07.01.2025
Schutz der Demokratie vor sich selbst (Teil 1/2)
Von Gunther Nickel
Demokratie wird oft im Munde geführt, tatsächlich aber ausgehöhlt. Wir erleben eine Entdemokratisierung durch Verrechtlichung und Moralisierung der Politik.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Buchmesse sahen sich in diesem Jahr, so der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, Peter Kraus vom Cleff, „besonders in der Verantwortung". Es galt, proklamierte Astrid Böhmisch, Direktorin der Buchmesse, ein „zwingend notwendiges Zeichen" für Freiheit, Demokratie und Diversität zu setzen. Daher druckte man Plakate in Rot, Gelb, Grün und Lila, die für die bunte Vielfalt des Farbspektrums einzustehen hatten und auf denen die Aufforderung stand:
Demokratie
wählen.
Jetzt.
Diese Plakate wurden vor der Eröffnungsveranstaltung der Buchmesse an das Publikum verteilt, das zu dem Zeitpunkt, der damals „jetzt" war, allerdings gar nicht die Möglichkeit hatte, Demokratie zu wählen. Also hielt es mehrheitlich nur die Plakate hoch und setzte dergestalt tatsächlich Zeichen, deren zwingende Notwendigkeit allerdings nicht ersichtlich war. Vielmehr zeigte sich, dass weder die Initiatoren dieser Aktion noch jene, die sich bereitwillig an ihr beteiligten, den performativen Widerspruch bemerkt hatten, der sich – und das tatsächlich zwingend – ergibt, wenn man Demokratie zur Wahl stellen will. Sie steht dann überhaupt erst zur Disposition, denn wählen kann man etwas nur, wenn man es auch nicht wählen kann. Nicht minder selbstwidersprüchlich war das Ansinnen, den mit der Aufforderung zur Wahl der Demokratie verbundenen Aufruf zur Diversität ausgerechnet in eine Choreographie umzusetzen, bei der alle Beteiligten, lediglich durch Schilderfarben unterscheidbar, kollektiv das Gleiche tun sollten und es auch taten – womit sie eher den Verdacht nahelegten, keine mündigen Einzelnen, sondern Mitmacher zu sein.
Gemeint hatten es die Initiatoren dieser Kampagne aber ganz anders. Beabsichtigt gewesen war, im Namen der Demokratie zwischen Demokraten und denjenigen zu unterscheiden, die als Demokratiefeinde mit dem Ziel markiert werden sollten, sie nicht zu wählen, wahrscheinlich auch sozial zu ächten, womöglich sogar, sie mit Hilfe eines Parteiverbots aus dem wahlberechtigten Demos ganz zu entfernen. Das allerdings wäre undemokratisch, zumal das Kuriose eines solchen Ausschlusses darin bestünde, dass die, die man unausgesprochen im Blick hatte – Repräsentanten der AfD –, eine Erweiterung der demokratischen Partizipationsrechte durch Volksabstimmungen nach dem Vorbild der Schweiz fordern, während die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, die bei der Eröffnungsfeier der Buchmesse in der ersten Reihe saß und entschlossen ihr Plakat in den Saal reckte, Repräsentantin einer Partei ist, die mittlerweile immer deutlicher zum Ausdruck bringt, dass hehre Ziele wie die Rettung des Planeten vor einem Klimawandel von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr abhängig gemacht werden dürfen. Damit entsorgen die Grünen, die bis weit in die 1990er Jahre ein basisdemokratisches Selbstverständnis pflegten und sich das inzwischen von der AfD übernommene Attribut „alternativ" gaben, einen bedeutenden Teil der eigenen Geschichte.
