27.08.2015
Unterstützt durch westliche Opferkultur
Essay von Frank Furedi
Der Westen zerbricht sich den Kopf darüber, warum sich hier lebende Muslime entscheiden, für den Islamischen Staat in den Krieg zu ziehen. Das ist kein Wunder. Die westliche Identitätspolitik ist der Treibstoff des modernen Dschihadismus.
„Demokratie ist eine Lüge“ und „Die Briten können sich ihre Demokratie in den Hintern schieben“ – Diese Sätze schockieren mich. Sie stammen von einem jungen muslimischen Studenten, der erst vor Kurzem seinen Abschluss in Informatik gemacht hat. Als er mein Unbehagen bemerkt, wirft er mir einen naiven Glauben an die Idee der Freiheit vor. Aus seiner Sicht hat Freiheit keinen anderen Wert, als Muslime davon abzuhalten, ihre religiösen Pflichten auszuüben. „Die Wahlfreiheit ist ein Schwindel“, behauptet er selbstbewusst. Wie eine bedeutende Minderheit gut ausgebildeter junger Muslime glaubt er, dass die liberale Demokratie und ihre Institutionen nur verwirren und verderben.
Diese unbekümmerte und saloppe Art, mit der sich in westlichen Staaten geborene Muslime gegen die Ideale der Freiheit und Demokratie auflehnen, ist Zeugnis einer politischen und moralischen Kluft, die sie von jenen Gesellschaften trennt, in welchen sie geboren wurden. Sie lehnen nicht nur die Demokratie ab; am liebsten würden sie das Rad der Zeit zurückdrehen.
Freiheit als „Gehirnwäsche“
Eine Pressemitteilung griff die Verachtung von Freiheit und Demokratie im Auftrag der Mannans auf. Das ist eine zwölfköpfige, britische Familie, die Anfang des Sommers nach Syrien reiste, um sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Unter dem Titel „Von der Familie Mannan im Land des Kalifats“ wurde bekanntgegeben, die Mannans hätten sich freiwillig für ein Leben in der Theokratie entschieden, die sie einem Land vorziehen, in dem ein „menschengemachtes Recht“ herrsche.
Laut der Pressemitteilung sind die Mannans nun „von der Verderbnis und Unterdrückung des menschengemachten Rechts befreit.“ Das impliziert, dass Institutionen, die von den Gesetzen Allahs abweichen, eine moralisch korrumpierende Wirkung auf strenggläubige Anhänger des Islams hätten. Aus dieser Perspektive ist das „menschengemachte“, säkulare Recht eine Form moralischer Kontamination. Aus diesem Grund hätten die Mannans entschieden, sich von der „sogenannten Freiheit und Demokratie, die Muslimen durch Gehirnwäsche aufgezwängt werden sollen, damit wir unsere mächtige und glorreiche Vergangenheit und jetzige Gegenwart vergessen“, abzuwenden.
Die Behauptung, Freiheit und Demokratie seien Werte, die man anderen Menschen aufzwingen müsse, mag viele überraschen. Demnach sind säkulare und humanistische Werte und Institutionen so unnatürlich, dass kein gläubiger Muslim sie willentlich annehmen könnte. Solche Meinungen werden regelmäßig von radikalen dschihadistischen Publikationen wie dem IS-Hochglanzmagazin Dabiq und dem Inspire von Al-Qaida vertreten – beide verbreiten sich rasant durch das Internet. Es gibt Hinweise, dass die Perspektiven, die durch diese und andere Kanäle verbreitet werden, auf eine nicht unerhebliche Minderheit der Muslime Einfluss ausüben, die in westlichen Gesellschaften leben.
„Die radikalen Ideen des Dschihadismus haben Eingang in die britische Bevölkerung gefunden“
Eine am ersten Juliwochenende durchgeführte Umfrage vom Meinungsforschungsinstitut ICM Research, die über 2000 britische Erwachsene erreichte, kam zu dem Ergebnis, dass neun Prozent der Befragten den IS in einem positiven Licht sehen. Drei Prozent bewerten den IS „sehr positiv“, sechs Prozent „eher positiv“. Trotz der zahlreichen Gräueltaten, die durch die Medien gingen, nahm die Anzahl derer, die den IS positiv bewerten, um zwei Prozentpunkte im Vergleich zum letzten Jahr zu.
