01.12.2025

Unkritisch Reisen: Argentinien

Von Niels Hipp

Titelbild

Foto: Gage Skidmore via Wikicommons / CC BY-SA 2.0

Wegen der Politik des Präsidenten Milei steht die wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens im Fokus der Aufmerksamkeit. Es dauerte sehr lange, bis auf den wirtschaftlichen Niedergang Reformen folgten.

Heute reisen wir nach Argentinien in Südamerika, den nach Fläche achtgrößten Staat der Erde, den ich im November 2025 bereist habe.

Bei Argentinien kommen einem verschiedene Assoziationen: Historisch denkt man an Juan Perón und seine früh verstorbene Frau Eva Perón, auch an die Pampa mit ihren riesigen Rinderherden, heute verbindet man mit dem Land den vor wenigen Monaten verstorbenen Papst Franziskus sowie natürlich den seit 2023 amtierenden libertären Präsidenten und Ökonomen Javier Milei.

Milei versucht mit seiner Reformpolitik („Kettensäge“), die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Etatismus, die seit den Zeiten Juan Peróns galten, zurückzudrehen und damit das Land wirtschaftlich wieder auf die Erfolgsspur zu setzen. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Argentiniens muss man wissen: Vor dem Ersten Weltkrieg war das Land einer der reichsten der Welt. Wenn wir es etwa mit der Schweiz, heute einem der reichsten Länder, vergleichen, dann hat bzw. hat es viel vorteilhaftere Bedingungen: Verschiedene Klimazonen (subtropisch bis kühl-ozeanisch), qualitativ hochwertiges Land für Landwirtschaft und Viehzucht, viel Platz, eine lange Küste mit vielen Häfen, natürliche Ressourcen (Erdöl, Erdgas), um 1900 herum eine wachsende, gut ausgebildete Bevölkerung u.v.m. Der Landesname –„Argentinien“ stammt vom Lateinischen „argentum“ für Silber – passte also. Daher gab es im um 1900 auch das Sprichwort „reich wie ein Argentinier“.

Aus der Wirtschaftsgeschichte

Spätestens mit der Herrschaft Juan Peróns ab 1946 war das vorbei, der Etatismus nahm dann endgültig überhand. Auch die Regulierung etwa im Wohnraummietrecht wurde deutlich ausgedehnt mit Folgen, die wir auch aus Deutschland („Mietpreisbremse“) kennen: Wohnungsmangel und das Insider-Outsider-Problem (analog zum Arbeitsmarkt). In einer Zeit, in der in Westeuropa das „Wirtschaftswunder“ begann (ab 1948) und der Welthandel dynamisch expandierte, entwickelte sich Argentiniens Wirtschaft zumindest in etlichen Bereichen negativ und insgesamt weniger dynamisch als Westeuropa. Der Historiker Michael Riekenberg schreibt dazu: „Argentiniens Anteil an den Weizenexporten fiel weltweit zwischen 1948 und 1952 von 23% auf 9% und bei Korn von 64% auf 23%. [...] 1952 lag die Inflationsrate bei 30%. [...] Um die Depression aufzufangen, legte die Regierung ein Programm zum Wohnungsbau auf, bei dem 80.000 Menschen Arbeit fanden. Auch die verstaatlichten Eisenbahnen stellten Personal ein. Obwohl das Passagier- und Frachtaufkommen der Bahnen stagnierte, stieg die Beschäftigtenzahl zwischen 1945 und 1955 um mehr als die Hälfte. Die nun vom Staat zu zahlenden Gehälter vergrößerten das Defizit der öffentlichen Haushalte.“

Riekenberg fährt fort: „Der Wirtschaftskrise und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung begegnete die Regierung mit zunehmenden Repressionen. Bereits zuvor hatte sie nicht vor autoritären Mitteln zurückgeschreckt. Nun aber wurde die staatliche Willkür systematisch. [...] 1950 verabschiedete der Kongress ein Gesetz gegen Spionage und Geheimnisverrat. Es erweiterte die Definition der sogenannten Verbrechen gegen den Staat und stattete die Polizei mit weit reichenden Mitteln zur Verfolgung von Oppositionellen aus. Das Ley de Desacato (‚Gesetz zur Missachtung‘) stellte die öffentliche Kritik an Staat und Regierung unter Strafe, da es Kritik mit Beleidigung gleichsetzte.“

„Warum dauerte es trotz permanent mieser wirtschaftlicher Bedingungen bis 2023, bis ein Milei eine Chance hatte?“

