16.01.2025

Schutz der Demokratie vor sich selbst (Teil 2/2)

Von Gunther Nickel

Titelbild

Foto: Hpeterswald via WikiCommons / CC BY-SA 4.0

Der Zustand von Demokratie und Meinungsfreiheit in Deutschland lässt zu wünschen übrig. Moralisierung der Politik kann zu obrigkeitsstaatlicher Willkür führen.

Ersichtlich wird dadurch (siehe Teil 1), wie begrifflich unscharf in der Kampagne „Demokratie wählen. Jetzt.“ verfahren wird. Verständlich wäre sie, richtete sie sich gegen die wachsende Entdemokratisierung durch Juridifizierung und Transnationalisierung politischer Fragen. Das aber hatten der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Ausrichter der Leipziger Buchmesse nicht im Sinn. Sonst wäre ihnen aufgefallen, dass die Eröffnungsveranstaltung einer Buchmesse für derartige Proklamationen kein geeigneter Ort sein kann. Sie haben vielmehr die Bedeutung des Wortes „Demokratie“, sollten sie überhaupt über sie nachgedacht haben, offenkundig gar nicht verstanden. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Begriff Volkssouveränität intendiert, lässt sich verstehen, warum die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe nichts weniger als eine „Wiederherstellung der Demokratie“1 gefordert und wie Manow beklagt hat, „dass heute das Politische im moralischen Register ausgetragen wird“. Denn Politik bestimmt sie wie Rancière als einen Streit um Ziele und Mittel. Dieser Streit lasse sich im Sinne Carl Schmitts als antagonistischer führen, bei dem der Gegner zum Feind erklärt werde, aber auch – und dafür plädiert Mouffe – in einem lediglich agonistischen Modus, bei dem „die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen“.2

 

Gegen Mouffe, die für einen linken Populismus plädiert, ist von Karin Priester berechtigt eingewandt worden, sie ontologisiere soziale Verhältnisse und verkenne deren Historizität. So stellten sich in Ländern (und, wie man ergänzen kann: Zeiten), in denen es kaum oder keine Mittelschichten gibt (oder gab), politische Konflikte ganz anders dar als in – wie sie Niklas Luhmann nennt – funktional ausdifferenzierten Gesellschaften. Wo eine sehr kleine Oberschicht kaum reglementiert herrsche, sei das Verhältnis zwischen institutionalisierter Politik und den politischen (Mit-)Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen weit weniger komplex als in modernen westlichen Gesellschaften, wo es sich nicht dualistisch auf ein agonistisches oder antagonistisches Verhältnis reduzieren lasse.3

Dort verstärken sich politische Proteste jedoch in den letzten Jahren und werden zunehmend als dualistischer Antagonismus verstanden. Der belgische Historiker Anton Jäger versteht diese Entwicklung ebenfalls als ein nur historisch begreifbares Phänomen. Es sei eines, das Postdemokratie neuerdings begleite, von ihm „Hyperpolitik“ genannt wird und sich zeige, wenn Menschen scheinbar spontan und massenhaft, aber nur temporär zu politischen Versammlungen zusammenfinden. Als Beispiele nennt er die Blockaden der Gilets Jaunes in Frankreich und die Black-Lives-Matter-Demonstrationen in den USA, die er als politische Ausdrucksformen einer Gesellschaft betrachtet, die sowohl atomisiert als auch medial vernetzt, aber trotz Vernetzung immer weniger in der Lage sei, stabile Organisationen in Gestalt von Gewerkschaften oder Vereinen wie zu Beginn der Massengesellschaft im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auszubilden. Spontane und massenhafte Proteste sind, so Jäger, „individualistischer, kurzfristiger, volatiler, weniger kohärent“, sie finden tatsächlich „jetzt“ statt und manifestieren einen Protest von Teilen des Demos gegen institutionalisierte Politik.4 Angesichts dessen erscheint die von Regierungspolitikern emphatisch mitgetragene Kampagne „Demokratie wählen. Jetzt.“ noch merkwürdiger. Sie legt nahe, die Aktualität gelebter Demokratie werde just zu dem Zweck beschworen, neue demokratische Gegenbewegungen zur Regierungspolitik zu diskreditieren und kaltzustellen.

Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie

Von dieser sich selbst untergrabenden Beschwörung der Demokratie unterscheiden sich die Reflexionen der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und Max Horkheimers dadurch, dass in ihnen von Demokratie nur spärlich und meistens nüchtern die Rede ist. Dass man sich, wie Carl Schmitt anmerkte, demokratisch auch für die Diktatur entscheiden und der Mehrheitswille des Volkes auch diktatorisch realisiert werden kann,5 spielte bei Horkheimers und Adornos Überlegungen keine Rolle, obwohl die Frage, in welchem Maße die Politik im NS-Staat auf Zustimmung im deutschen Volk stieß, immerhin Herbert Marcuses „Feindanalysen“ für das Office of Strategic Services zugrunde lag, dem ersten Auslandsgeheimdienst der USA.6 Adorno interessierte sich in seinen „Studien zum autoritären Charakter“ jedoch vor allem dafür, was Menschen dazu bringt, eine demokratische Staatsform abzulehnen. Es lasse sich zwar, stellte er 1950 fest, „nicht bestreiten, dass die formale Demokratie unter dem jetzigen Wirtschaftssystem der Masse der [US-amerikanischen] Bevölkerung die Befriedigung der elementarsten Wünsche und Bedürfnisse auf die Dauer nicht zu garantieren vermag, während doch zur selben Zeit die demokratische Staatsform so dargestellt wird, als komme sie […] einer idealen Gesellschaft so nahe wie überhaupt möglich“. Aber dieser Widerspruch habe eben ökonomische Ursachen, die nur nicht erkannt würden, weshalb sich das Ressentiment gegen die demokratische Staatsform wende.7

„Wenn Nancy Faser erklärt, die Demokratie gegen ‚ihre Feinde‘ mit ‚Prävention und Härte' verteidigen zu wollen, bedient sie sich umstands- wie bedenkenlos der Freund/Feindunterscheidung Carl Schmitts.“

Wie für Rancière, Mouffe und Manow war Demokratie für Adorno von einem Gegensatz zwischen Individuum und Staat gekennzeichnet. Dieser sei, so Adorno, Folge davon, dass das Überleben der Menschen gegen die Naturmächte schon immer gesellschaftliche Organisation und mit ihr die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen notwendig gemacht habe. Dabei komme es jedoch darauf an, ein Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen des Staatswesens und den Ansprüchen des Individuums zu verwirklichen, was in den USA jedenfalls soweit gelungen sei, dass der Staat dort „nirgends […] als eine über dem Leben der Individuen schwebende, ihnen befehlende Autorität empfunden“ werde.8 „Die Idee eines demokratischen Staatswesens aber“ setze darüber hinaus „autonome Menschen voraus, in deren Besinnung das eigene Interesse und das der Gesamtheit sich durchsichtig aufeinander beziehen.“

Das hatte auch der Verfassungsrechtler Ernst Wolfgang Böckenförde im Sinn, als er davon sprach, der freiheitliche Staat lebe „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. […] Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben“.9 Dass die spannungsvollen Voraussetzungen für eine Demokratie noch vorhanden seien, erschien Adorno schon 1959 fragwürdig, weil „die Subjekte, auf die doch eine Demokratie ihrem eigenen Sinn nach verwiesen ist, immer weniger dem entsprechen, was die Idee der Demokratie verlangt“.10

Vorbild war ihm dabei der während des „Liberalismus in seiner klassischen Epoche“ ausgebildete „Typus des Individuums“,11 den auch Hans-Jürgen Papier, CSU-Mitglied und von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, im Sinn hat, wenn er davon spricht, dass „Freiheit und Selbstbestimmung mündige Bürgerinnen und Bürger brauchen“, und warnt, „opportunistisch auf starke Führung und einen […] notfalls autoritären“ Staat zu setzten.12 Genau das, was Papier als problematisch empfindet, will jedoch Nancy Faeser befördern. Wenn sie erklärt, die Demokratie gegen „ihre Feinde“ mit „Prävention und Härte“ verteidigen zu wollen, bedient sie sich zunächst so umstands- wie bedenkenlos der Freund/Feindunterscheidung Carl Schmitts zur Erläuterung ihres Verständnisses von Politik, um im nächsten Schritt zu verkünden: „Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen.“28 Dieser Fall tritt ein, wie wenig später Thomas Haldenwang in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. unter der Überschrift „Die Meinungsfreiheit ist kein Freibrief für Verfassungsfeinde“ erläuterte, „[w]enn beispielsweise zulässige Kritik […] zu aggressiver, systematischer Delegitimierung staatlichen Handelns wird“, denn „auch unterhalb der strafrechtlichen Grenzen und unbeschadet ihrer Legalität können Meinungsäußerungen verfassungsschutzrechtlich von Belang sein“.13