Die Bedeutung von Umfragen zur öffentlichen Meinung ist immer schwer zu interpretieren. Dennoch suggeriert die Umfrage von ICM, dass ein signifikanter Anteil der britischen Muslime für einige Ideen des IS Sympathien haben könnte. Beim Großteil handelt es sich dabei um passive Sympathisanten, die nicht ernsthaft darüber nachdenken, den Mannans in den Mittleren Osten zu folgen. Diese Sympathien und Einstellungen zeugen jedoch davon, dass die radikalen Ideen des Dschihadismus Eingang in die britische Bevölkerung gefunden haben. Zumindest kann man sagen, dass die Umfrage die Alltagsfrustration und Ressentiments einer beträchtlichen Gruppe gegenüber der Welt und vor allem gegenüber dem Westen seitens britischer Muslime aufdeckt, die sich in einer befürwortenden Haltung gegenüber dem IS ausdrücken.
Moral schlägt säkulare Politik
Eine bemerkenswerte Besonderheit der dschihadistischen Propaganda liegt darin, dass der Schwerpunkt auf der Diskreditierung des Ethos und der Werte der Demokratie – nicht der liberalen Demokratie, sondern der Demokratie im Allgemeinen – liegt. In dieser Hinsicht handelt es sich um eine der wenigen modernen politischen Bewegungen, die explizit die Grundlage säkularer Politik ablehnen. Man sollte nicht vergessen, dass sogar die Nazis, die die parlamentarische Demokratie verteufelten, manchmal von einer „Germanischen Demokratie“ sprachen, wenn es um ihre Ziele ging. Hitler nannte den Nationalsozialismus die einzige tatsächliche Umsetzung der Demokratie. Dagegen lehnt die politische Theorie des IS alle Formen der Demokratie als unmoralisch ab.
Die Propaganda des IS fasst den Westen nicht bloß als etwas Schlechtes auf; er wird als böse abgelehnt. Durch eine moralisch polarisierende Rhetorik, eine Rhetorik, welche die Unterschiede zwischen dem IS und dem Westen zuspitzt, versucht er, sich möglichst klar vom Westen zu distanzieren. Aus Sicht des IS sind die Werte des Islams unmöglich mit denen einer Demokratie vereinbar. Die größte Bedrohung, die von einer säkularen Gesellschaft für einen im Westen lebenden Muslim ausgeht, ist vor allem eine moralische. Ein weit verbreitetes Zitat, das im Namen der Mannans verbreitet wird, besagt, dass Eltern im Kalifat „keine Angst haben müssen, dass ihre Kinder der Unmoral der Gesellschaft verfallen.“ Die Implikation ist klar: Westliche Gesellschaften üben einen moralisch korrumpierenden Einfluss auf die muslimischen Bürger aus.
„Die westlichen Regierungen versuchen, politische Antworten auf moralische Fragen zu geben“
Die dschihadistische Propaganda bezeichnet ihre Feinde regelmäßig als „Kreuzritter“. Viel besser eignet sich dieser Terminus jedoch zur Beschreibung der moralischen Kreuzritter des IS und anderer Dschihadisten-Gruppen, die einen Krieg gegen den Lebensstil ihrer Gegner führen. Aus ihrer Sicht gibt es keine moralische Gleichwertigkeit zwischen den Frommen und den Sündern. Folglich geht es der IS-Propaganda nicht nur um eine Verurteilung, sondern um eine Entmenschlichung der „dreckigen Ungläubigen“. Das Islamisten-Magazin Dabiq behauptet, es sei legitim und islamisch, ungläubige Frauen gefangen zu nehmen und sie zu zwingen, Sex-Sklavinnen zu werden.
Ein Grund, warum es westlichen Regierungen schwerfällt, dem dschihadistischen Einfluss auf Teile der muslimischen Bevölkerung entgegenzuwirken, besteht darin, dass man versucht, auf moralische mit politischen Argumenten zu antworten. Politische Argumente über die Vorzüge der Demokratie zeigen jedoch nur selten Wirkung, wenn man moralische Bedenken über die zersetzenden Wirkungen des westlichen Lebensstils auf Muslime entkräften möchte. Die Sprache von Gut und Böse erscheint überzeugender als Argumente, die auf säkularem Denken beruhen. Bis westliche Gesellschaften in der Lage sind, ihre eigene moralische Vision eines guten Lebens zu artikulieren, werden sie sich schwer tun, den Einfluss der dschihadistischen politischen Theologie auf deren Zielgruppe einzudämmen.
