglichkeit suchen, solange sie anders ist. Solche Jugendlichen gehen – ich mag dieses Wort nicht, finde aber kein besseres – aller Art Rattenfänger auf den Leim, die ihre Enttäuschung und Verzweiflung ausnutzen. Sie geraten in die Drogenszene, ins kriminelle Milieu. Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton sagte: Wenn man aufhört an Gott zu glauben, fängt man nicht an, an nichts zu glauben, sondern man fängt an, an alles Mögliche zu glauben.3 Wenn wir aufhören, an die Lebenslügen unserer Eltern zu glauben, bedeutet es noch nicht, dass wir selbständig denken können; oft bedeutet es, dass wir anfangen, an alles Mögliche zu glauben. Eine falsch gewählte Alternative kann das ganze Leben zerstören.
Den Preis falscher Alternativen einer pubertierenden Gesellschaft kennen wir nicht nur aus der persönlichen, sondern auch aus der politischen Geschichte. In den 1930er Jahren waren im Westen Tausende Menschen mit höchstem Bildungsstand davon überzeugt, dass nur der russische Kommunismus eine wahre Alternative den europäischen autoritären Diktaturen und primär dem Nationalsozialismus sei. Natürlich lügt die nationalsozialistische Propaganda – sagten sie – wenn sie uns über die angebliche Hungersnot, über Millionen Hungertote, über die Massenerschießungen in Sowjetrussland erzählt. In Wahrheit sind sowjetische Bauern satt und glücklich, sie preisen den weisen Führer Putin – Pardon, Stalin! - und besingen ihre Freiheit, und wenn auch ein paar Menschen erschossen wurden, dann waren sie bestimmt Feinde des Proletariats und gemeine Agenten des westlichen Imperialismus, die kein besseres Schicksal verdient haben. Viele sind mit diesen Gedanken in die UdSSR ausgewandert, um dem Kommunismus in seinem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zu helfen – sehr wenige haben überlebt.
Welche Alternativen?
Viele Menschen, die heute kritisch gegenüber der gegenwärtigen Entwicklung der deutschen Parteidemokratie eingestellt sind, bleiben bei der Kritik, entwickeln aber keine positive Alternative. Und wenn Alternativen doch zur Sprache kommen, dann sind es z.B.
- die asiatische Despotie eines Putin, eine Mischung aus Theokratie und Kleptokratie, mit Kinderwagen in Form von Panzern, mit Militärparaden in den Grundschulen, mit christlichem Segen für Atom-U-Boote und strategische Bomber4 und mit einer Gesellschaft, die nur zwei biologische Geschlechter kennt: Soldaten (einst „Männer“ genannt) und Soldatengebärmaschinen (frühere Bezeichnung: „Frauen“),
- die chinesische Effizienz, ihre Disziplin der Angst, ihre Hochhäuser und Hochgeschwindigkeitszüge, ihre Überwachung und gewaltsame Umerziehung,
- der primitive Kommunismus der Urvölker, wo es keine Reichen und schon sowieso keine Superreichen gibt, wo alle gleich sind, wo es keinen Platz für Egoismus gibt, weil Egoismus von Ego = Ich kommt, aber bei uns, wie ein bolivianischer Minister mal gesagt hat, existiere kein Ich, sondern nur Wir,
- oder der Personenkult einer (ehemaligen?) Stalinistin.
All diese Alternativen sind kollektivistisch, alle sind totalitär, alle sind untauglich.
Ein Erwachsener denkt vielmehr an die Alternativen, die aus der Tiefe der eigenen Zivilisationsgeschichte entstehen, aus der eigenen Wertebasis, nicht aus Exotik. Jesus war ein scharfer Kritiker der damaligen jüdischen Gesellschaft, die damaligen Oberen überzog er mit den schlimmsten Beschimpfungen – und dann sagte er aber: Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um es aufzuheben, sondern um es zu erfüllen.
Martin Luther war der schärfste Kritiker der kirchlichen Autoritäten. Tausend Jahre lang gab es keine höhere Autorität in Europa als den Papst und die katholischen Bischöfe, und auf einmal sagte Luther: Sie sind alle Lügner und Kinder des Teufels. Zugleich sagte er aber: Neben dieser Lüge ist auch die Wahrheit, und die Wahrheit ist die Bibel. Er hat nicht nur die Lüge der katholischen Kirche entlarvt, sondern ihr ein positives Ideal gegenübergestellt: die Heilige Schrift. Daraus entstand der erwachsene lutherische Protestantismus, und nicht etwa ein jugendliches Protestieren.
