26.04.2019

Stadtluft macht chancenreich

Von Tilman Weigel

Titelbild

Foto: diaznash via Pixabay / CC0

Organisationen wie die Welthungerhilfe, Brot für die Welt und Misereor zeichnen ein zu düsteres Bild von Entwicklungsländern. Sie stehen außerdem der notwendigen Urbanisierung im Weg.

Seit vielen Jahren interessiere ich mich für Entwicklungshilfe. Aber die Werbung von Entwicklungshilfeorganisationen ärgert mich zunehmend. Ich weiß noch, wie vor fast 30 Jahren ein Mitarbeiter der Deutschen Welthungerhilfe in unsere Schule kam. Er informierte uns über die Arbeit der Organisation und verteilte Blättchen, auf denen man sehen konnte, was man für einen bestimmten Betrag spenden konnte. 5 DM etwas Saatgut, 10 DM ein Huhn und 20 DM eine Ziege. Die Preise habe ich eben erfunden, ich weiß nicht mehr, was eine Ziege kostete. Wohl aber, dass mich diese Werbung ansprach und ich seitdem regelmäßig Geld für Entwicklungshilfe spende. Die Werbung, die mich damals überzeugte, ärgert mich heute aber zunehmend.

Man kann die Reklame der Entwicklungshelfer auf einen einfachen Nenner bringen. Alles wird immer schlechter, aber wir können den Niedergang verlangsamen, indem wir uns ans gestern klammern, an Subsistenzlandwirtschaft und dörfliche Lebensweise. Abwechselnd wird der erste oder der zweite Teil dieser Botschaft angesprochen. Beispielsweise von „Deutschland hilft“, einem im Jahr 2001 entstandenen Zusammenschluss verschiedener Hilfsorganisationen.

Humanitäre Katastrophen

Im Jahr 2016 verkündete die Organisation, dass die Welt in Syrien die größte humanitäre Katastrophe aller Zeiten erleben würde. Sicher, der Syrienkrieg ist schrecklich, aber ist er wirklich schlimmer als der Zweite Weltkrieg, der Dreißigjährige Krieg, die Horden von Dschingis Khan und Timur Lenk oder der atlantische und der arabische Sklavenhandel? Rund 55 Millionen Opfer soll der Zweite Weltkrieg gefordert haben, 40 Millionen die Herrschaft Mao Zedongs und genauso viele die mongolischen Eroberungen im 12. Jahrhundert, wie eine Aufstellung des US-Wissenschaftlers Steven Pinker zeigt.1 Erst recht gilt das, wenn man den Blutzoll in Relation zur damaligen Weltbevölkerung setzt. Der Syrienkonflikt ist also sicher nicht die größte humanitäre Katastrophe aller Zeiten.

„Die Stadt ist böse, das Leben in Subsistenzlandwirtschaft dagegen gut. Eine fatale Fehleinschätzung.“

Aber warum ist das überhaupt wichtig? Ganz einfach, weil die Katastrophennachrichten und Superlative das Vertrauen der Menschen in die Werte der Aufklärung untergraben. Dabei war, trotz Stalin, Mao und Hitler, die Wahrscheinlichkeit, durch Gewalt zu sterben, in vergangenen Zeiten weit größer. Für die großen Aufgaben der Zukunft wie Reduzierung von Hunger und Armut bei gleichzeitig steigender Weltbevölkerung oder der Reduzierung des Ressourcenverbrauchs werden wir technischen Fortschritt und aufgeklärtes Denken brauchen.Der Niedergang des Vertrauens in Wissenschaft und Fortschritt lässt sich sogar messen. So stimmten im Jahr 2005 über 80 Prozent der Deutschen der Aussage zu „Alles in allem werden Wissenschaft und Forschung in Zukunft zu einem besseren Leben führen“. 2017 waren es nur noch rund 50 Prozent.2

Humanitäre Katastrophen müssen aber keine Kriege sein. Der noch größere Feind der Menschen ist der Hunger. Noch immer sind weltweit mehr als 800 Millionen Menschen unterernährt. Das ist weniger als die eine Milliarde Menschen im Jahr 1990, bei gleichzeitig gestiegener Weltbevölkerung. Aber immer noch zu viel.

Hier möchte Misereor helfen, mit „Stadtwachstum, das man essen kann“. Die Botschaft ist klar: Wenn die Menschen schon in die Städte ziehen, dann sollen sie dort wenigstens weiter Subsistenzlandwirtschaft betreiben. Nun kann das durchaus sinnvoll sein. Für die Familie mit unsicherem Einkommen bedeutet ein kleiner Garten etwas Versorgungssicherheit und auch ein Stück Autarkie. Es ist nicht die Maßnahme, die fragwürdig ist, sondern die Werbung dafür. Denn sie greift die neoromantische Vorstellung vieler Menschen in den reichen Ländern auf. Danach ist die Stadt böse, das Leben als Bauer in Subsistenzlandwirtschaft dagegen gut. Eine fatale Fehleinschätzung.

