18.12.2024

Unkritisch Reisen: Bangladesch

Von Niels Hipp

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Foto: Alit22 via Pixabay

Lieferkettengesetze bedrohen Arbeitsplätze in Bangladesch. Das Land braucht aber den Welthandel, um sich wirtschaftlich entwickeln zu können. Es bietet zudem Sehenswürdigkeiten.

Heute begeben wir uns nach Bangladesch, einen Staat in Südasien, den ich im November 2024 bereist habe.

Wer an Bangladesch denkt, der denkt vermutlich zunächst an die Textilindustrie. Diese agiert – auch wenn sich der Staat noch immer „Volksrepublik Bangladesch“ nennt – nach streng kapitalistischen Gesichtspunkten. Nur durch kapitalistische Produktion kann Massenwohlstand entstehen. Kapitalistische Produktion meint, so zurecht Martin Rhonheimer, knappe, von der Natur gelieferte, für die Ernährung und die darüber hinausgehende Wohlstandssteigerung der breiten Massen jedoch ungenügende Ressourcen, so zu verwenden, dass durch die Steigerung der Produktivität ihrer Nutzung, durch unternehmerischen Erfindungsgeist und Risikobereitschaft für alle genug und mit der Zeit gar im Überfluss vorhanden ist. Um die Einbindung in die Weltwirtschaft zu ermöglichen, müssen Länder wie Bangladesch, also Länder mit geringerer Arbeitsproduktivität, ihre Waren mit niedrigen Löhnen und niedrigen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards auf dem Weltmarkt anbieten.

Dazu bietet sich die arbeitsintensive Textilindustrie sehr an, die ja in Westeuropa schon seit den 1960er Jahren auf dem Rückzug ist. Und in der Tat sind über 90 Prozente der Exporte Bangladeschs Textilien. Betritt man eine heutige Textilfabrik in Bangladesch, so erinnern einen die Maschinen an solche aus Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert oder an Besuche in hiesigen Industriemuseen. Dabei ist auch die Lautstärke ohrenbetäubend und die Arbeiterinnen tragen keinen Gehörschutz, was eindeutig zu kritisieren ist. Man muss allerdings sagen, dass gewisse, durchaus berechtigte Kritikpunkte an Missständen mittlerweile zu eine generell negativen Sicht auf die Textilindustrie und auch andere Branchen in Entwicklungs- und Schwellenländern angeschwollen sind. Dabei werden hiesige Moralvorstellungen in Form von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zugrunde gelegen. Hätte diese Standards Gültigkeit in den betroffenen Ländern, wären die Industrien augenblicklich nicht mehr konkurrenzfähig. Damit sich die Arbeitsbedingungen in Ländern wie Bangladesch (weiter) verbessern, muss wie seinerzeit in Europa erstmal der Wohlstand langfristig ansteigen.

Es ist auch eine paternalistische Anmaßung zu behaupten die Leute dort würden ausgebeutet, sprich dass wir bestimmen, was für ihr Leben dort gut ist, so zurecht der Ökonom Hans-Werner Sinn. Für die Menschen bedeutet die Arbeit in einer Fabrik eine Verbesserung ihrer Lebensumstände, denn die Feldarbeit ist aufgrund der tropischen Temperaturen und Gefahren wie giftige Schlangen und teilweise auch noch Malaria deutlich unattraktiver. Dieser deutsche (und europäische) selektive Menschenrechtsmoralismus – davon sind übrigens die wirtschaftlichen Grundrechte wie Eigentum, Vertrags- und Berufsfreiheit durchgängig ausgeschlossen – führt zu einem neuen Kolonialismus des Westens, wendet etwa der brasilianische Präsident Lula da Silva ein. Er kommt ausgerechnet von denen, für die der ‚echte‘ Kolonialismus das ultimativ Böse darstellt.

Nun ist die Moralisierung von Marktprozessen und Marktergebnissen nichts Neues: Schon der römische Kaiser Diokletian erließ im Jahr 301 ein Höchstpreisedikt, indem minutiös aufgezählt war, was welches Produkt kosten darf. Heute haben wir das in Form von Mindestlohn und Mietpreisbremse, aber auch in den Honorarordnungen der „Freien Berufe“. Heute geht die Moralisierung über die reine Preisfrage einschließlich der Lohnfrage – der Lohn ist ja der Preis für den Faktor Arbeit – hinaus.

