29.11.2021
Sinkt unsere Lebenserwartung durch Corona?
Von Rainer Baule
Was nach einer drastischen Reduzierung der Lebenserwartung aufgrund von Covid-19 klingt, erweist sich bei näherer Betrachtung als weniger dramatisch.
Jüngst wurde in vielen Medien über eine Studie berichtet, der zufolge die Lebenserwartung in den meisten Industrienationen aufgrund der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 drastisch gesunken ist, beispielsweise in den USA um etwa 2 Jahre oder in Italien um über 1 Jahr (in Deutschland verhältnismäßig moderat um ca. 0,3 Jahre). Diese Zahlen erschrecken auf den ersten Blick, und auf den zweiten werfen sie möglicherweise Fragen auf: Heißt das, dass in Italien im Mittel jeder der 60 Millionen Bürger mehr als ein Lebensjahr verloren hat? Das wären dann über 60 Millionen verlorene Lebensjahre. Andererseits weist die Weltgesundheitsorganisation für Italien knapp 80.000 Covid-19-Tote im Jahr 2020 aus, was bei einer restlichen Lebenserwartung der an oder mit Corona Verstorbenen von etwa 10 Jahren (gemäß einer Berechnung anhand von Daten aus Italien bzw. Großbritannien – hier sind allerdings einschränkend Vorerkrankungen zu berücksichtigen) weniger als 1 Million verlorenen Lebensjahren entspricht. Schlimm allemal, aber nur ein Bruchteil von 60 Millionen. Wie passt das zusammen?
Die Antwort ist im Begriff der „Erwartung“ zu suchen. Die Lebenserwartung bei Geburt drückt einen Zukunftswert aus, nämlich das durchschnittliche „erwartete“ Alter, das Neugeborene einmal erreichen werden. Nun weiß man natürlich nicht, wie sich die Zukunft entwickeln wird, und so ist man bei der Berechnung der Lebenserwartung auf Annahmen angewiesen. Die einfachste Annahme ist gleichzeitig diejenige mit dem geringsten Maß an Subjektivität, da sie auf jedwede spekulative Änderungsprognose verzichtet. Sie lautet: Alles bleibt so, wie es ist. Präziser formuliert, es wird unterstellt, dass in jedem zukünftigen Jahr für jede Altersgruppe dieselben relativen Sterbezahlen eintreten wie im Jahr der Berechnung. Diese Annahme liegt im Allgemeinen der Berechnung von Lebenserwartungen zugrunde.
Vor diesem Hintergrund ist der Rückgang der ermittelten „Lebenserwartung“ zu sehen: Die Berechnung unterstellt, dass in jedem zukünftigen Jahr dieselben Sterberaten eintreten wie im Pandemiejahr 2020, dass also die Pandemie bis ans Lebensende aller in diesem Jahr Neugeborenen in unveränderter Form weiterläuft und entsprechende Todesfälle fordert. Unter dieser – je nach Lesart heroischen oder dystopischen – Annahme, dass also die heute Neugeborenen nichts anderes mehr erleben als Pandemie, werden sie im Mittel (in Italien) ein gutes Jahr früher sterben als ohne Dauer-Pandemie.
„Verschiedene Autoren kommen zum Ergebnis, dass die Lockdown-Politik für die Lebenserwartungen zukünftiger Jahreskohorten weitaus schwerere negative Konsequenzen haben wird als die Pandemie selbst.“
Versteht man diese Zusammenhänge, dürfte die Zahl zumindest einen Teil ihres Schreckens verlieren. Rechnet man die tatsächlichen Todesfälle in verlorene Lebenszeit je Einwohner um, so kommt man mit den genannten Angaben für Italien auf knapp fünf Tage. In Deutschland sind offiziell mit Stand von Anfang November 2021 insgesamt etwa 96.500 Menschen an oder mit Covid-19 verstorben. Geht man weiterhin von im Mittel zehn verlorenen Lebensjahren pro Einzelfall aus, erhält man bei einer Bevölkerungszahl von 83,2 Millionen einen Lebenszeit-Verlust von etwas mehr als vier Tagen pro Bundesbürger seit Registrierung der ersten Fälle vor gut eineinhalb Jahren.1 Bei aller Tragik jedes einzelnen Falls ist das im Mittel nicht allzu viel Zeit, bedenkt man, dass 83,2 Millionen Bundesbürger seit weit über 500 Tagen mit mehr oder weniger starken Einschränkungen ihrer Freiheits- und Persönlichkeitsrechte leben müssen.
In der zitierten Studie wird betont, dass der Einbruch in der Lebenserwartung durch Covid-19 ein vorübergehender Schock sein dürfte. Gleichwohl seien längerfristige Effekte nicht ausgeschlossen, zum Beispiel eine erhöhte Mortalität durch Long Covid, ferner durch „soziale und ökonomische Disruptionen“. Hier bleiben die Autoren im Vagen. Es ist aber unbestritten, dass ein höherer Wohlstand in einer Volkswirtschaft mit einer erhöhten Lebenserwartung einhergeht.