Manche Liberale oder Libertäre übertreiben allerdings, wenn sie den Abstieg Argentiniens darstellen, das BIP pro Kopf liegt etwa im Weltdurchschnitt, das Land ist überhaupt nicht mit Niger oder dem Kongo vergleichbar. Nominal liegt es beim BIP pro Kopf auf Rang 75 weltweit, nach Kaufkraftparitäten auf Rang 74 (2024). Das hört sich also nach einem relativen Abstieg, nicht nach einem absoluten Abstieg an. Absoluter Abstieg meint, dass das BIP pro Kopf nominell zurückgeht. Das galt in den Jahren 2013 bis 2020 in Venezuela oder auch 2019 bis 2021 im Libanon. Beim relativen Abstieg hingegen verliert man im Verhältnis zum Rest der Welt. Dieser ist gefährlicher, weil er weniger sichtbar ist. Nach 80 Jahren Peronismus bzw. Etatismus war Argentinien nach und nach (!) auf das Niveau des ärmsten EU-Landes Bulgarien heruntergefallen, eine Gefahr, die für Deutschland, dessen BIP inflationsbereinigt heute auf dem Stand von 2019 liegt, sehr wohl auch besteht.

Das Besondere an der wirtschaftlichen Entwicklung Argentiniens war die über Jahrzehnte sehr hohe Inflation. Bis auf die Jahre 1994 bis 2001 sowie 2004/05 und 2007/09 lag die Inflation in den vergangenen 50 Jahren stets mindestens im zweistelligen, wenn nicht gar dreistelligen Bereich – eine Situation, die in Deutschland in diesem Zeitraum in keinem einzigen Jahr auftrat. Die Armutsquote lag bei extrem hohen 45 Prozent, denn Inflation trifft vor allem die Unter- und Mittelschichten, da die Oberschicht ihr Vermögen in Fremdwährung (v.a. US-Dollar), Immobilien, Edelmetalle oder international investierenden Fonds/ETFs anlegt. Durch Mileis Zurückschneiden des Staates ist die Inflation von über 200 Prozent auf 31,3 Prozent im Oktober 2025 gesunken und die monatliche Inflation auf (immer noch hohe) 2,3 Prozent. Das Wirtschaftswachstum liegt mittlerweile höher als in China.

Wie sind Reformen möglich?

Der Fall Argentinien führt etwas Unangenehmes vor Augen. In Diktaturen ohne (wirklich freie) Wahlen wie in Kuba, Venezuela und dem Iran, historisch auch etwa der UdSSR oder der DDR, sind Reformen nur von oben möglich, wie etwa unter Deng Xiaoping in China geschehen. Druck von unten ist sehr schwierig, durch Wahlen schon gar nicht, aber auch Demonstrationen sind oft verboten oder sehr eingeschränkt. In einer Demokratie müsste es dann ja einfacher sein. Der Fall Argentinien zeigt aber, dass auch in einer Demokratie über Jahrzehnte Reformen, die die missliche Lage beenden können, nicht stattfinden: Unter Perón und auch in den 1950er Jahren und erst recht während der Militärdiktatur (1976-83) gab es keine Wahlen, die diesen Namen verdient hätten, seitdem aber schon.

Warum dauerte es trotz permanent mieser wirtschaftlicher Bedingungen bis 2023, also vier Jahrzehnte nach Ende der Militärdiktatur, bis ein Milei eine Chance hatte? Der Historiker Rainer Zitelmann nennt drei Bedingungen für Reformen: Erstens müssen die Bedingungen aus Sicht eines Großteils der Bevölkerung unerträglich sein. Zweitens muss es geistige Vorarbeit etwa in Form Think Tanks geben, die auf einen Wechsel hinarbeiten. Und drittens muss es dann einen geeigneten Politiker geben, der diese Ideen dann umsetzt. Und – so ist viertens zu ergänzen – die institutionellen Rahmenbedingungen müssen einen Wandel überhaupt erst zulassen, die Demokratie muss also vernünftig funktionieren: Man muss also nicht nur eine Partei, sondern auch eine gewisse ideologische Richtung abwählen können. Dieser Prozess hat in Argentinien – wie wir gesehen haben – mehrere Jahrzehnte gedauert, was für Deutschland kein gutes Omen ist, gerade wo bei uns die institutionellen Rahmenbedingungen (Stichwort „Quasi-Blockparteien“) auch noch schwieriger sind als in Argentinien.

„Kann Druck von außen helfen, etwa in Form von IWF-Krediten, die dann mit umfangreichen Reformen verbunden sind?“

Es stellt sich die Frage: Kann Druck von außen helfen, etwa in Form von IWF-Krediten, die dann mit umfangreichen Reformen verbunden sind? Während das im Falle von Griechenland nach 2010 funktioniert, war es bei Argentinien dauerhaft nicht so, das Land fiel immer wieder in seinen alten Trott zurück. Derlei kann ein Türöffner sein, ist aber überhaupt keine Garantie.

