15.02.2016

Reflektieren bis der Arzt kommt

Analyse von Burkhard Voß

Burn-Out-Coaches, Achtsamkeitskurse und Quantified-Self-Bewegung: Unsere Gesellschaft wird zunehmend durchpsychologisiert. Die Menschen kreisen zunehmend nur noch um ihre eigenen Befindlichkeiten. Ein Psychiater rät uns allen zu weniger Reflexion.

Ja, es gibt sie, die Krachmacher, die Lauten, die Rüpel, die Handyterroristen, Kampfradler, aggressiven Huper und lethargisch-ignoranten Nichtblinker, dickfelligen Eltern und Hundebesitzer, die ein Restaurant in Nullkommanichts in eine Mischung aus Kita für schwer erziehbare Kinder und Hundezwinger verwandeln. Die glauben, sie dürften alles, bloß weil sie es in ihrem Selbstverwirklichungsplan so ausgebrütet haben. Die ihre Verdauungsphysiologie in botanischen Irrenhäusern, auch Dschungelcamp genannt, lauthals kundtun und dafür – wie selbstverständlich – prämiert werden. Doch immer stärker nervt auch eine seit Jahren stetig größer werdende Gruppe der Gesellschaft, die sich hyperreflexiv und dauersensibel von allem genervt fühlt, sei es Zigarettenqualm, Parfümduft, Kindergeschrei, Klartext, Vogelgezwitscher oder der Ehepartner.

Ganz nervig für sie, geradezu die Hölle auf Erden, ist natürlich der Arbeitsplatz, von Burn-out ganz zu schweigen. Auch erklären sie andauernd, warum etwas wann genau nicht geht. Der Grund ist natürlich, dass ihnen das „nicht gut tut“. Ihre eigene Befindlichkeit ist ihnen sehr wichtig, die der anderen, nun ja, man muss schon Prioritäten setzen. Sowieso scheint sich alles nur noch um subjektives Fühlen und Erleben zu drehen. Wie fühlt sich das an, fühle ich mich da wohl, was macht das mit mir, möchte ich das jetzt wirklich? Das sind wohl die Maximen der Wellness-Ära.

Es ist sicher kein Zufall, wenn die Kolumnistin und Bestsellerautorin Amelie Fried, ihres Zeichens Psychologin, von einer „Wohlfühldiktatur“ spricht. Unter Psychologen und Therapeuten ist sie mit dieser Meinung aber ganz klar in einer Außenseiterposition. Denn diese stricken in ihrer Ratgeberliteratur die Märchen von Burn-out, Achtsamkeit als Lebenschance und Depression als unvermeidbarem Tribut an die Leistungsgesellschaft ständig weiter. Womit wir bei den psychotherapeutischen Krankheitserfindern sind, die mit immer aberwitzigeren Kreationen (z.B. Gesamtschulphobie) eine ganze Gesellschaft mit System erst durchpsychologisieren und dann psychopathologisieren.

„Das Natürliche und Selbstverständliche wird zu Grabe getragen“

Doch dies funktioniert nicht nur in eine Richtung, auch umgekehrt wirken Zeitgeistverirrungen auf die Psychologie ein. Wie postmoderne Philosophie, bei der nur noch subjektive Sichtweisen gelten, oder Gender-Mainstreaming, bei dem das natürliche Geschlecht nicht mehr existiert, um nur die Wichtigsten zu nennen. Diese reichen auch schon vollkommen aus, um die Normalität Stück für Stück abzutragen. Was das dann für eine Gesellschaft bedeutet, kann noch nicht genau prognostiziert werden. Eines kann man aber schon jetzt sagen: Das Ergebnis wird den Dauerreflexiven und Hypersensiblen ganz bestimmt nicht gefallen. Denn in einer Gesellschaft, in der sich jeder seine Privatwirklichkeit zurechtzimmert und immer größere Gruppen nicht mehr miteinander reden können, wird es immer anstrengender werden.

