30.01.2019

Suggestion als Markenkern

Von Ulf Heuner

Claas Relotius ist beim Spiegel kein Einzelfall. Das Nachrichtenmagazin betreibt seit 70 Jahren Suggestivjournalismus und kann auch trotz des aktuellen Skandals nicht aus seiner Haut.

„Und ich habʼ festgestellt, als ich dann zum Spiegel rüberging, habʼ ich festgestellt … hm ... ach nein, ich will das jetzt nicht so sagen …, dass die sich häufig sozusagen aus Sekundärquellen bedient haben. Und man konnte nicht so richtig feststellen, wo das eigentlich herstammte. Die haben es wirklich fertiggekriegt, aus drei Büchern und drei Aktenordnern eine Geschichte zu schreiben, die sich so las, als seien sie überall dabei gewesen.“ Mit diesen Worten schilderte Stefan Aust 2016 in einer Diskussionsrunde 1 seinen Eindruck von der journalistischen Arbeit beim Spiegel, als er dort 1994 als Chefredakteur anfing. Bemerkenswert daran ist, dass bereits vor 25 Jahren der damalige Chefredakteur den in seinem Hause vorherrschenden Suggestivjournalismus und kreativen Erfindergeist klar erkannt hatte. Bemerkenswert ist auch, dass Aust in der Diskussion im Anschluss meint, er habe dann als Chefredakteur dieser Form des Journalismus entgegengewirkt. Nahm der Suggestiv- und Boulevard-Journalismus unter dem Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust doch erst richtig Fahrt auf. Das konnte so weit gehen, dass Spiegel-Journalisten dem Leser das Gegenteil von dem suggerierten, was sie selbst als Quelle präsentiert hatten.

Dieses Kunststück bringt z.B. die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen fertig in ihrem Artikel „Was ist eigentlich Hass?“ über zwei 16-jährige Jugendliche und einen 24-jährigen Mann, die in Dessau alkoholisiert einen Mann zu Tode getreten haben. Das Motiv wird von einem der Angeklagten vor Gericht klar benannt: „Bemüht, ein Gespräch mit den Angeklagten in Gang zu bringen, fragte der Vorsitzende den einen der Jugendlichen, was er sich denn gedacht habe bei der Tat. Erst schwieg der 16-Jährige. Dann brach es heraus, es explodierte regelrecht aus ihm: ,Ich hasse Neger!‘“ Doch mit dieser klaren Motivlage gibt sich Friedrichsen nicht zufrieden. Stattdessen zeichnet sie im Folgenden ein Bild von den Tätern als eigentlich netten Jungs, die vor der Tat noch einem gestürzten Betrunkenen auf eine Bank geholfen und ihre Flaschen ordentlich entsorgt hätten. Dann versteigt sie sich zu der perfiden Suggestion über eine mögliche Mitverantwortlichkeit des Opfers: „Der nächste Zug geht erst um fünf Uhr früh. Es wird kühl. Sie ziehen zusammen los. Jetzt lärmen sie, pöbeln und grölen. Da kommt ein Schwarzer, Adriano, des Wegs. Hätte er die Straßenseite gewechselt, hätte er sich nicht auf einen Disput eingelassen, hätte, wäre. Nichts reduziert, was dann geschah.“ Warum erwähnt sie es dann? Die Zurücknahme der perfiden Suggestion macht aus dem Textstück eine echte Niedertracht. Im Folgenden relativiert Friedrichsen munter weiter: „Andererseits haben die Täter wahllos getreten und geprügelt, wie ehedem die Hooligans im französischen Lens auf den Gendarmen Daniel Nivel getreten und eingeschlagen haben. Oder die drei jungen Männer, keine Rechtsradikalen, die vorvergangenen Samstag in Neubrandenburg einen 15-Jährigen, Deutscher wie sie, aus Langeweile totgetreten haben. Lust an der Gewalt? Ausländerhass? Langeweile?“ Mit dem zuvor zitierten „Ich hasse Neger“ wollte der Angeklagte offenbar nur sein latentes Gefühl der Langeweile zum Ausdruck bringen.

Diese Technik der perfiden Suggestion hat bereits vor über 60 Jahren Hans Magnus Enzensberger in seinem berühmten Radio-Essay „Die Sprache des Spiegel“ einen fiktiven „Autor“ erklären lassen: „Ich kenne keine Publikation, die es in der Technik der Suggestion, des Durchblickenlassens, der Insinuation weitergebracht hätte als der SPIEGEL. Die Wahrheit wird durch diese Technik allerdings nicht aufgehellt, sondern vielmehr paralysiert. Sie ist ihr gegenüber wehrlos.“ (Der Radio-Essay wurde gekürzt im Spiegel selbst abgedruckt.)