„Claudia Roth ist Repräsentantin einer Partei ist, die mittlerweile immer deutlicher zum Ausdruck bringt, dass hehre Ziele wie die Rettung des Planeten vor einem Klimawandel von Mehrheitsentscheidungen nicht mehr abhängig gemacht werden dürfen.“
Eine vor dem Klimawandel gerettete Welt erklärte die Aktivistin Luisa Neubauer, die Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen ist, statt zum wünschenswerten Ziel demokratischer Willensbildung denn auch zur Voraussetzung für den Erhalt der Demokratie: „Je mehr Notstand da ist, desto weniger Demokratie haben wir. Deswegen sagen wir, wir brauchen so dringend den Schutz vor dem Notstand. Das ist ja Klimaschutz, [das] heißt, wir verhindern die schlimmsten Katastrophen, damit wir überhaupt die demokratischen Räume erhalten.“1Die Gegenwart des „Jetzt" wird damit umstandslos auf eine lediglich prognostizierte Zukunft ausgedehnt, und die richtige Wahl kann, wenn man „demokratische Räume erhalten" will, dann nur noch darin bestehen, die politischen Ziele Neubauers zu akklamieren, die eine immer stärkere Einschränkung der Sphäre demokratischer Mitwirkung vorsehen.
Verschwimmende Grenzen
Auch der von der Bundesregierung im Dezember 2023 beschlossene und unabhängig voneinander sowohl von Bundesinnenministerin Nancy Faeser wie auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus am 13. Februar 2024 gegenüber der Presse erläuterte Entwurf eines „Demokratiefördergesetzes" soll keineswegs dazu dienen, dem demokratischen Souverän der Bundesrepublik (also dem, wie es im Grundgesetz heißt: Volk) mehr Rechte zur Partizipation an politischen Entscheidungen zuzugestehen. Bestehende Rechte sollen ganz im Gegenteil beschnitten werden. So gilt nicht mehr allein Strafbarkeit als Kriterium für Handlungen und Äußerungen, die der Staat mit der Absicht derzeit noch unklarer Maßregelungen registriert, sondern präzise gar nicht zu fassende Tatbestände wie die Verbreitung von Hass und Hetze – und das ausdrücklich auch dann, wenn sie unter der Strafbarkeitsgrenze liegen. Faeser spricht zwar unermüdlich von rechtsextremistischem Hass und rechtsextremistischer Hetze, die sie bekämpfen wolle; dass es sich dabei aber nur vermeintlich um eine Konkretisierung handelt, wird deutlich, wenn der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, einräumt: „Bei der Phänomenbeschreibung des Rechtsextremismus müssen wir allerdings umdenken, denn hier findet gerade eine Veränderung der Personenzusammensetzung statt. Die Grenzen zwischen bislang ideologisch festgelegten Lagern innerhalb des Phänomens verschwimmen und erschweren die genaue Verortung."
Auf ein verschwommenes Phänomen, das nur ungenau verortet werden kann, sollte ein Rechtsstaat jedoch nicht „mit aller Härte" (Faeser) reagieren, sondern zunächst einmal, indem es genau und für die Justiz operationalisierbar bestimmt wird. Das fängt schon damit an, klar zwischen rechten, rechtsradikalen und rechtsextremen Strömungen zu unterscheiden, was weder im ubiquitär gewordenen „Kampf gegen rechts" geschieht noch beim Bundesverfassungsschutz, der selbst einen engagierten Konservativen wie seinen eigenen ehemaligen Präsidenten Hans-Georg Maaßen ungeniert als rechtsextremistischen Verdachtsfall unter Beobachtung gestellt hat, weil er die Behörde weiterhin beharrlich an die Grundsätze erinnert, für die er als deren Leiter einstmals einzutreten verpflichtet war.