Reflektieren bis der Arzt kommt

Ich bezeichne diese Verhältnisse als Reflexivkultur. Es geht um die Überhöhung und kultische Verehrung des reflexiven Denkens, welches die Aufmerksamkeit von der Umwelt auf das eigene Selbst bzw. Subjekt lenkt. Durch das vermehrte Überdenken und Betrachten der subjektiven, innerseelischen Vorgänge soll sich die betreffende Person klar werden über die eigenen Motive, die zu der jeweiligen Handlung führen. Wo „ES“ war, soll „ICH“ werden, wie die Psychoanalytiker zu sagen pflegen. Die unbewussten Triebfedern der Existenz sollen bewusst werden, wozu auch das sich Hineinversetzen in andere Menschen unter Berücksichtigung ihrer Biografie und ihres kulturellen Hintergrundes gehört. Grundsätzlich eine sinnvolle Angelegenheit. Doch auch für nichtstoffliche Vorgänge gilt der Grundsatz des Paracelsus: Die Menge macht das Gift. Auch reflexives Denken kann übertrieben werden.

So hört sich ein vertrautes Wort fremd und eigenartig an, wenn man es einige Male hintereinander ausspricht und jeden Buchstaben bzw. Silbe auf ihren Klang prüft. Oder wenn man einen Gegenstand längere Zeit anschaut, gewinnt man plötzlich den Eindruck, dass er sich zu bewegen scheint, was objektiv definitiv nicht der Fall ist. Genauso kann das reflexive Bewusstsein, im Übermaß auf selbstverständliche Lebensprozesse angewandt, eine zersetzende Wirkung ausüben, sodass man im wahrsten Sinne des Wortes den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Zielgerichtetes Handeln wird dann unmöglich. Man verliert den Überblick über das, was man spontan gerne mag oder tun möchte.

Das Natürliche und Selbstverständliche wird zu Grabe getragen und künstliche Probleme sprießen hervor. Mit solchen setzt sich etwa die Quantified-self-Bewegung auseinander, deren Anhänger ihre physiologischen Abläufe wie Blutdruck, Puls, Temperatur, Gewicht, Kalorienaufnahme und -verbrauch minutiös katalogisieren und auswerten, um so ihre körperliche Fitness zu optimieren. Wobei sich die Frage aufdrängt, was hieran eigentlich „Bewegung“ bedeuten soll, ein Begriff, der bis vor kurzem noch mit Politik verbunden war. Bei Quantified Self kreisen Neonarzissten um sich selbst, werden gemeinsam nichts bewegen, außer zusätzliches Geld, welches aus den Gesundheitssystemen heraus und in die Therapie ihrer hypochondrischen Befürchtungen hineinfließt. Doch nicht nur sie haben den Bezug zu natürlicher Selbstverständlichkeit verloren. In der Reflexivkultur kann grundsätzlich alles problematisiert werden. Vorzugsweise natürlich die eigene Befindlichkeit.

„Der Opferstatus wird zäh verteidigt“

Aus der Fülle dieser Befindlichkeitsstörungen wachsen die nächsten Kunstpflanzen, die natürlich auch in den Status von psychischen Erkrankungen erhoben werden. Um ihrer Herr zu werden, werden die diagnostischen Kriterien immer weiter abgesenkt. Doch auch was nicht als krank angesehen wird, kann permanent kommuniziert werden, seien es echte oder eingebildete Mängel jedweder Couleur. In der Reflexivkultur geht es nicht mehr um die Hinwendung zur Welt, sondern um Kommunikation als solche, losgelöst von der Lösung. Beispielhaft hierfür ist die Beratungs- und Coachwelle, bei der die Akteure nicht allzu viel tun können und die Klienten, die sich an sie wenden, nicht allzu viel wissen – oder zu faul sind, sich ihrer eigenen mentalen Fähigkeiten (falls vorhanden) zu bedienen. Kant ist immer noch aktuell. Falls die Beratung nicht zu 100-prozentigem Erfolg führt, was häufig der Fall ist, sieht man sich als traumatisiert an und ist Opfer der Umstände. Der Opferstatus wird zäh verteidigt.

