01.11.2012

Toter Materie neues Leben einhauchen

Analyse von Colin McInnes

Wie sich aus primitivsten Formen toter Materie die hochkomplexe Struktur des menschlichen Bewusstseins entwickeln konnte und wie der Mensch damit begann, Materie nach seinen Vorstellungen zu verändern

Wir, als denkende Menschen, sind alle das unwahrscheinliche Produkt toter Materie. Vor langer Zeit und aus bisher kaum verstandenen Gründen hatte die tote Materie, aus der wir bestehen, einfach Glück. Nachdem sie sich zuvor unzählige Male in Sackgassen entwickelt hatte, entstanden irgendwann langkettige Moleküle, die exakte Kopien ihrer selbst produzieren konnten. Das war keine geringe Leistung für tote Materie, da der Akt der Replikation Informationen sowohl speichern als auch übertragen konnte und so den Prozess der Selbstorganisation beschleunigte.

Später erlangte dann die tote Erde selbst Bewusstsein – nicht in Gestalt der von Grünen verehrten mythischen Gaia, sondern in Form denkender, selbstbewusster Menschen. Tote Atome aus Boden und Luft – Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff – organisierten sich in solchem Maß, dass sie letztlich anfingen, auf der Erde herumzulaufen. Doch wirklich eindrucksvoll wurde das Ganze erst, als die Menschen anfingen, sich selbst zu organisieren.

Durch Nachahmung, dann Sprache und schließlich die Schrift konnten Ideen gespeichert und an andere weitergegeben werden. Jede neue Generation sich fortpflanzender Menschen konnte die Sackgassen der Vergangenheit vermeiden und von ihren Vorfahren lernen, während sie der Vielfalt des bestehenden Wissens noch ihre eigenen Gedanken hinzufügte.

Doch diese Ideen waren nicht bloß müßige Philosophie. Bald fingen sie an, selbst die Welt zu verändern. Dies begann mit der Landwirtschaft, und um einiges später folgte durch die industrielle Revolution das wahre Erwachen aus Jahrtausende währender malthusianischer Stagnation. Ob durch die weitreichenden Ideen der schottischen Aufklärung oder durch die Innovationen von James Watt, es wurde klar, dass die Zukunft radikal anders sein kann als die Vergangenheit. Eine potente Mixtur aus energiereichen Treibstoffen und radikalen Ideen erlaubte es der Menschheit, Materie so zu organisieren, dass die Ergebnisse rapide sowohl an Quantität als auch an Komplexität zulegten.

Tote Materie in bewusstes Leben

In dieser neuen Phase der Selbstorganisation waren es die Menschen selbst, die die tote Materie mit Ideen und Energie manipulierten. Durch die Verwendung von konzentrierter Energie, z.B. in Form von Kohle, Erdöl, Gas oder Kernbrennstoffen, können wir Materie nach Belieben manipulieren, und zwar sowohl in immer kleinerem Maßstab – wie bei Mikroprozessoren und Genen – als auch in immer größerem Maßstab, wie etwa bei dem riesigen Burj-Khalifa-Turm in Dubai. Unsere Ideen lassen komplexe Strukturen mit geringer Entropie entstehen, wobei Wärme mit hoher Entropie, also geringer Ordnung, frei wird. Bis zur jüngsten Vergangenheit konnte die nicht denkende Erde höchstens Atome wie Kohlenstoff und Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff durch organische Biologie manipulieren. Doch mit dem Auftauchen denkender Menschen entstand etwas Neues. Seitdem werden auch anorganische Materialien wie Metalle und Mineralien in immer größerer Komplexität organisiert.

Durch unsere Ideen und Innovationen gestalten wir Menschen die Welt permanent neu. Dies geschieht nicht, um sie zu verwüsten, sondern um ihr Bedeutung zu verleihen, und oft auch, um die sehr niedrige Produktivität der Natur zu erhöhen, sei es durch das Spalten von Atomen oder das Spleißen von Genen. Die misanthropischen Formen zeitgenössischen grünen Denkens erkennen bekanntlich im menschlichen Leben primär Zerstörung, also Verwandlung von Natur in tote Materie. Doch in Wirklichkeit verwandelt die Menschheit, mittlerweile siebenmilliardenfach, tote Materie in bewusstes Leben.

