22.02.2023
Schluss mit dem Netto-Null Aktionismus!
Von Thilo Spahl
Warum wir einen praktikablen Plan für den Klimaschutz brauchen.
Wir erleben in den letzten Jahren in der Politik einen Überbietungswettbewerb. Jeder verspricht, dafür zu sorgen, dass ganz schnell kein CO2 mehr ausgestoßen wird, um die Welt zu retten. Im Jahr 2050, 2045, 2030 müssten wir bei „Netto-Null“ sein, also in Summe nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen werden, als durch natürliche und künstliche Senken (Carbon Capture) wieder gebunden wird. Heerscharen von Menschen in Politik, Thinktanks, NGOs, Wissenschaftseinrichtungen, Unternehmen und Medien widmen sich der Propagierung und Planung von unzähligen Maßnahmen und Initiativen, die letztlich dazu dienen sollen, die ganze (störrische) Gesellschaft umzukrempeln und nebenbei die ganze Wirtschaft umzubauen, um das Wunder zu vollbringen. Der Haken daran: Es wird zuverlässig schiefgehen. Und zwar wegen eines Übermaßes an Moral und Aktivismus und eines Mangels an Pragmatismus.
Das Gegenmodell lautet: Keep it simple and effective. Diesen Ansatz verfechten u.a. die beiden Autoren Russell Schussler and Roger Caiazza mit ihrem „Gut-genug-Plan“. Beide widmen sich seit Jahren dem Thema. Schussler schreibt als der „Planning Engineer“ auf dem Blog New York Energy Policies und Caiazza als „Pragmatic Environmentalist of New York“ auf dem gleichnamigen Blog.
„Die Energiewende wird zuverlässig schiefgehen. Und zwar wegen eines Übermaßes an Moral und Aktivismus und eines Mangels an Pragmatismus.“
Die beiden argumentieren: Je ernster man den Klimawandel nimmt, desto wichtiger ist ein guter kurz- und mittelfristiger Plan für die Stromerzeugung. Unüberlegte Maßnahmen in der nahen und mittleren Zukunft helfen weder bei der CO2-Reduzierung noch beim Klimawandel und seien möglicherweise schlimmer, als gar nichts zu tun. Stattdessen sollten wir pragmatisch eine Kompromisslinie fahren, die weniger Weltrettungspathos bietet, aber dafür zuverlässig, bezahlbar und umweltgerecht ist. Sie nennen diesen Ansatz den „Gut-genug-Plan“. Man könnte auch „realistischer Plan“ sagen.
Kernenergie hochfahren
Die Grundannahme ist, dass man eine starke Reduktion der CO2-Emissionen mit einem stabilen Stromversorgungssystem verbinden muss. Die beste Maßnahme, um das zu erreichen, ist, kurz- und mittelfristig so viel nukleare Erzeugung wie möglich aufzubauen, weil Kernenergie sowohl fast emissionsfrei ist als auch größtmögliche Verfügbarkeit bietet und so das Netz stabil halten kann. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass eine weitgehende Dekarbonisierung der Elektrizitätsversorgung in relativ kurzer Zeit mit Kernenergie, und bisher nur mit Kernenergie möglich ist. Frankreich hat dies innerhalb von weniger als 20 Jahren geschafft. Und in Frankreich kostete die Kilowattstunde für Haushaltskunden bei 70 Prozent Kernenergie im zweiten Halbjahr 2021 (also vor dem Ukrainekrieg) 20,22 Cent, während hierzulande dank 29 Prozent „in Wirklichkeit viel billigerer Erzeugung“ mit Wind und Sonne laut Statistischem Bundesamt 32,34 Cent fällig waren. Gleichzeitig liegen die CO2-Emissionen pro Kopf in Frankreich bei 5,8 in Deutschland jedoch bei 8,8 Tonnen (Werte von 2019, also, bevor die letzten vier deutschen KKW abgeschaltet wurden).
Abb. 1: Französischer Strommix, gelb der Anteil von Atomstrom, Quelle.