Neben Perón und Milei sei noch kurz auf Papst Franziskus, bürgerlich Jorge Mario Bergoglio, eingegangen, der von 1998 bis 2013 Erzbischof von Buenos Aires war und von 2013 bis zu seinem Tod im April 2025 Papst war. Wirtschaftspolitisch konnte er von Milei kaum weiter entfernt liegen: Er behauptete, dass dieses Wirtschaftssystem – gemeint ist der Kapitalismus – „tötet“. Er dachte Zeit seines Lebens peronistisch: General Juan Perón hatte 1948 in einer berühmten Rede vor Kirchenvertretern gesagt: Er habe das Privateigentum immer „entschieden verteidigt“, sei aber gleichzeitig „der Überzeugung, dass der beste Weg dazu darin bestehe, die Mächtigen davon zu überzeugen, dass sie ihre Güter mit den Besitzlosen teilen müssten. Es ist notwendig, dass die Reichen weniger reich sind, damit die Armen weniger arm sind.“ Der Peronismus ist in seiner interventionistischen Form im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ Argentinien bekanntlich nicht gut bekommen, hat das Land in den Ruin und die Armutsquote auf ungeahnte Höchststände getrieben. Die von Libertären teilweise verwendete Bezeichnung von Papst Franziskus als „Pontifex Marxismus“ ist daher sicherlich nicht fernliegend.

Infrastruktur und Sehenswürdigkeiten

Welche Eindrücke kann man in Argentinien gewinnen? Es besteht ein enormer Kontrast zwischen der Hauptstadt und der Provinz: Buenos Aires ist eine Metropole von ungefähr 15 Millionen Einwohnern in einem Land mit 46 Millionen Einwohnern, also nur gut halb so viel

vielen Einwohnern wie Deutschland bei acht Mal so viel Fläche – und davon lebt ca. ein Drittel in der Hauptstadtregion. Also wirkt vieles außerhalb der Hauptstadtregion für mitteleuropäische Verhältnisse menschenleer. Und die Entfernungen sind enorm. Daher ist das Flugzeug ein sehr wichtiges Verkehrsmittel, zumal Bahnverbindung kaum existieren und es erst recht keine Schnellfahrstrecken wie im Flächenland China gibt. Da Buenos Aires – wie viele andere lateinamerikanische Hauptstädte auch – eine Art Wasserkopf ist und Wirtschaft, Politik und Kultur sich darauf konzentrieren, wirkt auf dem Land vieles heruntergekommen, die Häuser sind oft verfallen und vieles ist vergittert. Gerade im ländlichen Nordargentinien kommt es auch permanent zu kurzen Stromausfällen.

„Viele kleine Geschäfte auch auf dem Land bieten extrem große Fleischtheken an und damit werben damit.“

Interessantes Detail: Viele kleine Geschäfte auch auf dem Land bieten extrem große Fleischtheken an und damit werben damit. Das Preisniveau im Einzelhandel insgesamt ist relativ hoch, zwar meist niedriger als in Deutschland, das allerdings bei niedrigerem Lohnniveau. Argentinien gilt nicht zu Unrecht als das europäischste Land Südamerikas, da man wenig indigene Bevölkerung sieht, dafür aber beim Anblick der Leute den Eindruck gewinnt, man könne auch in Spanien oder Italien sein, da gerade aus diesen beiden Länder, hauptsächlich Einwanderer kamen, so auch die Familie von Papst Franziskus. Beim Spaziergang durch Buenos Aires denkt man: Das könnte vom Stadtbild – nicht nur von den Menschen, sondern ebenso von den Häusern her – auch Barcelona oder Sevilla sein, wohlgemerkt 10.000 Kilometer von Spanien entfernt.

Was kann man in Argentinien besichtigen? Zunächst wäre da die Hauptstadt Buenos Aires, in der die Innenstadt einiges bietet, u.a. das um 1900 errichtete Gebäude des Nationalkongresses, Plaza de Mayo mit Kathedrale und Casa Rosada (Sitz des Präsidenten), den Palacio Barolo, den Friedhof La Recoleta, den Obelisken oder das Teatro Colón. In der zweitgrößten Stadt des Landes, Córdoba, stehen gut erhaltene Gebäude aus der Kolonialzeit. Im Norden des Lades liegen die im 17. und 18. Jahrhundert erbauten Jesuitenmissionen San Ignacio Mini, Santa Ana, Nuestra Senora de Loreta und Santa María la Mayor, die zur Bekehrung der eingeborenen Guaraní erbaut wurden.

Ganz im Norden – direkt an der Grenze zu Brasilien – befinden sich die Iguazu-Wasserfälle, die zu den größten Wasserfällen der Welt zählen und aus 20 großen und über 250 kleinen Fällen bestehen; über 2000 Kubikmeter Wasser stürzen dort pro Sekunde (!) hinunter. Insgesamt ist Argentinien eher etwas für Naturbegeisterte: Im Süden des riesigen Landes etwa befindet sich die Stadt Ushuaia, die zu Feuerland zählt. Dort kann man Pinguine sehen, im Gegensatz zum subtropischen Norden ist es dort auch im Sommer (Dezember bis Februar!) kalt. Darüber hinaus gibt es noch diverse Nationalparks wie Talampaya und Los Glaciares.

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