Wohlstand in der Stadt

Die meisten Menschen in den armen Ländern wünschen sich einen Lebensstil, der mit dem in den wohlhabenden Ländern vergleichbar ist. Und diesen Wunsch sollte man akzeptieren, statt selbst im Luxus zu leben und anderen zu erklären, dass im Verzicht das wahre Glück liege. Entwicklung gibt es für die meisten Menschen aber nur in der Stadt. Selbst in Europa, Nordamerika und Ostasien sind Menschen in den großen Ballungszentren produktiver. Ökonomen nennen das den Agglomerationseffekt.

„Städte haben oft bessere Ausgangsbedingungen.“

Erst recht gilt das aber für die armen Länder. Sie haben kaum Infrastruktur. Die könnten die meisten Länder auch nicht kurzfristig in dem Maße erschließen, wie wir das aus Deutschland gewohnt sind. Hierzulande hat der Aufbau des Schienen- und Straßennetzes mehr als 180 Jahre gedauert, der erste Zug von Nürnberg nach Fürth fuhr 1835. Viele Staaten im Süden sind außerdem deutlich dünner besiedelt, die Demokratische Republik Kongo hat ähnlich viele Einwohner wie Deutschland, ist aber rund sechseinhalb Mal so groß.

Allerdings leben fast 10 Millionen Menschen allein in der Hauptstadt Kinshasa, einer der am schnellsten wachsenden Städte der Welt, weitere 1,3 Millionen auf der anderen Seite des Kongo in Brazzaville in der Republik Kongo. Es gibt eine Bahnstrecke nach Kinshasa, das rund 250 Kilometer Luftlinie vom Hafen in Matadi entfernt liegt, für afrikanische Verhältnisse ein Katzensprung. Eine weitere führt auf der anderen Seite der Grenze nach Brazzaville. Hier könnte Industrialisierung weit eher gelingen als Tausende Kilometer im Landesinneren. Zumal alleine in Kinshasa mehr Menschen wohnen als in Baden-Württemberg oder Hessen.

Auch der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens könnte in Kinshasa auf städtischer Basis leichter gelingen als in dem riesigen Land mit vielen unterschiedlichen Sprachen und Religionen. Leider wird der Bürgermeister oder Gouverneur in vielen Megastädten aktuell von der Zentralregierung ernannt, da sie oft auch Hauptstädte sind und einen eigenen Hauptstadtbezirk bilden. Das zu ändern (wie es beispielsweise in Delhi in Indien weitgehend geschehen ist), wäre ein wichtiger Schritt.

Andere Städte wie Lagos mit mittlerweile rund 14 Millionen Einwohnern haben sogar noch bessere Ausgangsbedingungen. Die nigerianische Großstadt liegt direkt am Meer. Tatsächlich gibt es dort mittlerweile einige hoffnungsvolle Entwicklungen. Die Filmindustrie beispielsweise ist die drittgrößte der Welt. Vor allem aber bieten die Städte mehr Freiheiten. Während im Norden Islamisten ihr Unwesen treiben, genießen es Frauen in Lagos, dass sie mit „nur“ zwei oder drei Kindern nicht mitleidig angesehen werden.

„Die große Mehrheit der Neu-Städter bereut ihren Umzug nicht.“

Natürlich bedeutet das nicht, dass das Leben in diesen Städten ein Kinderspiel wäre. Im Vergleich zu unserem Leben ist das in Lagos, Kinshasa, Nairobi oder Addis Abeba hart und oft auch kurz. Aber meistens besser als das Leben der Bauern auf dem Land mit schwankenden Ernten und harter Arbeit von früh bis spät. Außerdem gelingt vielen Menschen der Elendsviertel der Aufstieg. Der kanadische Journalist Doug Saunders kommt in seinem Buch „Die neue Völkerwanderung – Arrival City“ 3 zu dem Schluss, dass nur eine Minderheit der Ankömmlinge noch in der zweiten Generation in Elendsvierteln lebt. Die große Mehrheit der Neu-Städter bereut ihren Umzug nicht. Natürlich macht das Hilfe nicht unnötig, aber es gehört auch zur Aufgabe von Entwicklungshilfeorganisationen, Menschen in Deutschland die Chancen aufzuzeigen, die sich durch die Urbanisierung auftun.