Statt Kernenergie einseitig Wind und Sonne auszubauen, ist kontraproduktiv. Es führt dazu, dass es immer aufwändiger und teurer wird, das Netz stabil zu halten, was letztlich auch heißt, dass wir darauf angewiesen sind, dass unsere Nachbarn eben gerade nicht unserem Vorbild folgen. Der deutsche Traum von 100 Prozent Erneuerbaren ist derzeit vielleicht die größte Bedrohung für eine effektive Dekarbonisierungsstrategie. Außerdem ist abzusehen, dass die von der Bundesregierung formulierten Ziele (80 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren in 2030) längst nicht erreicht werden.
Wo Kernkraft nicht schnell genug ausgebaut werden kann, sollte man sich an Gas halten. Gaskraftwerke sind flexibel und emittieren nur etwas mehr als halb so viel CO2 wie Braunkohle (oder Holz). Gas ist ein guter Kompromiss und der beste Weg, um zeitnah auf Kohle verzichten zu können, auf die dann mit Ausbau der Kernenergie zunehmend verzichtet werden kann, wobei auch alte Kohlekraftwerke auf Nuklear umgerüstet werden können. Noch besser ist Gas, wenn man die heimische Förderung hochfährt.
Neue Technologien für billigere Erzeugung entwickeln
Der große Vorteil des Gut-genug-Plans ist, dass er nicht eine Komponente ins Zentrum stellt, die es noch nicht gibt, nämlich gigantische und dennoch bezahlbare Speicher, die nach wie vor nur in der Phantasie von Energiewunderlobbyisten existieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass er nicht auf Energiesparen an allen Ecken und Enden setzt. Das erfreut sich bei allen, die durch „bewussten Konsum“ Teil der Klimarettergemeinde sein wollen, zwar besonderer Beliebtheit, verschleiert aber letztlich die wahre Herausforderung nur. Tempolimits, Verzicht auf Kurzstreckenflüge, Veganismus etc. sind primär Wohlfühlaktionen. Dekarbonisierung muss auf Erzeugerseite ansetzen. Die Verbraucherseite eignet sich zwar für vielfältigen Aktionismus und epidemisch gewordenes Virtue Signalling, ist für den Erfolg aber nachrangig. Die Welt der Zukunft wird keine Niedrigenergiewelt. Angesichts der gravierenden Energiearmut in großen Teil der Welt wird der globale Bedarf noch lange und stark ansteigen.
„Die Welt der Zukunft wird keine Niedrigenergiewelt. Angesichts der gravierenden Energiearmut in großen Teil der Welt, wird der globale Bedarf noch lange und stark ansteigen.“
Hierzu merken die Autoren an, dass die Forschung und Entwicklung sauberer Technologien für die künftige Energieerzeugung und Energiespeicherung auf jeden Fall ein wichtiger Teil des Plans seien, derzeit diese Technologien einfach noch nicht bereit sind, um zuverlässige und erschwingliche Energie zu liefern. Entscheidend ist nämlich nicht, ob in einem der (noch) reichsten Länder der Welt Hunderte von Milliarden zur Subventionierung von emissionsarmer Energieerzeugung mit Wind und Sonne ausgegeben werden, die angeblich „in Wirklichkeit“ viel billiger seien als fossile Energien und Kernkraft. Entscheidend ist, was in den Ländern geschieht, die sich diesen Luxus nicht leisten können. Ärmere Länder und damit der Großteil der Welt werden emissionsfreie Technologien erst dann in großem Stil einsetzen, wenn sie Strom zu einem geringeren Preis als die vorhandenen Ressourcen liefern können. Pragmatisch ist es, solche Technologien erst zu entwickeln und dann einzuführen. So wie es eben pragmatisch ist, bestehende Systeme erst dann abzuschalten, wenn man Ersatz hat, der auch einsatzfähig ist. Außerdem seien viele der „grünen“ Technologien nicht annähernd so „sauber", wie sie gemeinhin dargestellt werden, wenn man ihre Auswirkungen über den gesamten Lebenszyklus betrachtet.