Auch die Natur organisiert tote Materie zu neuem Leben. So stellen organisierende Systeme wie Regenwälder aus toter Materie komplexe Strukturen her, indem sie das Sonnenlicht zur Fotosynthese nutzen, während sie Abwärme über ihre Blätterdach in den kalten Raum entsenden. Tote Materie wird dabei in organisierte biologische Strukturen mit niedriger Entropie verwandelt. Der Unterschied besteht darin, dass die Menschheit die Reorganisation von Materie bewusst durchführt.

Manche behaupten, der Mensch sei in dieser sich beschleunigenden Komplexität nur eine vorübergehende Phase der Selbstorganisation. Auch wenn dem am Ende tatsächlich so sein mag, sollten wir nicht die Luft anhalten und auf die technologische Singularität warten, von der Techno-Propheten glauben, sie werde irgendwann Maschinenbewusstsein hervorbringen und uns entweder von der Sklaverei der Arbeit befreien oder selbst versklaven. Wir sollten uns sicher nicht vom Gedanken womöglich kommender, sich selbst replizierender, smarter Materie oder dem grauen Schleim, den Prinz Charles fürchtet, den Schlaf rauben lassen. Wir sind es. Wir sollten erkennen, dass der Mensch selbst jene sich selbst replizierende smarte Materie ist, die sich und ihre eigenen Gedanken kopiert und evolutionär weiterentwickelt.

Der Phasenübergang der Komplexität, der mit denkenden Menschen begann und dann durch die Industrielle Revolution beschleunigt wurde, hat die Welt zum Besseren verändert und in einen Ort verwandelt, die dem Menschen und seinen Bedürfnissen eher angemessen ist. Frühe Innovationen, die die Welt veränderten, waren natürlich plump. So ist z.B. der durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe verursachte Kohlenstoff, der sich im Moment von der Erde in die Atmosphäre bewegt, ein vorübergehendes und unbeabsichtigtes Zeichen des spektakulären Wachstums im Verbrauch von Energie mit geringerer Entropie, die mit dem Phasenübergang der Industriellen Revolution begann. Wenn wir zu Energieflüssen übergehen, die eine höhere Dichte aufweisen und effizienter sind, wird der Kohlenstoff zur Erde zurückkehren und erneut in Biomasse gebunden werden, um schließlich endgültig in der Erdkruste zu verbleiben.

Um die Bedeutung der modernen Menschen und ihrer Ideen zum Ausdruck zu bringen, wird die gegenwärtige Zeitperiode oft als Anthropozän bezeichnet, also als das Zeitalter, in dem die Menschheit selbst Energie und Materialflüsse im planetaren Maßstab steuert. Viele Menschen betrachten das als Besorgnis erregende Entwicklung, die möglichst schnell beendet werden muss. Für andere, wie etwa Stewart Brand, die Umweltschutz auf rationaler und pragmatischer Basis vorantreiben, ist sie hoch willkommen. Für sie ist diese Ära dadurch gekennzeichnet, dass sich die Menschheit von den Launen der Natur unabhängig macht und die Möglichkeit, als Menschen die Erde aktiv zu gestalten und zu schützen, Realität wird.