„Dass sich der Verfassungsschutz nicht nur mit tatsächlichen Extremisten beschäftigt, also mit gewaltbereiten oder gar gewalttätigen Feinden des Staates, ist nichts Neues.“
Dass sich der Verfassungsschutz nicht nur mit tatsächlichen Extremisten beschäftigt, also mit gewaltbereiten oder gar gewalttätigen Feinden des Staates, ist allerdings nichts Neues. 27 Jahre lang beobachtete er etwa Bodo Ramelow, der 2014 zum Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt wurde, bis das Bundesverfassungsgericht auf seine Klage hin feststellte, diese Beobachtung sei „nicht gerechtfertigt“ und „unverhältnismäßig“ gewesen. Noch länger beschäftigte sich der Verfassungsschutz mit dem Rechtsanwalt Rolf Gössner, den er 38 Jahre als linksextremistischen Verdachtsfall ausforschte. Auch dies geschah, wie schließlich gerichtlich festgestellt wurde, rechtswidrig. Mathias Brodkorb, Mitglied der SPD und von 2011 bis 2016 erst Kultus-, dann bis 2019 Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, hat diese beiden Fälle neben vier weiteren zusammenfassend beschrieben, 2 darunter dem des sich selbst unverblümt als „rechts" bezeichnenden Instituts für Staatspolitik in Schnellroda, unter dessen Dach bis vor kurzem auch die Zeitschrift Sezession erschien. Auch hier kommt Brodkorb zu einem bestürzenden Resultat, denn die Einordnung als „gesichert rechtsextrem“ basiert wie auch bei der AfD im Wesentlichen darauf, dass dort unter einem „Volk" nicht nur die Summe der Staatsbürger verstanden wird, sondern auch ethnokulturelle Merkmale eine Rolle spielen, die die Bundesregierung selbst zugrunde legt, wenn sie Jahr um Jahr Auslandsdeutsche mit Millionenbeträgen als Volkszugehörige unterstützt. Die amtierende Bundesregierung müsste also nach diesem Maßstab als gesichert rechtsextrem eingestuft werden, weil sie im Ausland finanziert, was sie im Inland als verfassungsfeindlich verfolgt.3
Delegitimierung des Staates als neues Delikt
Ein performativer Widerspruch zeigt sich auch in diesem Fall, aber damit nicht genug. Denn der Verfassungsschutz registriert seit 2021 in Reaktion auf Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ein neues Delikt: das der Delegitimierung des Staates. Wie weit es gefasst ist, was darunter verstanden werden kann, illustriert Brodkorb anhand eines Beispiels aus dem Verfassungsschutzbericht 2021:4
Wer sich im Zusammenhang mit der Überflutung des Ahrtals privat als ‚Kümmerer‘ betätigt und ‚Geld und Sachspenden an die örtliche Bevölkerung‘ verteilt hat, ist dem Inlandsgeheimdienst verdächtig. Wer so handelte, habe ja ‚aktiv den Eindruck‘ erweckt, ‚dass staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden beziehungsweise mit der Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien‘. Das käme einer ‚Delegitimierung des Staates‘ gleich. […] Der Verfassungsschutz erklärt [somit] alle Bürger zu Verfassungsfeinden, die es wagen, der Regierung vorzuwerfen, sie sei mit irgendetwas ‚komplett überfordert‘ – und zwar selbst dann, wenn es die Wahrheit ist.