Das System stabil weiterentwickeln
Pragmatisch ist es auch, ein vorhandenes hoch komplexes System wie die die Elektrizitätserzeugung und -verteilung in einem riesigen kontinentüberspannenden Stromnetz stückweise so weiterzuentwickeln, dass man auf technologische Fortschritte reagieren und diese sukzessive einbeziehen kann. So werden auch fluktuierende Quellen wie Wind und Sonne ihren angemessenen Platz finden. Für Wendemanöver ist die wichtigste Infrastruktur der Menschheit indes nicht geeignet. Ein Totalumbau erscheint den Autoren als Hybris. Bürokratisch verordnete „ambitionierte“ Ausbauziele und Vorschriften für destabilisierende Bestandteile sind nicht der Weg, wie man so ein System weiterentwickelt. Das gilt für die Elektrizitätserzeugung ebenso wie für die angestrebte Elektrifizierung von Verkehr, Wärmeversorgung und Industrie. Überall wird zwar viel Fortschrittlichkeit signalisiert, aber dabei leider vergessen, wie Fortschritt in der Realität funktioniert.
Das Kernproblem der Energiewende besteht darin, dass die gesicherte Leistung, also die zu jedem Zeitpunkt verfügbare Kraftwerkskapazität, die für die Stabilität des Gesamtsystems zentral ist, bei Sonnenenergie Null beträgt, bei Wind ein bis drei Prozent, bei Erdgas dagegen 93 und bei Kernenergie 95 Prozent. Um diesen eklatanten Mangel auszugleichen, muss die Komplexität des Systems auf sehr gefährliche Weise noch einmal enorm gesteigert werden. Damit verringern sich Sicherheit und Effizienz.
„Polen oder auch Frankreich, wo Macron La France Nucléaire ausgerufen hat, werden am Ende ein überlegenes Stromversorgungssystem haben.“
Wäre das Energiesystem ein Auto, dann würde ein Umbau nach dem Muster der derzeitigen Energiewende ungefähr folgendem Motto folgen: Holz ist doch viel „nachhaltiger“ als Metall und Kunststoff. Wir müssen bis 2030 alle Metallteile und bis 2040 alle Kunststoffteile durch Holz ersetzen. Man kann sich ausmalen, was man an dem Auto dann noch alles ändern muss, damit es überhaupt noch fährt.
Das Fazit von Schussler and Caiazza lautet:
Der vorgeschlagene Gut-genug-Plan gibt eine Richtung vor, ist aber nicht übermäßig restriktiv. Es ist schwer, die Zukunft zu kennen, aber es ist eine sichere Wette, dass jeder Plan einige kritische Entwicklungen nicht vorwegnimmt, die sich im Laufe der Zeit ergeben werden. Dieser Plan würde eine solide Grundlage schaffen. Eine deutliche Hinwendung zu Kernkraftwerken, die für die Grundlastversorgung offensichtlich die beste Wahl sind, ergänzt durch Erdgasanlagen, und die Beibehaltung von Kraftwerksstandorten sollten den Rahmen für einen Gut-genug-Plan bilden. Gut-genug-Pläne sind auch flexibel, so dass die Integration neuerer Technologien zu gegebener Zeit ein vernünftiger, ohne größere Nachteile erreichbarer Weg ist. Mit einem solchen Plan, der gut genug ist, können Sie vielleicht schon vor den ehrgeizigeren Plänen Netto-Null erreichen. Er wird im Laufe der Zeit wahrscheinlich weniger Kohlenstoffemissionen verursachen als die ehrgeizigeren Pläne. Er wird mit Sicherheit zuverlässiger und erschwinglicher sein.
Hierzulande mag der simple Plan der New Yorker bei den Klimarettern und Energiewendeprofiteuren mit ihren hochtrabenden, „alternativlosen“ Visionen Kopfschütteln hervorrufen. Die Zeit wird zeigen, dass Deutschland auf seinem Weg scheitern wird, und viele andere Länder, etwa unser Nachbarland Polen oder eben auch Frankreich, wo Macron La France Nucléaire ausgerufen hat, am Ende ein überlegenes Stromversorgungssystem haben werden.