20.04.2012

Der letzte Kreuzzug

Essay von Kenan Malik

Das Christentum ist nicht die alleinige Grundlage der westlichen Zivilisation . Die Geschichte ist viel komplexer. Deshalb sollten wir uns auf die universell gültigen Werte der Aufklärung berufen

Dem verwirrten Geist des Anders Breivik erschien sein mörderischer Amoklauf in Oslo und Utøya in diesem Jahr als Auftakt eines Krieges zur Verteidigung des christlichen Europa. Dabei gehe es nicht um einen religiösen, sondern um einen kulturellen Krieg zur Verteidigung der von Breivik so bezeichneten „kulturellen, sozialen, identitätsbezogenen und moralischen Plattform“ Europas. Für den mörderischen Wahn eines Breivik haben natürlich nur die schlimmsten Psychopathen Verständnis. Weitgehend anerkannt sind demgegenüber die Vorstellungen, denen zufolge das Christentum die Grundlage der westlichen Zivilisation, ihrer politischen Ideale und ihrer ethischen Werte und das christliche Europa einerseits durch den Islam und andererseits durch „Kulturmarxisten“ bedroht sei. Aus dieser Perspektive führt der Untergang des Christentums unweigerlich zum Untergang der westlichen Zivilisation und der modernen freiheitlichen Demokratie.

Es wird zwar oft behauptet, es drohe eine „muslimische Übernahme“ Europas, aber diese Behauptung ist auch starken Einwänden ausgesetzt. Die Auffassung, das Christentum bilde die kulturelle und moralische Grundlage der westlichen Zivilisation, gilt dennoch weitgehend als quasi selbstverständlich – und zwar nicht nur bei den Gläubigen. Die italienische Schriftstellerin Oriana Fallaci ist die wohl stärkste Befürworterin der Idee, Europa werde durch den Islam arabisiert. Sie bezeichnet sich zwar als „christliche Atheistin“, behauptet aber trotzdem, das Christentum sei Europas einziges kulturelles und intellektuelles Bollwerk gegen den Islam. Der britische Historiker Niall Ferguson nennt sich selbst einen „unheilbaren Atheisten“ und sieht dennoch einen alarmierenden Niedergang des Christentums jeden „religiösen Widerstand“ gegen den radikalen Islam untergraben. Die keineswegs gläubige Jüdin Melanie Phillips schreibt in ihrem Buch The World Turned Upside Down, das Christentum sei „den offenen und anhaltenden kulturellen Angriffen derjenigen ausgesetzt, die die Wertgrundlage der westlichen Zivilisation zerstören wollen.“

Natürlich war das Christentum in den letzten zweitausend Jahren der Schmelztiegel der Entwicklung der intellektuellen und politischen Kulturen Westeuropas. Wenn aber behauptet wird, das Christentum sei die „Wertgrundlage der westlichen Zivilisation“ und die Schwächung des Christentums führe unvermeidlich zur Schwächung der freiheitlich-demokratischen Werte, so ist das nicht nur eine erhebliche Simplifizierung der Geschichte des Christentums, sondern auch der Ursprünge der modernen Demokratie – ganz zu schweigen davon, dass so die zwischen „christlichen“ und „liberalen“ Werten immer wieder auftretenden Spannungen unter den Teppich gekehrt werden.

Zwar hat das Christentum eine erkennbar eigene ethische Tradition hervorgebracht, aber wie bei den meisten Religionen entstammen seine maßgeblichen Ideen den Kulturen, auf deren Boden es sich entwickelt hat. Im Frühchristentum verband sich das Denken der griechischen Antike mit dem des Judentums. Die wenigsten der von uns als christlich verstandenen Ideen sind tatsächlich ursprünglich christlich. Das lässt sich schon am wohl einflussreichsten ethischen Text des Christentums zeigen – der Bergpredigt. Die von Jesus in der Predigt entworfene moralische Perspektive war bereits bekannt. Die Goldene Regel – „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ – hat eine lange Geschichte. Hinweise auf diese Idee finden sich bereits in den religiösen Kodizes der Babylonier und Ägypter; in griechischen und jüdischen Schriften kam sie dann zu voller Blüte (und unabhängig davon war sie auch bereits im Konfuzianismus aufgetaucht). Das Bestehen auf der Tugend als dem an sich Guten, das Gebot des Hinhaltens auch der anderen Backe, das Gebot der Behandlung des Fremden als Bruder und die Vorstellung, der richtige Glaube sei mindestens ebenso wichtig wie das tugendhafte Handeln – all diese Themen waren bereits in der stoischen Tradition des antiken Griechenlands von großer Bedeutung.