In den letzten zehn Jahren ist die Lebenserwartung in Deutschland jedes Jahr in etwa um einen Monat gestiegen. Gründe hierfür können in medizinischen Fortschritten, besseren Arbeitsverhältnissen oder gesünderem Lebenswandel liegen. Viele dieser Gründe sind mit der volkswirtschaftlichen Leistungskraft korreliert. Nun hat die Pandemie weltweit zu ökonomischen Einbrüchen geführt, und es ist unklar, wie schnell die Volkswirtschaften wieder Vorkrisenniveaus erreichen. Die massiven Lockdowns in der ersten Jahreshälfte 2021 waren einer schnellen Erholung zumindest nicht förderlich. Verschiedene Autoren kommen daher zum Ergebnis, dass die Lockdown-Politik für die Lebenserwartungen zukünftiger Jahreskohorten weitaus schwerere negative Konsequenzen haben wird als die Pandemie selbst.2
„Eine Covid-19-Infektion ist für 35jährige in etwa so gefährlich wie ein halbes Jahr Leben.“
Solchen Rechnungen sind notwendigerweise etliche Annahmen inhärent, so dass sie mit großen Unsicherheiten einhergehen. Die tatsächlichen Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung der Lebenserwartung bleiben daher abzuwarten, wobei es auch ex post schwierig werden wird, Pandemie und Politik ursächlich zu separieren. Was aber mit den verfügbaren Daten bereits heute möglich ist, ist die Betrachtung der Auswirkung einer einzelnen Covid-19-Infektion auf die persönliche Lebenserwartung bzw. das damit einhergehende Sterberisiko. Bekanntlich steigt die Sterbewahrscheinlichkeit bei einer Infektion mit dem Alter stark an. Allerdings steigt auch die Wahrscheinlichkeit, an etwas anderem als an Covid-19 zu sterben, mit dem Alter stark an. Es kann daher aufschlussreich sein, die Infektionssterblichkeit mit dieser „Hintergrundsterblichkeit“ zu vergleichen.
In Bezug auf die Infektionssterblichkeit (Infection Fatality Rate, IFR) gibt es verschiedene Metastudien. Je nach Auswahl der einbezogenen Untersuchungen, Aufbereitung der Daten etc. fallen die Ergebnisse dabei durchaus unterschiedlich aus. Eine Problematik liegt darin, von den erfassten Fällen auf die Gesamtzahl der Infizierten zu schließen, da im Fall von Covid-19 eine hohe Anzahl an Infektionen asymptomatisch verläuft und unentdeckt bleibt. Als Antagonisten eines wissenschaftlichen Disputs hinsichtlich der Interpretation entsprechender Studien haben sich die Epidemiologen Gideon Meyerowitz‑Katz und John P. A. Ioannidis herauskristallisiert. Während Letzterer zu niedrigeren IFRs tendiert, fallen die Ergebnisse der Gruppe um den Ersteren höher aus, insbesondere für ältere Personen. Im Weiteren werden daher beide Sichtweisen einbezogen.
In nachstehender Tabelle (Abb. 1) sind die mittleren IFRs für verschiedene Altersklassen der allgemeinen jährlichen Sterblichkeit in Deutschland gegenübergestellt.3 Die Spalte „Monate“ gibt an, welcher Zeitspanne mit allgemeinem Lebensrisiko eine Covid-19-Infektion entspricht. Was bedeutet das? Für 35jährige beispielsweise liegt die IFR (gemäß beiden Autorengruppen) bei etwas über 0,03 Prozent; d. h., von 10.000 mit Covid-19 Infizierten werden 3 oder 4 an der Krankheit versterben. Gleichzeitig werden innerhalb eines Jahres aber 6 von 10.000 Personen dieser Altersgruppe aus anderen Gründen versterben – Unfälle, Krebs etc. Eine Covid-19-Infektion ist für diese Altersgruppe also in etwa so gefährlich wie ein halbes Jahr Leben.
Abb. 1: Vergleich von Covid-19-IFRs nach Levin et al. sowie Axfors / Ioannidis (s. Anm. 3) mit der allgemeinen Hintergrundsterblichkeit in Deutschland für verschiedene Altersgruppen. Die letzte Spalte gibt an, nach wie vielen Monaten genauso viele Personen an etwas anderem als Covid-19 verstorben sind wie eine gleich große Gruppe Corona-Infizierter.
Für mittlere und höhere Altersgruppen gehen die IFRs der Autorengruppen weiter auseinander. Den Ioannidis-Zahlen zufolge steigt die IFR mit dem Alter ziemlich genau parallel zur Hintergrundsterblichkeit an, so dass auch für 65jährige eine Covid-19-Infektion in etwa so gefährlich ist wie sechs Monate Leben. Zwar ist das absolute Risiko von Covid-19 für diese Altersgruppe deutlich höher, aber auch das allgemeine Lebensrisiko, an einer anderen Todesursache zu versterben. Die Gruppe um Meyerowitz-Katz berechnet einen höheren Anstieg der IFR mit dem Alter. Gemäß deren Zahlen ist für 65jährige die IFR in etwa so groß wie die allgemeine jährliche Sterblichkeit, und für 75- und 85jährige ist sie knapp doppelt so groß (Axfors / Ioannidis geben für die sehr hohen Altersgruppen keine Zahlen an).
Es bleibt festzuhalten, dass Covid-19 eine gefährliche Krankheit ist, die insbesondere für ältere Menschen tödlich verlaufen kann. Aber auch andere Krankheiten und das Leben an sich sind gefährlich. Die gesellschaftliche Diskussion sollte daher vor dem Hintergrund entsprechender Verhältnismäßigkeiten geführt werden.