Die Uhr zurückdrehen
Auf den ersten Blick erscheint es schwierig, den wachsenden Einfluss radikaler dschihadistischer Empfindungen auf junge Muslime in westlichen Gesellschaften zu erklären. Im Jahr 2001 habe ich mich mit muslimischen Schülern über ihre Meinung vom Leben in Großbritannien unterhalten. Viele von ihnen sprachen in einem verbitterten und, in manchen Fällen, hasserfüllten Ton. In den frühen 2000er-Jahren waren ihre Antworten durch Enttäuschung und Desillusionierung geprägt. Ihre Kritik richtete sich nicht gegen das „menschengemachte Recht“ oder die Demokratie, sondern gegen das Unvermögen der Gesellschaft, ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.
Das war damals. Seit dem Jahr 2001 hat sich die Einstellung junger Muslime zu ihrer Gesellschaft nicht nur verhärtet, sie hat sich auch in ihrem Charakter verändert. Viele wollen nicht mehr, dass sich die Gesellschaft ihrer Klagen annimmt. Sie wollen stattdessen in ihrem eigenen moralischen Universum leben. Es gibt viele Gründe für diesen radikalen Gesinnungswandel. Der militärische Erfolg radikaler Dschihadisten-Milizen in vielen Teilen der Welt hat den Eindruck erzeugt, der Westen habe seinen Meister gefunden. Für viele Muslime ist der Erfolg der dschihadistischen Kräfte etwas, worauf man stolz sein kann. Geschichten darüber, wie Einzelne oder eine Gruppe von „Kämpfern“ – wie die Attentäter von Boston – eine so große Angst erzeugen können, haben eine ungeheure Auswirkung auf junge Männer und Frauen auf der Suche nach einem Helden.
Sakralisierung der Opferrolle
Der größte Antrieb des dschihadistischen Einflusses im Westen ist allerdings die Sakralisierung der Opferrolle. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Opfer einen Quasi-Heiligenstatus erreicht. Es findet ein Wettbewerb darum statt, wem dieser Status gebührt, und Unglück wird häufig durch das Opferglas betrachtet. Vom Mobbingopfer bis zum Opfer eines Herzinfarkts, die Vielfalt der Opferrollen breitet sich gegenwärtig immer weiter aus. Zufälligerweise ist eines der mächtigsten Themen der radikalen dschihadistischen Propaganda die Opferrolle des Islams als Folge westlicher Aggression. Die Dschihadisten versuchen, quasi jedes lokale und globale Unglück, das Muslime heimsucht, auf einen andauernden Krieg zurückzuführen, der durch westliche Kreuzritter verursacht wird.
„Dschihadistische Ideologie und westlicher Opferkult – beides legitimiert die IS-Barbarei“
Die dschihadistischen Medien stellen die schwierige Lage, in der sich Muslime befinden, als Fantasie ewigen Opfertums dar. Aus dieser Perspektive kann jedes Verhalten, das nicht mit der Weltanschauung der dschihadistischen Theologie vereinbar ist, als Schikane verstanden werden – als eine Beleidigung des Islams. Die bloße Existenz eines Lebensstils, welcher der vom IS vorgeschriebenen Art zu leben widerspricht, ist eine Provokation, eine Schikane, und aus diesem Grund eine Beleidigung des Islams. In einem solchen Fall wird die Reaktion auf eine Provokation durch die dschihadistische Ideologie ebenso motiviert wie durch den westlichen Opferkult.
Äußerlich scheint die politische Theologie des IS ein Rückfall in mittelalterliche Barbarei zu sein. Sie ist jedoch weit mehr als das. Ihr Anspruch, das goldene Zeitalter des Islams wieder herzustellen, findet oft in einer Rhetorik Ausdruck, die der palästinensische Kulturtheoretiker Edward Said einmal als „scheinheilige Frömmigkeit einer historischen oder kulturellen Opferrolle“ beschrieb. Diese Rhetorik ähnelt in erschreckendem Maße der westlichen Identitätspolitik. Durch den Kult der Heiligsprechung der Opfer stößt das dschihadistische Narrativ der ewigen Schädigung zumindest in westlichen Gesellschaften auf kulturelle Bestätigung. Es stellt sich die Frage, ob die Auswanderungswelle nach Syrien vielleicht nicht ebenso ein Produkt der gegenwärtigen westlichen Kultur wie des traditionellen Islams ist. Bis säkulare Gesellschaften die moralische und kulturelle Dynamik verstehen, die manche ihrer Bürger dazu verleitet, ihre Lebensweise aufzugeben, werden sie niemals in der Lage sein, der Anziehungskraft entgegenzuwirken, den die dschihadistische politische Theologie auf Menschen wie die Mannans ausübt.