„Der Staat hat, ohne die Scheidung von seiner Gattin, der Kirche, standesamtlich abgewickelt zu haben, bereits eine neue Lebensabschnittspartnerin genommen, nämlich die Wissenschaft.“
Wäre Jesus ein Teenager, so hätte er rufen können: Machen wir uns zu Römern! Wozu brauchen wir unser Judentum, wenn uns das Judentum zur Herrschaft der Pharisäer und Sadduzäer geführt hat? Beten wir dann lieber Jupiter und Venus an! Schau mal, wie effizient die römische Zivilisation ist, wie schnell und zuverlässig bauen sie ihre Aquädukte und ihre Bäder. Wäre Luther ein Heranwachsender, würde er vielleicht sagen: Die Kirche lügt, also wenden wir uns dem Glauben der Türken hin! Schau mal, wie einwandfrei die osmanische Verwaltung funktioniert: Selbst wenn der mächtigste Pascha nur einen Fehler begeht, sofort ist sein Kopf weg, nicht wie bei uns in Deutschland, wo jeder Lokalfürst schalten und walten kann wie er will. (Und das ist kein Witz: In der Tat war das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert ungefähr so viel effizienter als die europäischen Länder, wie es heute China ist.)
Auch Karl Marx, hätte er als Jugendlicher gegen den Kapitalismus protestiert, so hätte er vielleicht gesagt: Die Ausbeutung des Proletariats im Manchesterkapitalismus ist so schlimm, dann lieber schon das Leben der russischen Leibeigenen und der Sklaven muslimischer Länder. Aber auch er war ein erwachsener Kritiker seiner Zeit, wie Jesus und Luther, und er hat den kapitalistischen Missständen keine fremde Kultur gegenübergestellt, sondern das Konzept des sozialen Fortschritts auf der Basis der eigenen Werte, der eigenen Zivilisationsgeschichte des Westens.
Und wenn wir schon beim Erwachsenwerden sind, so müssen wir natürlich den Mann nennen, der am deutlichsten die politische Mündigkeit mit dem Erwachsenenstatus verbunden hat: Immanuel Kant. In seiner berühmten Definition ist die Aufklärung der Ausstieg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, d.h. die Überwindung sowohl des Kleinkindes als auch des Teenagers in einem selbst. „Sapere aude“ – habe Mut, deine eigene Vernunft zu benutzen!
Stiefmutter Wissenschaft
Aber hier erscheint ein neues Hindernis, an das der alte Königsberger nicht gedacht hat. Wir haben schon oben erwähnt, dass des Vaters Familienleben komplizierter geworden ist, und dass er, der Staat, ohne die Scheidung von seiner Gattin, der Kirche, standesamtlich abgewickelt zu haben, bereits eine neue Lebensabschnittspartnerin genommen hat, nämlich die Wissenschaft. Und diese Dame sagt nun dem Menschen: Wozu brauchst du doch deine eigene Vernunft? Die Vernunft bin ich! Ich zeige dir, wo es lang geht, was du tun und lassen sollst, denn ich weiß alles. Und wenn deine Vernunft meinem universalen Wissen widerspricht, so ist deine Vernunft antiwissenschaftlich, also unvernünftig.
So hat die junge und schöne Schwiegermutter die elterliche Rolle übernommen und versucht, das Leben des Menschen auf die richtige wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Im 20. Jahrhundert entwickelte sie zwei Konzepte davon, wie glücklich der Mensch sein soll, wenn er auf die eigene Vernunft zugunsten der allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Wahrheiten verzichtet. Das eine Konzept war der wissenschaftliche Sozialismus nach Marx und Lenin, und das andere die Eugenik. Der Versuch, die menschliche Geschichte auf der festen Basis der sozialwissenschaftlichen Theorien neu zu bauen, hat zu millionenfachen Morden v.a. in der UdSSR, in China und Kambodscha geführt; der parallele Versuch, die Gesellschaft in Einklang mit fest geglaubten Wahrheiten der Rassenbiologie zu bringen, endete in Hunderttausenden Zwangssterilisationen in demokratischen Ländern wie den USA, der Schweiz, Kanada und Schweden – und schließlich im Massenmord an Juden, Zigeunern und chronisch kranken Menschen im nationalsozialistischen Deutschland. Die beiden Ideen schlossen sich nicht aus: Einige überzeugte Eugeniker waren auch überzeugte Stalinisten.5 Soweit zum Slogan „follow the science!“
„Die soziale Ingenieurskunst ist jetzt zur größten Barriere auf dem Weg zur menschlichen Reife geworden.“
Jetzt sagt uns aber die Wissenschaft: Ja, es tut ihr sehr leid, aber Fehler passieren halt, macht aber nichts, nächstes Mal klappt es bestimmt besser. Damals, in der Epoche der nationalen und internationalen Sozialismen, habe ich, die Wissenschaft, keine leistungsfähigen Computer gehabt, ich musste mit Abakus, Papier und Bleistift rechnen; deshalb die Irrungen. Die totale Planung des menschlichen Lebens ging nur deshalb schief, weil zu grob kalkuliert wurde, ohne notwendige Einzelheiten. Jetzt ist aber die Sache anders, wir können jetzt diese wissenschaftsfeindlichen Viecher – nämlich erwachsene Menschen – mit voller Genauigkeit berechnen, programmieren, algorithmisieren, und in wenigen Minuten erhalten wir den exakten Plan einer absolut gerechten und glücklichen Gesellschaft. Und der Mensch kann nun in unseren schönen Plan kein Chaos mehr einbringen, weil wir überall Überwachungskameras aufstellen und jedem ein Gadget geben, so dass wir jede Bewegung jedes Einzelnen verfolgen können.