Nicht nur wegen solcher Auswüchse plädiert Brodkorb, wie auch der für rechtsextremistische Umtriebe bislang nicht bekannte Politikwissenschaftler Claus Leggewie und der Jurist Horst Meier, dafür, den Verfassungsschutz abzuschaffen und die Aufgabe, Personen zu verfolgen, die aus politischen Gründen Straftaten vorbereiten oder begehen, wie in allen anderen demokratischen Staaten der Welt einer Einrichtung zu überlassen, die es bereits gibt: der Polizei.5
Entdemokratisierung der Demokratie
Die hierzulande übliche Konzentration auf den „Kampf gegen rechts" folgt ohnehin einer eigentümlich verengten Sicht. Rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ in Österreich, der RN in Frankreich, die PVV in den Niederlanden und die AfD in Deutschland bekamen und bekommen nur in Nordeuropa großen Zulauf. In Südeuropa dagegen dominieren linkspopulistische Parteien wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien. Warum das so ist, beschäftigte den Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow, der dafür einen „ökonomischen Ursachenkomplex" ausmacht, der „vielfach ausgeblendet" werde. Populismus, sowohl rechter wie linker, sei „im Wesentlichen als Protestartikulation gegen Globalisierung zu interpretieren, und zwar gegenüber zwei ihrer hauptsächlichen Erscheinungsformen: dem internationalen Handel und der Migration. […] Migration wird dort politisch zum Problem, wo der Wohlfahrtsstaat großzügig und zugänglich ist (Kontinental- und Nordeuropa).“ In Südeuropa dagegen sei der Wohlfahrtsstaat „zwar ebenfalls großzügig, aber für Migranten im Regelfall nicht zugänglich“. Konflikte erwachsen hier aus der Einführung des Euros als europäischer Gemeinschaftswährung, weil der Staat nicht mehr eine höhere Verschuldung durch Abwertung der Landeswährung kompensieren könne, was sich dann in einem linkspopulistischen Protest gegen die dadurch erzwungene Austeritätspolitik entlade. Nochmals anders stelle sich die Lage dar, wenn man auf die osteuropäischen und angelsächsischen Länder blicke. Hier entzündeten sich die Konflikte vornehmlich am Arbeitsmarkt, nicht am Sozialstaat, in Großbritannien als Folge der innereuropäischen Migration, in Osteuropa als Folge des ökonomischen Umbruchs nach 1990 insbesondere in Industrie und Landwirtschaft.
„Verrechtlichung dient nicht nur zur Absicherung demokratischer Strukturen, sondern auch dazu, postdemokratisch politische Ziele vorzugeben und die Entscheidungsmöglichkeiten des politischen Souveräns dadurch einzuschränken.“
Bei allen Unterschieden gebe es aber eine Gemeinsamkeit: die sozioökonomischen Ursachen des populistischen Protests, auf den dann nicht politisch, sondern „nur im Register der Moral“ reagiert werde.6 Sozioökonomische Ursachen sind es für Manow jedoch nicht allein, die diesen Protest befördern. Hinzu komme eine Verrechtlichung politischer Fragen, durch die sie der politischen Diskussion und Entscheidung mit der Folge einer „Entdemokratisierung der Demokratie“ entzogen würden. Den gleichen Effekt zeitige die „Erosion der nationalstaatlichen Souveränität“7 durch Verschiebung politischer Entscheidungen auf eine transnationale Ebene.
Für beides liefert die UN-Behindertenrechtskonvention ein anschauliches Beispiel. Sie wurde im Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter deutscher Beteiligung verabschiedet und im Februar 2009 vom Deutschen Bundestag und dem Deutschen Bundesrat ratifiziert. Seitdem wird in Deutschland eine Diskussion darüber geführt, ob Förderschulen (früher: Sonderschulen) nicht völlig abgeschafft werden müssen, weil alle Menschen, auch die mit Schwerstbehinderung, inklusiv zu beschulen seien. Die Umsetzung des Rechts auf inklusive Beschulung bereitet jedoch große Schwierigkeiten, weil Lehrer an Regelschulen meist nicht über eine sonderpädagogische Ausbildung verfügen und die neuen pädagogischen „Bedarfe“ auch nicht bzw. nur ungenügend auf andere Weise kompensiert werden können. So führte der Universalismus der um die Behindertenrechtskonvention erweiterten Menschenrechte zu einer andauernden Beeinträchtigung des Schulsystems und einem Zustand permanenter Rechtsinkonformität, solange eine vollständige Inklusion nicht gelingt.