Der wohl am deutlichsten spezifisch christliche Beitrag zur westlichen Tradition ist zugleich wohl auch als eher negativ zu bewerten: die Idee der Erbsünde – Adam und Eva haben die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen, was einen Ungehorsam gegenüber Gott bedeutet, durch den nunmehr alle Menschen vorbelastet sind. Diese Legende begründete eine düstere Einschätzung des menschlichen Wesens. Laut christlicher Tradition kann der Mensch auf eigene Rechnung nichts Gutes tun, weil seine moralischen Fähigkeiten und seine Willenskraft durch den Sündenfall degeneriert sind.

Die Geschichte von Adam und Eva ist wohlgemerkt jüdischen Ursprungs. Aber im Judentum hatte sie eine andere Bedeutung als im Christentum. Im Judentum – und im Islam – versündigen sich Adam und Eva durch ihre Übertretung lediglich an ihren eigenen Seelen, wodurch aber keineswegs die ganze Menschheit verdammt ist. Adam und Eva lebten als Kinder im Garten Eden, und nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, mussten sie die Verantwortung für sich selbst, ihre Entscheidungen und ihr Verhalten übernehmen. Dem Judentum gilt das nicht als „Fall“ sondern als „Gabe“ – die Gabe des freien Willens.

Die ursprüngliche Bedeutung der Geschichte von Adam und Eva lag in der Erlangung des freien Willens und der Übernahme moralischer Verantwortung. Diese hat sich dann verkehrt in eine Geschichte über die Korruption des freien Willens und die Begrenztheit persönlicher moralischer Verantwortung. Der wohl größte Einfluss des Christentums liegt in diesem Bedeutungswandel der Übertretung von Adam und Eva – eine für das ethische Denken des Westens bestimmende Verdüsterung des menschlichen Wesens, seit das Christentum den Rahmen dieses Denkens bildete. Bis zur Aufklärung wurden diese düsteren Vorstellungen nicht mehr in Frage gestellt.

Es sind nicht nur die wesentlichen ethischen Prinzipien der christlichen Tradition von heidnischen Philosophien entliehen, sondern sie haben auch nicht nur mithilfe, sondern auch trotz der christlichen Kirche fortbestanden. Als das römische Reich unter der Last der Invasion durch die Barbaren im vierten und fünften Jahrhundert unterging, verblieb der christliche Klerus als einzige literarisch gebildete Klasse in Westeuropa, und die Kirche wurde zum alleinigen Patron des Lernens. Einerseits hielt die Kirche so zwar Elemente einer erlernten Kultur lebendig, aber die Haltung der Kirchenführer bezüglich des Werts des heidnischen Wissens war zwiespältig. „Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen?“, fragte Tertullian, der erste bedeutende Theologe, der in Latein schrieb. Die strenggläubigen Christen waren so sehr mit den Anforderungen des Jenseits befasst, dass ihnen das Studium der Natur oder der Geschichte um ihrer selbst willen als fast pervers erschien. Für den Christen „soll die Einfachheit des Glaubens größer sein als die Beweise des Verstandes“, behauptete Basilius von Caesarea, ein einflussreicher Theologe und Ordensmann des vierten Jahrhunderts. „Zuviel Zeit auf das Studium des Wesens der Dinge zu verwenden dient nicht der Auferrichtung der Kirche.“

Im dreizehnten Jahrhundert hat das christliche Europa das griechische Erbe und insbesondere Aristoteles wiederentdeckt, was zu einem Wandel der intellektuellen Kultur Europas beitrug. Diese Entwicklung inspirierte die Arbeit von Thomas von Aquin, dem wohl bedeutendsten aller christlichen Theologen, und verschaffte der Vernunft wieder ihren zentralen Platz in der europäischen Philosophie. Aber wie hat das christliche Europa die Griechen wiederentdeckt? Vor allem durch das islamische Reich. Während der „dunklen Jahrhunderte“ des christlichen Europas erlebte das geistige Leben in der islamischen Welt eine Blüte, die der im antiken Athen oder später im Florenz der Renaissance in nichts nachstand. Die Entdeckung von Aristoteles, Platon, Sokrates und anderen griechischen Philosophen sowie deren Übersetzung ins Arabische begünstigte die Entstehung des goldenen Zeitalters islamischer Gelehrsamkeit.