„Statt die Standards in Entwicklungs- und Schwellenländern zu verbessern, kappen deutsche und in Zukunft auch Unternehmen aus anderen EU-Ländern sicherheitshalber die Bande, um Haftungsrisiken zu senken.“

Nach dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch mit vielen Toten und Verletzten im Jahr 2013 intensivierte sich die Diskussion. Noch unter „Mutti Merkel“ wurde dann Mitte 2021 das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verabschiedet, das Anfang 2023 in Kraft trat, 2024 folgte die EU-Lieferkettenrichtlinie. Geschützt werden sollen Menschenrechte und die Umwelt, und zwar entlang der gesamten Lieferkette. Mit Menschenrechten sind ausgewählte internationale Abkommen gemeint. Der Begriff der Lieferkette geht sehr weit und umfasst alle Schritte im In- und Ausland, die zur Herstellung des Produkts oder der Dienstleistung erfolgen. Das betrifft das eigene Unternehmen sowie dasjenige eines unmittelbaren und mittelbaren Zulieferers (§ 2 Abs. 5 LkSG). Das Gesetz enthält außerdem viele schwammige Rechtsbegriffe.

Seit 2024 gilt es zwar eigentlich erst ab 1000 Beschäftigten. In der Praxis sind aber viel mehr Unternehmen betroffen, da alle größeren Unternehmer ihre Zulieferer und Kunden jetzt vertraglich verpflichten, die Anforderungen entsprechend einzuhalten. Es entstehen –wie z.B. bei der DSGVO – Haftungsrisiken und ein großer bürokratischer Aufwand, der für kleinere Unternehmen kaum zu stemmen ist. Daher, so zurecht die Befürchtung von Heike Göbel, passiert genau das Gegenteil dessen, was die Befürworter bezwecken wollen. Statt die Standards in Entwicklungs- und Schwellenländern zu verbessern, kappen deutsche und in Zukunft auch Unternehmen aus anderen EU-Ländern sicherheitshalber die Bande, um Haftungsrisiken zu senken. So erkennt man, dass im Jahr 2023, also nach dem Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes, die Importe von Textilien aus Bangladesch um über 21 Prozent zurückgegangen sind. Außerdem schlossen 320 Textilfabriken, die mehr als 45.000 Menschen beschäftigten. Es büßen am Ende die Ärmsten, denen Europas Moral die Chance auf Teilhabe und Entwicklung über den Handel nimmt, wie Heike Göbel bereits 2021 bei Verabschiedung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes anmerkte. Es gibt aber noch einen Punkt: Entwicklungs- und Schwellenländer werden dann verstärkt mit Ländern handeln, in denen keine derartigen Regelungen gelten, vor allem mit China, wo solche Fragen irrelevant sind.

Einem wirtschaftlich Interessierten fallen aber in Bangladesch auch noch andere Dinge als Textilfabriken auf: Selbst in kleinen Dörfern kann man – wie fast überall sonst auf der Welt – Coca Cola kaufen. In Großstädten wie Khulna gibt es – genauso wie in vielen deutschen Großstädten – KFC und Domino’s Pizza. Unser Reiseleiter hatte ein Handy von Samsung, wie meine Frau auch. Dazu fällt einem eine Beobachtung von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 ein, die schon damals zutreffend feststellten: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“

„Politisch hat Bangladesch turbulente Monate hinter sich.“

Permanent stößt man in Bangladesch auch auf Hinweise auf Stahl- und  Zementproduktion. Was die Leute dort wohl über die Idee des „Grünen Stahls“, der gerade u.a. in Duisburg zum „Grünen Wirtschaftswunder“ führt, sagen würden? Und was würden sie wohl von der kostspieligen Abscheidung und Einlagerung von CO2 u.a. in der Zementindustrie, um „klimaneutral“ zu werden, halten?

Politisch hat Bangladesch turbulente Monate hinter sich. Momentan regiert der 84jährige Mohammed Yunus mit einer Übergangsregierung. Von 2009 an war Sheikh Hasina, die Tochter des Gründers Bangladeschs, Mujibur Rahaman, Premierministerin des Landes. Die Awami-Liga, ihre Partei, gewann die Wahlen im Januar 2024. Am 07. Juli 2024 begannen Proteste gegen sie, die sich an einer Quotenregelung für den Öffentlichen Dienst entzündeten, mit einer Verkehrsblockade. Diese Regelung sah u.a. vor, dass ein Drittel aller Stellen im öffentlichen Dienst für Nachverfahren von Veteranen aus den Unabhängigkeitskrieg von 1971 reserviert wurden. Die Quotenregelung dürfte eher Anlass als Ursache der Proteste gewesen sein: Es stimmt zwar, dass viele Studenten sich dadurch in ihren Karrieremöglichkeiten eingeschränkt sahen, andererseits wird der autoritäre und undemokratische Regierungsstil von Sheikh Hasina schon länger kritisiert. Als der Oberste Gerichtshof die Quotenregelung am 21. Juli aufhob, gingen die Proteste unvermindert weiter. Daran sieht man, wie schnell sich derartige Massenbewegungen verselbstständigen können.