„Bild spricht wenigstens noch mit den Toten. Der Spiegel hat selbst das nicht nötig.“

Geschichten zu schreiben, als sei man dabei gewesen, war auch eine Spezialität des Spiegel-Journalisten Claas Relotius, über dessen Textfälschungen seit Wochen in den Medien debattiert wird. Er reiht sich damit also in eine alte Spiegel-Tradition ein und hat den Suggestivjournalismus auf die Spitze getrieben, indem er oft gleich ganz auf Recherche verzichtete. In einem Spiegel-Interview (Nr. 52/2018, 22.12.2018) zum Fall Relotius verrät der Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, weshalb der mit vielen Preisen dekorierte Relotius beim Nannen Preis mit di Lorenzo als Jury-Mitglied keine Chance hatte: „Dass die Geschichten ganz erfunden sein könnten, darauf wäre auch ich im Traum nicht gekommen. Aber wenn man die Geschichte eines Menschen rekonstruiert und schreibt, wie er geschnauft hat oder wie schnell sein Atem war oder in welcher Geschwindigkeit er durch irgendeine Straße läuft oder welches Lied er dabei anstimmt oder gar, was er sich in einer bestimmten Situation denkt, dann müsste doch instinktiv Skepsis aufkommen.“ Was sich für di Lorenzo als Gipfel journalistischer Unverfrorenheit darstellt, die Gedankenleserei, ist beim Spiegel jedoch Standard. Bild spricht wenigstens noch mit den Toten. Der Spiegel hat selbst das nicht nötig. Denn er weiß, was Tote denken oder vor ihrem Ableben gedacht haben.

Reporter Juan Moreno

Als Gewährsmann für diesen Standard kann ausgerechnet Juan Moreno herangezogen werden, der als sogenannter fester freier Journalist bei einer gemeinsamen Reportage mit Claas Relotius Unstimmigkeiten in dessen Beitrag entdeckte und so den Skandal ins Rollen brachte. Mit der Aufdeckung der Fälschungen Relotiusʼ hat er sich allerdings selbst vom Bock zum Gärtner gemacht, denn er vertritt den gleichen aufgeblasenen suggestiven Reportagestil, stellt sich dabei nur etwas geschickter als Relotius an. Dies soll an Morenos Artikel „Im Namen des Gesetzes“ aus dem Jahr 2009 veranschaulicht werden.

In dem Artikel geht es um die ehemalige Angestellte eines dreieinhalb Jahre zuvor insolvent gegangenen Unternehmens, die nun von den Insolvenzverwaltern aufgefordert worden ist, die drei letzten ausgezahlten Monatsgehälter zurückzuzahlen. Das Insolvenzrecht erlaube solche Forderungen, wenn Gläubiger bei bis zu drei Monate vor der Insolvenz erhaltenen Zahlungen bereits von der Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens gewusst haben.

„Wenn Spiegel-Journalisten über sogenannte normale Leute schreiben, schlagen sie schnell einen herablassenden Ton an.“

Moreno beginnt seinen Artikel wie folgt: „Sie hat die Unterlagen in Klarsichtfolien gelegt, damit nichts zerknittert und keine Flecken darauf kommen. Am Ende war sie schließlich Assistentin der Geschäftsführung, fünf Jahre lang. Da gewöhnt man sich ordentliches Arbeiten an. Sie breitet alles auf dem Küchentisch aus. Brief an Brief liegen sie nun da, frankierte Existenzbedrohungen. Schreiben, die von Mal zu Mal beängstigender wurden, wie ein Sturm, der näher kommt.“ Als Erstes fällt auf, dass Moreno dem Leser den Zweck von Klarsichtfolien erklärt. In der Regel erklären einem erwachsene Menschen solche trivialen Dinge nur, wenn sie an Demenz leiden.

Dass die Angestellte überhaupt Klarsichtfolien zur Ablage nutzt und ein ordentlicher Mensch zu sein scheint, hat ja für die Insolvenzgeschichte keine Relevanz. Aber die nüchterne Information über die Lohnrückzahlungsforderung wäre für das „Das deutsche Nachrichten-Magazin“ kein geeigneter Einstieg. Der Leser soll atmosphärisch angeteasert werden und sei es durch triviales, redundantes Gewäsch über Klarsichtfolien. Im Grunde macht sich Moreno über die Angestellte lustig, wenn er so tut, als bestünde die Arbeit einer Assistentin der Geschäftsführung in erster Linie darin, Unterlagen in Klarsichtfolien abzulegen, und ihr gönnerhaft bekundet, in fünf Jahren Tätigkeit ordentliches Arbeiten gelernt zu haben. Wenn Spiegel-Journalisten über sogenannte normale Leute schreiben, schlagen sie schnell einen herablassenden Ton an.