Wir, die Wissenschaftler, können schon jetzt genau kalkulieren, wie viel Proteine der Mensch konsumieren soll, und in welcher Form: als Fleisch, Fisch, Soja oder lieber Kakerlaken; wie viel Energie er braucht und zu welcher Tageszeit; wie viele Kilometer sich der Mensch von seinem Haus entfernen darf – und bitteschön, keinen Meter weiter; und wenn sich der Mensch schon bewegen muss, wissen wir genau, welche Verkehrsmittel er dabei benutzen darf und welche nicht. Und das Wichtigste: Unsere Computersimulationen geben uns jetzt die Möglichkeit, dem Menschen zu sagen, was gut und was böse ist. Denn er selbst kann nur mit seiner individuellen und beschränkten Vernunft einsehen, was gut und böse für ihn selbst ist, während die absolute Vernunft der Wissenschaft stets das absolute Gute für das große Ganze, für den Planeten, für die gesamte Menschheit, für künftige Generationen im Auge behält.
So entstand die soziale Ingenieurskunst als Bug des technischen Fortschrittes. Sie ist jetzt zur größten Barriere auf dem Weg zur menschlichen Reife geworden. Sie drang in unsere Gehirne so tief ein, dass keine reale Lebenserfahrung sie daraus verdrängen kann. Viele können es sich nicht vorstellen, dass Licht und Wasser in unsere Häuser auch ohne staatliche Planung geliefert werden können, dass wir Zuwendungen, Investitionen und Subventionen nicht vom Staat bekommen, sondern von unseren Mitmenschen, die diese Gelder erwirtschaften, damit der Staat sie umverteilt und für den Lauf der Umverteilungsmaschine vergeudet.
Mut fassen
Aber die reale Wissenschaft, die ihre Theorien und Modelle an die Erfahrung anpasst und nicht andersrum, die den tatsächlichen Menschen erforscht und nicht sein mechanisches Schema, und die nicht von „gegenwärtigen Stand der Wissenschaft“ redet, weil die reale Wissenschaft niemals stehen bleibt – diese Wissenschaft weiß, dass der Mensch nicht berechnet und verplant werden kann. Sein Verhalten kann nicht in einem Programm als einer der vielen Parameter berücksichtigt werden, neben Naturressourcen, Verkehrsmitteln und v.a. Den Menschen an die wunderschönen hochtechnologischen Projekte anzupassen ist nicht möglich. Möglich ist allerdings, ihn durch diese Projekte zu entmenschlichen und ihn in ein technisches Mittel verwandeln. Aber in dieser Funktion ist er ineffizient und im Grunde überflüssig.
„Infantilisierung und ‚Pubertisierung‘ der Gesellschaft werden heute nicht nur vom fürsorglichen Staat, sondern v.a. von den Wissenschaftspriestern betrieben.“
Der mündige Mensch kann natürlich auch von der realen Wissenschaft untersucht werden – als ein unvorhersagbares Element. In seiner kreativen Freiheit zerstört er routinierte Ordnung und schafft Neues, nie Dagewesenes. Das Motiv seiner Kreativität ist ganz einfach sein Egoismus, d.h. der Wunsch, sich selbst und seine Nachkommen zu bereichern. Sobald er die Möglichkeit dafür hat, kann er aus der Vergangenheit in die Zukunft vorrücken. Dann baut er eine bessere Zukunft. Und wenn Millionen Menschen diese Möglichkeit bekommen, bauen sie eine bessere Zukunft für die ganze Menschheit.
Was tun? Infantilisierung und ‚Pubertisierung‘ der Gesellschaft werden heute nicht nur vom fürsorglichen Staat, sondern v.a. von den Wissenschaftspriestern betrieben. Ein Erwachsener sollte diese Einflüsse überwinden und, nach Kant, Mut fassen, die eigene Vernunft zu benutzen. Damit wird er frei und unabhängig von einem zentralisierten planenden Willen. Dieser freie Mensch ist auch frei zu irren und sogar frei, Böses zu tun. Das ist der notwendige Preis für das vollwertige menschenwürdige Dasein, in dem das Gegengewicht zum bösen Willen nur der Wille des Einzelnen zum Erhalt seines Wohlstandes sowie die horizontalen sozialen Verbindungen, die aus diesem Willen hervortreten, sein kann. Eine andere „bessere Zukunft“ kann es nicht geben. Ein Plan, in den der Mensch eingetragen wird als eine produzierende und konsumierende Komponente, wird nie funktionieren, denn kein Projekt ist realisierbar, das Naturgesetzen widerspricht.