Als Gegenreaktion der Regierung kam es dann zu Ausgangssperren – die kennen wir ja mittlerweile aus Deutschland auch – und Sheikh Hasina verbot die Partei Jamaat-e-Islami auf Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes. Ein derart einfaches Verbotsverfahren würden sich Wanderwitz & Co. bei der AfD sicherlich auch wünschen. Die Ausschreitungen endeten aber nicht und schließlich senkte das in Bangladesch sehr wichtige Militär den Daumen. Sheihk Hasina floh am Anfang August 2024 mit dem Hubschrauber nach Indien. Solche Fluchten kennt man, sie sind mal erfolgreich – etwa beim Schah des Iran 1979 –, mal nicht – wie bei Ceaușescu in Rumänien 1989 oder beim französischen König Ludwig XVI. 1791. Mit der Ernennung von Yunus, Ökonom und ehemaliger Geschäftsführer der Grameen Bank, endeten die Proteste. Mit Neuwahlen scheint man es indes nicht eilig zu haben.

„Optisch fällt auf, dass kaum irgendwo sonst außerhalb der Golfstaaten so viele Frauen den Gesichtsschleier (Niqab) tragen wie in Bangladesch.“

Bangladesch ist ein muslimisches Land, über 90 Prozent der Bevölkerung des Landes gehören dem Islam an. Bangladesch gehörte bei der Teilung Britisch-Indiens in einen hinduistischen und einen muslimischen Staat 1947 zunächst zu Pakistan und wurde dann 1971 unabhängig. Optisch fällt auf, dass kaum irgendwo sonst außerhalb der Golfstaaten so viele Frauen den Gesichtsschleier (Niqab) tragen wie in Bangladesch, unverschleierte Frauen sind absolut in der Minderheit und am ehesten noch in den Großstädten zu finden. Ansonsten gilt das Übliche: Fünf Mal am Tag ruft der Muezzin zum Gebet, im Hotelzimmer zeigt die Qibla die Gebetsrichtung an (Mekka) und meist findet sich dort ein Koran, teilweise auch ein Gebetsteppich. Staatliche Pflichten zum Tragen eines Kopftuchs, wie im „unkritisch bereisten“ Iran, gibt es in Bangladesch aber nicht.

Was kann man sich in Bangladesch anschauen? Die Hauptstadt Dhaka, eine chaotische Megacity mit 20 Millionen Einwohnern, zeichnet sich durch einen kulturellen Mix aus: Vom Lalbag Fort aus der Mogulzeit über den hinduistischen Dhakeshwari-Tempel, die Curzon Hall aus der britischen Kolonialzeit, Moscheen wie Tara Masjid und Bait ul-Mukkaram bis hin zu Museen wie dem National- und dem Befreiungskriegsmuseum. Erstaunt sein kann man über das Vorhandensein einer armenischen Kirche: Erstens ist Armenien klein und zweitens weit weg. Armenier kamen im 18. Jahrhundert als Kaufleute. Das erinnert ein wenig an die Juden, die auch weit verstreut über den Globus leb(t)en.

Die anderen Großstädte, wie Chittagong, Sylhet, Khulna, Bogra oder Rajshahi, bieten kaum touristische Interessantes, dafür gibt es auf dem Land immer wieder Sehenswürdigkeiten wie etwa den hinduistische Navaratna-Tempel und die größte archäologische Stätte des Landes, Mahanstangarh. Weiterhin findet man die 500 Jahre alte Moschee von Kusumba und die ehemals größte buddhistische Klosteranlage des indischen Subkontinents, Paharpur, in Bangladesch. Als Kleinode seien noch die Palastruinen von Natore und die Tempelanlage von Puthia genannt. Sehenswert sind außerdem die historische Moscheenstadt Bagerhat u.a. mit der 60-Kuppel-Moschee, der 9-Kuppel-Moschee und dem Schrein von Ichan Jahan Ali. Naturfreunde seien Fahrten durch den Mangrovenwald der Sundarbans empfohlen, wo mit viel Glück auch Krokodile und Tiger erspäht werden können. Wer möchte, der kann Bangladesch bei seiner Reise mit anderen Ländern kombinieren, etwa mit (Teilen von) Indien oder Nepal.

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