Landwirtschaft und Landleben

Was aber ist mit der Ernährung, wenn immer mehr Bauern ihre Tätigkeit aufgeben? Auch hier gibt es wenig Grund, den Wegzug in die Städte alarmistisch zu betrachten, im Gegenteil. Die Subsistenzlandwirtschaft ist meistens wenig effizient. „Eine Rückkehr zu antiquierten Anbaumethoden kann eine Weltbevölkerung von künftig neun Milliarden Menschen nicht ernähren“, schreibt der Entwicklungsökonom und Berater der Bundesregierung Paul Collier.4 Und weiter: „Der einzige Weg, die Nahrungsmittel bezahlbar zu machen, ist ihre Massenproduktion.“

Moderne landwirtschaftliche Methoden lassen sich oft erst ab einer bestimmten Größe anwenden. Maschinen sind teuer und lohnen sich nur, wenn sie ausreichend genutzt werden (auch wenn Maschinenringe von kleineren Bauern eine Hilfe sein können). Und der Umgang mit modernen Anbaumethoden oder Agrochemie erfordert Grundwissen, das nicht jeder Kleinbauer hat. Das gilt auch für viele Methoden des Ökolandbaus.

Aber diese Techniken sorgen für deutlich höhere Erträge pro Hektar. Wer jetzt vor Umweltschäden durch die „Agrarindustrie“ warnt, möge bedenken, dass afrikanische Kleinstbauern weit von „industrieller Landwirtschaft“ entfernt sind. Ohnehin geht es nicht darum, in Afrika und Asien einfach jene Trends zu wiederholen, wie sie in Nordamerika und Europa stattgefunden haben. Die Regionen müssen ihren eigenen Weg finden, alleine schon, weil die geographischen Bedingungen oft andere sind. Und sie müssen das Recht haben, sich auch für Techniken zu entscheiden, die viele in Europa ablehnen, beispielsweise für bestimmte Pestizide oder auch die Grüne Gentechnik.

„Vor allem ist es wichtig, die Chancen der Urbanisierung darzustellen.“

Oft behaupten die Kritiker moderner Anbaumethoden, dass die traditionelle Subsistenzwirtschaft immerhin gut für die Umwelt sei. Aber auch das stimmt so einfach nicht. Je dichter die Besiedlung, desto weniger Grundfläche wird verbraucht. Nicht nur für Häuser, sondern auch für Straßen.

Natürlich hat das Landleben auch Vorteile. Nicht jeder mag in der Stadt wohnen. Viele moderne Menschen vermissen die Autonomie eines Bauern, der offenbar nur von seiner eigenen Arbeitskraft abhängig ist (in der Realität natürlich auch vom Wetter, von Schädlingen, Krankheiten und bei Marktprodukten von deren Preis). Der Ökonom Paul Collier schüttet das Kind mit dem Bad aus, wenn er den fairen Handel dafür verdammt, dass er Menschen dazu bringe, an einer Tätigkeit festzuhalten, die ihre Armut festschreibe.5 Durch die höheren Preise, so Collier, würden Familien weiter Landwirte bleiben statt sich nach besseren Verdienstmöglichkeiten umsehen – und so weiter in der Armut verharren. Doch hier geht der Ökonom zu weit, denn jeder hat das Recht, seinen Lebensstil frei zu wählen, auch den eines Bauern. Zumal ein besseres Einkommen durch höhere Preise vielleicht dazu führt, dass die Familie ihr Kind auf eine Schule schickt statt zum Arbeiten auf den Hof des lokalen Großbauern – und es dann in der Stadt weitaus besser Chancen hat. „Fair Trade“ ist nicht die Lösung des Problems der weltweiten Einkommensungleichheit, aber ein kleiner Baustein.

Doch wenn Entwicklungshilfeorganisationen etwas für die Landbevölkerung tun wollen, dann sollten das nicht nur neue Pflüge und Saatgut sein. Sondern beispielsweise auch Investitionen in eine bessere Infrastruktur. Dazu dürfen nicht nur die „Klassiker“ Straßen, Stromnetze und Schienen gehören, sondern auch eine digitale Infrastruktur. Denn ein mit Deutschland vergleichbares Straßennetz ist für die meisten armen Länder nicht realistisch. Umgekehrt ist aber auch die Vorstellung falsch, dass man ganz auf bessere Straßen- oder Schienenverbindungen verzichten könne.

Entscheidungsfreiheit ist ein hohes Gut, auch für die Option, dem traditionellen Lebensstil treu zu bleiben und auf ein Leben im Wohlstand zu verzichten. Es bleibt die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen das nicht will und sie nur in der Stadt die Chance hat, einen dem unseren vergleichbaren Wohlstand zu erlangen. Sie brauchen nicht nur Stadtgärten, sondern auch Bildung, Zugang zu günstigen Krediten und Technik. Vor allem aber ist es wichtig, die Chancen der Urbanisierung darzustellen, damit Entwicklungshilfe am Ende den Menschen nicht sogar Steine in den Weg legt, beispielsweise durch Versuche, den Zuzug in die Metropolen zu unterbinden. Wie wirbt die evangelische Organisation Brot für die Welt? „Jeder Mensch hat eine erste Chance verdient“. Und die liegt meistens nicht in der Subsistenzwirtschaft, sondern in der Stadt.

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