In der Vergangenheit stolperte die unbedachte Natur von einer Katastrophe in die nächste, sei es eine Eiszeit oder ein Asteroideneinschlag. Doch durch den denkenden Menschen tut sich eine Zukunft voll mutiger Innovationen im globalen Maßstab auf. Das Geoengineering wird Methoden hervorbringen, mit denen die negativen Folgen des Klimawandels beherrscht oder vermieden werden können, egal, ob dieser nun natürlich oder menschengemacht ist. Und schon heute sind wir in der Lage, die Flugbahn kleiner Asteroiden zu verändern, so dass eine Kollision mit der Erde vermieden werden kann. Zumindest in bescheidenem Umfang beginnen wir mit unseren Ideen, das Sonnensystem nach unseren Bedürfnissen zu verändern – ein Kunststück, das selbst unseren Großeltern noch unvorstellbar erschien. Dies ist kein menschlicher Dünkel oder naiver Optimismus, sondern eine pragmatische Anerkennung dessen, wohin das menschliche Projekt uns führen kann.

Kein natürliches Gleichgewicht

Dieses menschliche Streben sollte nicht mit dem Versuch verwechselt werden, eine Art Balance mit der Natur zu finden. Die Erschaffung von Ordnungen geringer Entropie führt zu Strukturen, die von einem Gleichgewicht weit entfernt sind, egal ob dieser Prozess durch die nicht denkende Natur erfolgt oder durch menschliche Innovation. Um es klar zu sagen: Es gibt keine Balance in der Natur, kein Gleichgewicht. Der Mond ist im Gleichgewicht, und er ist tot. Die Erde ist mit ihren kolossalen Energie- und Materieströmen – etwa den Kreisläufen der Biologie oder der Wärmebewegung in der Atmosphäre – von einem Gleichgewicht weit entfernt. Und denkende Menschen beginnen nun damit, diese Flüsse in immer stärkerem Maße zu manipulieren.

Eines der Schlüsselmerkmale solcher Systeme im Ungleichgewichtszustand ist ihre Unvorhersagbarkeit, ihre Anpassungsfähigkeit und ihre schiere Vielfalt. Das macht das Treiben des Lebens auf der Erde in all seinen Formen, von der Natur bis zur Wirtschaft, so farbig und fesselnd. Wäre die Natur im Gleichgewicht, wäre sie tot. Wäre die Gesellschaft im Gleichgewicht, wäre sie unerträglich stumpfsinnig, und wenn die Wirtschaft in dauerndem Gleichgewicht wäre, würde Innovation schlicht erlöschen.

Die Alternative zur wachsenden Komplexität, die durch menschliche Ideen und Innovationen entsteht, ist die heutige Vorstellung der Nachhaltigkeit, eine gefährliche Idee mit gesellschaftlich rückwärtsgewandten praktischen Implikationen. Im Gegensatz zur wachsenden Komplexität und Selbstorganisation des menschlichen Strebens führt Nachhaltigkeit zu einer stagnierenden Gesellschaft. Sie ist sowohl in sozialer als auch in wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht eine Sackgasse.

Kernbrennstoffe allein bieten ausreichend Energie geringer Entropie, um eine viele Milliarden zählende Bevölkerung bis in die ferne Zukunft zu versorgen. Wenn man in größeren Dimensionen denkt, so findet sich wahrscheinlich genug Wasser in Gestalt von Kometen in unserem Sonnensystem für Billionen von Menschen in einer vorstellbaren, künftigen solaren Zivilisation. Es ist noch nicht lange her, dass die tote Materie der Erde, die sich einst selbst zu denkenden Menschen organisiert hat, mit Maschinen bis zu fernen Monden und Planeten vorgedrungen ist. Wenn die mächtige, sich selbst organisierende Unternehmung namens Menschheit irgendwann die Erde verlassen wird, haben wir die Chance, einen toten und scheinbar leeren Kosmos mit Leben zu füllen.

Oder wollen wir lieber auf der Stelle verharren und uns in einer nachhaltigen Gesellschaft in Watte packen, kulturell versteinern und darauf warten, von der Erde gespült zu werden, wenn der nächste große Felsbrocken in den Planeten rauscht? Den Planeten retten und selbst organisiertes Leben in den Weltraum tragen? Ja, das ist eine große Aufgabe. Also lasst sie uns nicht in Ermangelung des notwendigen Ehrgeizes in den Sand setzen.

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