Das Gespenst der Demokratie
Manow nennt andere Beispiele, unter ihnen die europäische Migrationspolitik, vor allem aber beobachtet er, dass Demokratie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunehmend nicht mehr als elektorale Demokratie, sondern als eine auf moralischen Werten basierte Rechtsordnung verstanden werde, die, wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch meint, mit unabhängigen Gerichten und anderen Institutionen, die „vor jeder Einmischung der Mandatsträger geschützt werden“ müssten, „die Demokratie schützen“ solle.8 Dieser Einschätzung liegt die richtige Beobachtung zugrunde, dass demokratische Entscheidungen durch Lobbygruppen beeinflusst werden, die entweder direkt Regierungshandeln oder durch Kampagnen die öffentliche Meinung zu steuern versuchen. Crouch übersieht aber zum einen, dass es zum Beispiel die deutsche Bundesregierung inzwischen selbst mit millionenschweren Förderprogrammen unternimmt, auf die politische Willensbildung postdemokratisch in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen, um dann die so protegierten politischen Programme nicht nur als eigene, sondern als Forderungen der sogenannten Zivilgesellschaft auszugeben. Zum anderen verkennt er, dass Verrechtlichung nicht nur zur Absicherung demokratischer Strukturen dient, sondern auch dazu, postdemokratisch politische Ziele vorzugeben (wie etwa mit dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021) und die Entscheidungsmöglichkeiten des politischen Souveräns dadurch einzuschränken.
„Wie Colin Crouch, der den Begriff prägte, spricht auch der französische Philosoph Jacques Rancière von Postdemokratie.“
Wie Crouch, der den Begriff prägte, spricht auch der französische Philosoph Jacques Rancière von Postdemokratie. Für ihn bedeutet Politik das Austragen von Streit; Postdemokratie definiert er dagegen als „die Regierungspraxis und die begriffliche Legitimierung einer Demokratie nach dem Demos, einer Demokratie, die die Erscheinung, die Verrechnung und den Streit des Volks liquidiert hat, reduzierbar also auf das alleinige Spiel der staatlichen Dispositive und der Bündelung von Energien und gesellschaftlichen Interessen. Die Post-Demokratie ist keine Demokratie, die im Spiel der gesellschaftlichen Energien die Wahrheit der institutionellen Formen gefunden hat. Sie ist eine Weise der Identifizierung der institutionellen Dispositive mit der Aufstellung der Teile und der Anteile der Gesellschaft, die geeignet ist, das der Demokratie eigene Subjekt und Handeln verschwinden zu lassen.“ 9
Geschehe das durch Juridifizierung, wendet Manow dagegen ein, werde „[n]icht mehr über das, was gewollt wird, […] gestritten, sondern es geht nur noch darum, was man jeweils als rechtlich erlaubt oder verboten darstellen kann.“10 Und da durch diesen neuen, zuerst von Francis Fukuyama „liberale Demokratie“11 genannten Typus der Demokratie die Menschen mit immer mehr Entscheidungen konfrontiert werden, auf die sie durch ihr Wahlverhalten keinen Einfluss mehr nehmen können, führe er als Gegenbewegung folgerichtig zu dem, was als „Anwachsen des Populismus“ zugleich beklagt und diskreditiert werde. Dieser Populismus ist für Manow aber nicht der der Gegner, sondern nur „das Gespenst der liberalen Demokratie – weil er als Wiedergänger der vom Liberalismus erstickten Politik verstanden werden muss“.
Den Beginn der postdemokratischen Erosion der Demokratie datiert Manow genau: Er setze nach dem Zerfall der Sowjetunion ein und zeige sich u.a. daran, dass die Zahl von Staaten mit der Möglichkeit verfassungsrechtlicher Interventionsmöglichkeiten gegen politische Entscheidungen in dieser Zeit sprunghaft zugenommen habe. Die Folge sei, dass inzwischen „eine andere Demokratie“ als vor fünfzig Jahren herrsche, eine, in der „vage Wertbezüge“ erst rechtsförmig und dann zu „Rechtspflichten“ gemacht würden. Erst diese „Proliferation der Werte“ führe im Gegenzug zu „Proliferation der Feinde“.12