„Moralische Urteile haben keinen ambivalenten Charakter, sondern sollen unbedingt gelten. Sie gestatten weder eine Güterabwägung noch eine Diskussion, weshalb man sie auch nicht zur Abstimmung stellen kann.“

Auf diese Weise wird die postdemokratische Entdemokratisierung der Demokratie durch Verrechtlichung und Verschiebung politischer Entscheidungen auf eine transnationale Ebene um ein weiteres Instrument erweitert: das der Einschränkung von Grundrechten, ohne dass es dafür eine rechtsstaatliche Grundlage gäbe. Denn jenseits des Straf- und Zivilrechts gibt es in der bundesrepublikanischen Rechtsordnung, jedenfalls bislang, keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, selbst dann nicht, wenn verfassungsfeindliche Ansichten vertreten werden. Das Bundesverfassungsgericht stellte dazu in einem Urteil vom 22. Juni 2018 fest:

Eingriffe [in die Meinungsfreiheit] dürfen nicht darauf gerichtet sein, Schutzmaßnahmen gegenüber rein geistig bleibenden Wirkungen von bestimmten Meinungsäußerungen zu treffen. Das Anliegen, die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ansichten zu verhindern, ist ebensowenig ein Grund, Meinungen zu beschränken, wie deren Wertlosigkeit oder auch Gefährlichkeit. […] Nicht tragfähig ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien zielt. Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet sind, gehört zum freiheitlichen Staat. Der Schutz vor einer ‚Vergiftung des geistigen Klimas‘ ist ebenso wenig ein Eingriffsgrund wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte.

Aufgrund dieser Rechtslage sieht Rupert Scholz, CDU-Mitglied, Verfassungsrechtler und ehemaliger Bundesverteidigungsminister, elementare Verfassungsrechte durch Haldenwang derart gravierend verletzt, dass er „Konsequenzen aus dem Verhalten dieses hohen Beamten“ fordert.14

Entpolitisierung der Politik

Haldenwangs Einlassungen blieben für ihn indes folgenlos, so dass am Ende so erstaunlich wie erklärungsbedürftig bleibt, warum Faeser und Haldenwang nicht einmal ansatzweise zu bemerken scheinen, dass ihren Forderungen und Maßnahmen eine Tendenz zu obrigkeitsstaatlicher Willkür innewohnt. Ganz offenkundig hat dieser blinde Fleck seinen Grund in einer Entpolitisierung der Politik durch Moralisierung. Moralische Urteile haben keinen ambivalenten Charakter, sondern sollen unbedingt gelten. Sie gestatten weder eine Güterabwägung noch eine Diskussion, weshalb man sie auch nicht zur Abstimmung stellen kann. Moralische Überzeugungen und Gewissheiten ziehen nach sich, sie überall und ausnahmslos durchsetzen zu wollen, etwa auch beim Sport, weshalb Faeser folgerichtig als Punkt 10 eines 13 Punkte umfassenden Maßnahmenpakets ein Förderprogramm für „Sport mit Haltung – gegen Rechtsextremismus“ aufgelegt und mit 2,5 Millionen Euro ausgestattet hat. Vor diesem Hintergrund müsste die Forderung „Demokratie wählen. Jetzt.“ etwas ganz anderes zum Ziel haben als es ihre Initiatoren im Sinn hatten, sie müsste sich gegen den undemokratischen Charakter immer mehr moralisierter politischer Forderungen und Maßnahmen wenden, damit über sie wieder ohne Repressionsdruck diskutiert und entschieden werden kann. Oder, um es mit einer nach allem Gesagten irritierend vorausschauenden Notiz Max Horkheimers aus den Jahren 1953 bis 1955 zu sagen: „Es gilt, die Demokratie und damit die Wechselwirkung von Allgemeinem und Besonderem, Staat und Einzelnen und damit den Menschen (im Sinn Hegels) zu verwirklichen. Davor haben die Totalitären aller Art die größte Angst, das bringt sie zum Entsetzen, sie hassen die Spontaneität und ihr Medium, die vernünftige Rede, die frei und straflos sein muss; sie hassen die wirkliche Demokratie wie die Pest und schreiben daher das Wort auf den Schild.“15

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