Die arabischen Gelehrten revolutionierten die Astronomie, erfanden die Algebra, trugen zur Entwicklung des modernen Dezimalzahlensystems bei und legten die Grundlagen der Optik. Aber vielleicht noch wichtiger als die Wissenschaft war die Philosophie. Die rationalistische Tradition im islamischen Denken, deren Höhepunkte die Arbeiten von Ibn Sina und Ibn Rushd darstellen, sind im Westen heute weitgehend vergessen. Für die jüdisch-christliche Tradition sind ihre Bedeutung und ihr Einfluss jedoch kaum zu überschätzen. Insbesondere der Einfluss des größten muslimischen Aristoteles-Kenners Ibn Rushd war in Judentum und Christentum viel größer als im Islam. Die Wiederentdeckung von Aristoteles durch die westeuropäischen Gelehrten wurde durch Ibn Rushd angeregt, und seine Kommentare haben das Denken zahlloser Philosophen von Maimonides bis Aquinas beeinflusst.

Zu dieser Zeit haben Christen die Bedeutung der muslimischen Philosophen durchaus anerkannt. Dante stellt Ibn Rushd in der Göttlichen Komödie in eine Reihe mit den großen heidnischen Philosophen, deren Geister nicht in der Hölle schmoren, sondern im Limbus wohnen, dem Ort, „den die Gnade dem Ruhm schuldig ist“. Raffaels berühmtes Fresco Die Schule von Athen auf den Wänden des apostolischen Palastes im Vatikan bildet die großen Philosophen der Welt ab. Und zum Pantheon der in diesem Rahmen gefeierten griechischen Philosophen zählt auch Ibn Rushd.

Dieses Geschenk ist heute weitgehend vergessen. Heute gilt der Islam tendenziell als abgeschottet, isoliert und gegenüber Vernunft und Freidenkertum ablehnend. Teilweise mag die islamische Welt diesen Vorstellungen mittlerweile tatsächlich entsprechen. Aber es ist eine unabweisliche Tatsache, dass die Gelehrsamkeit des Goldenen Zeitalters islamischen Denkens die Grundlagen für die europäische Renaissance und die wissenschaftliche Revolution mit geschaffen hatte. In der muslimischen Welt kam es weder zum einen noch zum anderen. Aber ohne sie wäre es vielleicht nirgends dazu gekommen.

Aber nicht nur die wirklichen Hintergründe der Renaissance und der wissenschaftlichen Revolution wurde zugunsten der Vorstellung eines mythischen „christlichen Europas“ umgeschrieben, sondern auch die tatsächliche Beziehung zwischen Vernunft und Glauben in der Aufklärung. Was heute als „westliche Werte“ bezeichnet wird – Demokratie, Gleichheit, Toleranz, Redefreiheit usw. – ist weitgehend das Produkt der Aufklärung und der Zeit danach. Diese Werte sind natürlich nicht wesentlich „westlich“ sondern universell; westlich sind sie nur durch ein zufälliges Zusammentreffen von Geografie und Geschichte.

Mittlerweile hat sich eine komplexe Diskussion über die Beziehung von Aufklärung und christlicher Tradition entwickelt. So wie die Vorstellungen der christlichen Tradition und der „westlichen Zivilisation“ verschmolzen sind und die Aufklärung als Ausfluss westlicher Werte betrachtet wird, haben manche auch versucht, die Aufklärung für die christliche Tradition einzuspannen. Die aufklärerischen Ideen der Toleranz, Gleichheit und des Universalismus leiten sich dieser Auffassung nach aus Vorstellungen ab, die bereits in der christlichen Tradition etabliert waren. Andere haben bezüglich des Erbes der Aufklärung eine ambivalentere Haltung: Sie behaupten, die eigentlich freiheitlich-demokratischen Werte seien christlich, und meinen, der Radikalismus und Säkularismus der Aufklärung hätten diese Werte untergraben.

Beide Perspektiven sind jedoch falsch. Zunächst einmal liegen die historischen Ursprünge der meisten dieser Ideen wie gesagt außerhalb der christlichen Tradition. Statt sie als christlich zu bezeichnen, kann man Konzepte wie Gleichheit oder Universalismus mit gleichem Recht auch griechisch nennen. Tatsächlich sind die modernen Ideen von Gleichheit oder Universalität aber weder griechisch noch christlich. Ungeachtet ihrer Ursprünge haben sie sich mittlerweile zu entscheidenden modernen Vorstellungen entwickelt - einem Produkt der spezifischen sozialen, politischen und intellektuellen Spannungen der modernen Welt.

Außerdem wären die großen Figuren der christlichen Tradition darüber entsetzt gewesen, was wir heute „westliche“ Werte nennen. Der amerikanische Schriftsteller Christopher Caldwell schreibt in seinem Buch Reflections on the Revolution In Europe, die muslimische Migration nach Europa nähere sich Formen einer Kolonisierung an, die die Grundfesten der europäischen Zivilisation bedrohe. Caldwell räumt aber ein, „der von säkularen Europäern so genannte ‚Islam‘ sei eine Verkörperung von Werten, die Dante und Erasmus als die ihren wiedererkannt hätten“. Die modernen säkularen Rechte, die jetzt die „wesentlichen europäischen Werte“ konstituieren, hätten zudem „Dante und Erasmus irritiert“. Es gibt mit anderen Worten also keine spezifisch europäischen Werte, die die Geschichte transzendieren, die christliche Tradition definieren und im Gegensatz zu vermeintlich in Stein gemeißelten islamischen Werten stehen.