Dass Klarsichtfolien atmosphärisch etwas dünn sind, hat Moreno auch gemerkt und er versorgt den Leser ein paar Absätze weiter mit neuen wertvollen Informationen: „Cornelia Fröhner zieht den Brief des Insolvenzverwalters aus der Folie heraus. Von ihrer Küche aus sieht man den Garten. Nach Tschechien sind es nur ein paar Minuten mit dem Auto. Sie trägt Bluse und Jeans. 35 Jahre, nicht weit von Annaberg-Buchholz geboren, eine freundliche Frau.“ Gartenblick, Entfernung zur tschechischen Grenze, Bluse, Jeans etc. haben ebenso wenig mit der Zahlungsaufforderung zu tun, sie sollen dazu dienen, aus einer profanen Nachricht eine unterhaltsame Story zu machen, wie das Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay genau analysiert hat:

„Der ästhetisierende Suggestiv-Journalismus eines Relotius ist so alt wie der Spiegel selbst.“

„Der Sinn der Story ist es, die Nachricht in ein pseudoästhetisches Gebilde zu verwandeln, sie aus dem Kontext der Situation zu entfernen. Eine echte Nachricht hat eine genau angebbare Quelle; nicht umsonst wird sie in keiner Zeitung wiedergegeben, ohne dass diese Quelle, dass Zeit und Ort ihrer Entstehung angegeben würden. Nachrichten sind für Unterhaltungszwecke im Allgemeinen ungeeignet, sie sind kein Genuss-, sondern ein Orientierungsmittel. Dagegen stellt die Story ganz andere Bedingungen: Sie muss Anfang und Ende haben, eine Handlung, und vor allem einen Helden. Echte Nachrichten ermangeln leider oft dieser Eigenschaften. Umso schlimmer für die Nachrichten, scheint der SPIEGEL sich zu sagen.“

Das heißt, der ästhetisierende Suggestiv-Journalismus eines Relotius oder Moreno ist so alt wie der Spiegel selbst. Daher zeigt sich in Texten von ihrer Art nicht, wie Thomas Assheuer in der Zeit unter Verweis auf Kulturwissenschaftler meint, „[s]chon seit längerer Zeit […] ein Funktionswandel journalistischer Texte.“ Denn für den Spiegel galt dies schon vor 70 Jahren. Im Heft Nr. 52/2018 verspricht der Spiegel auf der Titelseite unter dem pathetischen Credo seines Gründers Rudolf Augstein „Sagen, was ist.“: „In eigener Sache: Wie einer unserer Reporter seine Geschichten fälschte und warum er damit durchkam“. Die Antwort auf diese Frage hätten die Redakteure bereits in dem uralten Text Enzensbergers finden können. Dann hätten sie ihr Heft auch korrekt betiteln können: „Suggerieren, was sein soll.“

Einen „Funktionswandel journalistischer Texte“ hätte der Zeit-Redakteur Thomas Assheuer auch gut und gerne im eigenen Haus entdecken können. Dort nehmen Journalisten seit geraumer Zeit oft ihr eigenes Gefühl zum Ausgangspunkt nicht nur von Reportagen, sondern auch von politischen Betrachtungen, nach dem Motto: Mein Gefühl ist ein Fakt, also etwas Objektives, das somit zum unbestechlichen Gradmesser politischer Betrachtungen werden kann. Prominentes Beispiel ist die Zeit-Journalistin Jana Hensel, die den Gefühlsjournalismus explizit zu ihrem Programm erhebt. Sie macht sich etwas vor, wenn sie ihren Artikel „Mein Angela-Merkel-Gefühl“ über die Ära der Bundeskanzlerin Merkel mit dem Satz beginnt: „Politische Bilanzen schreiben andere, mein Abschied soll persönlich sein.“ Denn im Folgenden werden ausgehend von ihren persönlichen Gefühlen natürlich politische Bilanzen gezogen. Da wird schnell vom „ich“ zum suggestiven „Wir alle“ oder „uns“ gewechselt und z.B. von ihren persönlichen Merkel-Eindrücken auf Wirkungen in der Gesamtbevölkerung geschlossen: „Aber dennoch, Merkels spröder Glanz, ihr so unglamouröser Glamour hat auch auf jene abgefärbt, die ihn stets bestritten haben. Wir alle wurden größer darin.“

„Wenn die Protagonistin kein zur Story passendes Gefühl äußert, wird ihr ein passendes angedichtet.“

Moreno hat also eine Heldin mit Bluse, Jeans, Gartenblick und kurzem Weg zur tschechischen Grenze gefunden. Fehlt nur noch das passende Gefühl: „,Ich habe jetzt also 4600 Euro Schulden, obwohl ich eigentlich noch 2200 Euro zu bekommen habe. Ist das fair?‘ [Abs.] Es ist nicht fair. Vielleicht müssen Gesetze das auch nicht sein, Cornelia Fröhner geht es auch weniger um ein Gesetz, es geht um ein Gefühl. Um das Verhältnis zwischen Groß und Klein, zwischen Schwach und Stark.“ Dafür, dass es für Cornelia Föhner weniger um ein Gesetz (und ihr Geld) geht, sondern um ein Gefühl, gibt Moreno jedoch keinen Beleg. Die von Moreno zitierte Aussage Fröhners belegt eher das Gegenteil. Eine Frau, die ihre Unterlagen immer ordentlich in Klarsichtfolien ablegt und, wenn sie ihren Gartenblick aus der Küche nicht mehr erträgt, schnell in Tschechien ist, scheint ja auch kein besonders gefühlsbetonter Mensch zu sein, sondern sie will einfach ihr wohl verdientes Geld behalten und noch ausstehende Gehälter endlich erhalten, um sich eine neue Jeans und Bluse zu kaufen. Aber wenn die Protagonistin kein zur Story passendes Gefühl äußert, wird ihr ein passendes angedichtet.

Im atmosphärischen Anteasern und ästhetisierenden Aufblasen steht Moreno dem preisgekrönten Meister dieses Genres, Claas Relotius, kaum nach. Zwischen dem Erfinden von Personen, Gedanken sowie konkreten Äußerungen und dem Andichten von Gefühlen gibt es natürlich graduelle Unterschiede. Moreno trickst halt etwas dezenter. Die Zielrichtung ist die gleiche wie bei Relotius: Der Leser soll in erster Linie unterhalten werden und wird mit Suggestionen für dumm verkauft. Die Personen, über die berichtet wird, werden gnadenlos instrumentalisiert und sollten sich genau überlegen, was sie anziehen, wo man sich trifft und was sie tun, wenn sie sich mit einem Spiegel-Journalisten zum Gespräch verabreden. Jede banale Handlung wie eine unbewusste Geste wird genau unter die Lupe genommen, öffentlich gemacht und oft in schlechter freudianischer Manier gedeutet. Was die Personen tatsächlich zu sagen haben, scheint dagegen weniger wichtig zu sein.

Fergus Falls reloaded

Letzteres zeigt sich ausgerechnet auch in dem Artikel von Christoph Scheuermann („Die gefälschte Stadt“, Nr. 1/2019, 29.12.2018), der Aufklärung im Skandal leisten und einen Artikel von Relotius  2 geraderücken möchte. In seinem Artikel porträtierte Relotius die US-amerikanische Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota als Trump-Wähler-Hochburg. Dabei soll er Begebenheiten, Ereignisse, Biographien und Aussagen von Personen gefälscht bzw. frei erfunden haben, u.a. ein neben dem offiziellen Willkommensschild des Ortes aufgestelltes Schild mit der Aufschrift „Mexicans Keep Out“. Scheuermann ist nun von der Redaktion nach Fergus Falls geschickt worden, um Abbitte bei den Leuten zu leisten, denen Relotius Dinge unterstellt hat, die sie nie getan, gesagt oder erlitten haben, und um den Spiegel-Lesern nun ein korrektes Bild von der Stadt zu vermitteln. Sofort ins Auge fällt, dass auch der Reportage-Stil Scheuermanns dem von Relotius extrem ähnlich ist. Hatten viele Medien den Spiegel bereits dafür kritisiert, dass der Spiegel-Online-Text des designierten Chefredakteurs Ullrich Fichtner, mit dem der Spiegel den Skandal öffentlich machte  3 in dem gleichen Reportage-Stil verfasst sei wie die gefälschten Texte Relotius, muss man feststellen, dass Spiegel-Reporter einfach nicht aus ihrer Haut können. Selbst wenn man es ihnen sagt, realisieren sie nicht, dass nicht die Fälschungen von Relotius, sondern ihr eigener journalistischer Stil das eigentliche Problem ist.