Die „christlichen Werte“ und „islamischen Werte“ sind nicht nur komplexer und haben eine vielschichtigere Geschichte als die meisten zeitgenössischen Erzählungen suggerieren. Das Gleiche gilt auch für die Beziehung zwischen aufklärerischen Ideen und religiösem Glauben. Wie der Historiker Jonathan Israel gezeigt hat, gab es zwei Aufklärungen. Den Mainstream der Aufklärung durch Kant, Locke, Voltaire und Hume, der uns allen bekannt ist und in der öffentlichen Diskussion begegnet. Aber demgegenüber war die radikale Aufklärung weniger bekannter Figuren wie d’Holbach, Diderot, Condorcet und vor allem Spinoza Herz und Seele der Aufklärung.

Die beiden Aufklärungen unterscheiden sich an der Frage, ob die Vernunft in menschlichen Belangen an oberster Stelle rangiert, wie die Radikalen behaupteten, oder ob die Vernunft durch Glauben und Tradition beschränkt werden müsse – der Standpunkt des Mainstream. Der Versuch des Mainstream, Elemente der traditionellen Glaubensauffassungen aufrecht zu erhalten, beschränkte seine Kritik der überkommenen sozialen Strukturen und Weltauffassungen. Die Radikalen legten es andererseits darauf an, ihre Ideen von Gleichheit und Demokratie bis in ihre logischen Konsequenzen zu verfolgen, denn nach dem Bruch mit einer göttlichen Ordnung gab es, so Israel, „keine sinnvolle Alternative dazu, die moralische, politische und soziale Ordnung auf einen systematischen radikalen Egalitarismus zu gründen, der alle Grenzen, Klassenschranken und Horizonte überschreitet“.

Die moderate Aufklärung ist zwar angesehener und fand mehr öffentliche Anerkennung. Aber auf einer grundlegenderen Ebene war sie weniger bedeutsam als der radikale Strang. Das laut Israel für die Modernität wesentliche „Paket grundlegender Werte“ – Toleranz, persönliche Freiheit, Demokratie, Rassengleichheit, sexuelle Gleichberechtigung und das universelle Recht auf Wissen – leiten sich prinzipiell aus den Forderungen der radikalen Aufklärung ab. Die meisten Philosophen der Aufklärung waren gläubig (wenn auch nicht unbedingt im Buchstabensinne), und ihr christlicher Glaube hat ihre Ideen mitgeformt. Dennoch wurden die von uns heute so genannten „westlichen Werte“ in gleichem Maße durch Denker verfeinert, die die christliche Tradition ablehnten, wie durch solche, die sie befürworteten.

Die Hinterfragung der Mythen und Missverständnisse bezüglich der christlichen Tradition ist keine Leugnung des besonderen Charakters dieser Tradition (oder Traditionen) oder ihrer Bedeutung für die Entwicklung dessen, was wir heute als „westliches“ Denken bezeichnen. Aber die christliche Tradition und das christliche Europa sind keineswegs reinrassig sondern eher eine Schimäre. Die Geschichte des Christentums und seiner Beziehung zu anderen ethischen Traditionen, sowie die Beziehung zwischen christlichen Werten und denen der modernen, freiheitlichen und säkularen Gesellschaft ist viel komplexer als die schlichten Argumente wahrhaben wollen, die nach dem Motto „die westliche Zivilisation bricht zusammen“ funktionieren. Ironischerweise sitzen die Verteidiger des Christentums der gleichen Identitätspolitik auf, wie Islamisten, Multikulturalisten und viele andere -isten, die sie verabscheuen.

Wenn wir den Alarmismus bezüglich des Untergangs des Christentums hinterfragen, dann tun wir das nicht nur, um Mythen über die christliche Tradition zur letzten Ruhe zu betten. Vielmehr werden diese Werte – Toleranz, Gleichbehandlung, universale Rechte –, zu deren Verteidigung wir angeblich ein christliches Europa brauchen, genau durch diesen Alarmismus selbst untergraben. Die Erosion des Christentums führt nicht unbedingt zur Erosion dieser Werte. Aber die krasse Verteidigung des Christentums gegen die „barbarischen Horden“ kann durchaus dazu führen.

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