„Die Journalisten des Spiegel lassen sich von ihren Suggestionen so weit mitreißen, dass ihnen eklatante inhaltliche Widersprüche in ihren Texten nicht auffallen.“

So könnten die folgenden Beschreibungen der Bewohner von Fergus Falls von Relotius einerseits und Scheuermann andererseits in ein und demselben Text stehen: „Die Bewohner von Fergus Falls sammeln in ihren Kirchen Geld, um es Behinderten zu spenden. Sie halten zusammen, wenn Familien an Krankheit, Sucht oder Gewalt zerbrechen. Sie winken, wenn sie ihre Mülltonnen zur Straße bringen.“ (Relotius) „Die Menschen sind konservativer als in den Küstenstädten, sie gehen sonntags in die Kirche, sie sind stolz auf ihre Gastfreundschaft, Offenheit, Gottgefälligkeit.“ (Scheuermann) Wenn Scheuermann über Relotius in Fergus Falls schreibt, klingt das genauso, wie Relotius über eine Person in Fergus Falls schreibt: „In Fergus Falls herrscht tiefer Winter, als er im Januar ankommt, drei Tage vor Trumps Vereidigung. Er hat ein billiges Hotel am Stadtrand gebucht, das Super acht am College Way, 43 Dollar die Nacht. 37 Nächte wird er bleiben, es gibt angenehmere Unterkünfte in der Gegend.“ (Scheuermann) „Sein Zimmer ist ein Raum im Erdgeschoss, im Eingang steht ein ausgestopftes Wildschwein. Er selbst sitzt hinter einem Schreibtisch, darauf läuft ein kleiner Fernseher. Es ist ein Morgen Ende Januar, auf CNN redet Donald Trump, und Andrew Bremseth, ein Mann mit jungenhaften Zügen und einem Namensschild auf der Brust, spricht von Befreiung.“ (Relotius)

Scheuermanns Text über Relotius hätte, was Duktus und Suggestivkraft angeht, auch Relotius selbst schreiben können. Scheuermann erkennt zwar, wenn Relotius „suggeriert, dass in den Köpfen Gewalt und Vorurteile herrschten“, aber er verkennt, dass er sich bestens selbst auf das Handwerk der Suggestion versteht. So kann Scheuermann ebenfalls in die Köpfe der Bewohner von Fergus Falls hineinschauen: „Sie dachten, der Kerl aus Deutschland wäre aufrichtig, als er ihnen versicherte, er wolle sie wirklich verstehen.“ Dafür, dass sie wirklich so dachten und Relotius ihnen das versicherte, gibt es jedoch keine Belege, weder in Scheuermanns noch in Relotiusʼ Text. Es gibt in Scheuermanns Text lediglich ein Zitat des Bürgermeisters von Fergus Fall, demzufolge Relotius auf ihn „offen“ wirkte. Und es ist kaum anzunehmen, dass alle Bewohner von Fergus Falls über Relotius dasselbe dachten, wenn sie überhaupt etwas über ihn dachten, aber selbst in einem Artikel, der mit den Räuberpistolen des Claas Relotius aufräumen soll, möchte ein Spiegel-Reporter nicht auf suggestive rhetorische Zuspitzungen verzichten.

Und weil Scheuermann das wie Relotius oder Moreno so gut kann, verzichtet er auch im Fazit seines Textes nicht darauf: „Was bleibt von diesem Text? Eine kleine Stadt in Minnesota, die sich fragt, womit sie das verdient hat.“ Dumm ist nur, dass er ein paar Sätze weiter genau das Gegenteil zu Protokoll gibt: „Fast niemand in dem Ort, mit dem ich gesprochen habe, ist nachhaltig böse. Entschuldigung angenommen, das ist der häufigste Satz, den ich höre. Wenn überhaupt, freuen sich die Bürger über das Interesse und den Versuch, die Dinge geradezurücken.“ Die Journalisten des Spiegel lassen sich von ihren Suggestionen so weit mitreißen, dass ihnen eklatante inhaltliche Widersprüche in ihren Texten nicht auffallen. Auch den Redakteuren nicht, die ihre Texte redigieren. Den Absatz der zuletzt zitierten Passage leitet Scheuermann ein mit den Worten: „Drei Tage als SPIEGEL-Reporter in Fergus Falls sind eine Übung in Demut. Vielleicht ist das die wichtigste Lektion.“ Wenn Scheuermanns Text das Ergebnis einer dreitägigen Übung in Demut ist, hat Claas Relotius jeden Preis verdient, den er bekommen hat.

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