In der Losschlagkultur geschah Verteidigung noch mit Zähnen und Klauen, in der Reflexivkultur stehen hierfür Advokaten und Therapeuten zur Verfügung. Doch es hilft nichts, Europa ist das Staatengebilde mit dem größten Reichtum, den höchsten Sozialabgaben und den längsten Urlauben. Ideale Rahmenbedingungen für einen Rosengarten der Selbstaufmerksamkeit, der durch die Reflexivkultur sorgsam gehegt und gepflegt wird. Bei der Bewältigung der Realität hilft dies jedoch nur bedingt. So erreichten in einem psychologischen Experiment, bei dem es um die Wiedererkennung von Gesichtern ging, diejenigen Testpersonen die höchsten Trefferquoten, die ein Gesicht spontan identifizieren sollten. Diejenigen, die ein Gesicht erst in Worte fassen sollten (was inhaltlich einem Reflektieren nahekommt), schnitten weitaus schlechter ab. Hier schlägt Intuition Sprache. Und nicht nur in diesem Fall. So sind die partnerschaftlichen Beziehungen, in denen am meisten psychologisiert und reflektiert wird, erfahrungsgemäß die schlechtesten. Fazit: Wer nicht reflektiert, ist klar im Vorteil.

Ausweg Zivilisation

Was tun? Bereits Mitte der 1970er-Jahre beklagte der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Werk Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, dass der moderne Mensch der westlichen Welt überwiegend mit sich selbst beschäftigt sei. Sich selbst kennenzulernen dient nicht mehr dazu, ein Mittel zu sein, um die Welt zu verstehen, sondern ist zu einem Selbstzweck geworden. Sennett kritisiert die Durchpsychologisierung der Gesellschaft, der zufolge es nicht mehr darauf ankomme, was man tut, sondern darauf, wie man sich dabei fühlt oder was das gerade „mit einem macht“. Gepaart wird dies mit der säkularen Erwartung, dass alles wichtig sei, weil es wichtig sein könnte. Diese Worte wirken heute prophetisch. Wenn alles wichtig ist, gibt es keine Trennung mehr von Unwichtigem. In der Reflexivkultur verschwimmen alle Kategorien.

Vor diesem Hintergrund plädiert Sennett für Neuorientierung, haut das narzisstische Selbst vom Sockel und entwirft ein neues Zivilisationskonzept. Als zivil gilt nun, die Mitmenschen mit dem eigenen Selbst und seinen Problemen zu verschonen. Denn immer zahlreicher wird die Zahl von Gruppen in der Gesellschaft, die lauthals schreiend auf ihre Benachteiligungen aufmerksam machen. So gut wie nie wird mal die Frage gestellt: Wer kümmert sich eigentlich um die, die es nicht mehr hören können? Eben dieses nachdenkenswerte Konzept von Zivilisation. Gemessen daran befinden wir uns im Moment im Zustand der tiefsten Barbarei, wo jeder Tiffeltöffelkram zur traumatischen Erfahrung stilisiert wird. Bei der es nicht mehr auf das Handeln ankommt, sondern darauf, was man dabei spürt. Wo Supervisionen und Meetings sich die Hand reichen. Und es sind gewiss paradiesische Zeiten für Therapeuten, Coaches, Berater und deren „Literatur“. So stieg der Anteil an Selbsthilfeliteratur im Ratgeberbereich in den USA zwischen 1972 und 2000 von 22 auf 50 Prozent. Die Entwicklung in Deutschland dürfte nicht viel anders sein.

„Wer kümmert sich eigentlich um die, die es nicht mehr hören können?“

Natürlich ermöglicht Psychotherapie, den einen oder anderen wieder in die Arbeit zu bringen. Aber andererseits ist der sekundäre Krankheitsgewinn (krankgeschrieben und nicht mehr arbeiten zu müssen) für viele so verlockend, dass auch empathisch-kommunikative Hochartistik diese Individuen nicht erreichen wird. Natürlich werden jetzt die Achtsamkeitsaspiranten aufschreien und eine drastische Zunahme der psychosomatischen Krankheiten beklagen. Doch auch für die Achtsamkeit gilt, was für alle verherrlichten Ideen gilt, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft zu einem schillernden rosa Elefanten aufgeblasen werden. Man kann nicht skeptisch genug sein. So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass gerade ein nichtachtsamer Umgang bei der Genesung hilfreich ist. Israelische Kardiologen teilten Patienten nach Herzinfarkten in zwei Gruppen ein: In der einen machten die Patienten weiter wie bisher. In der anderen hielten sie sich peinlich genau an die therapeutischen Empfehlungen, hörten dauernd in sich hinein und beobachteten achtsam ihren eigenen Zustand. Das Ergebnis war, dass die Nicht-Achtsamen länger lebten. So ist das nun mal mit rosa Elefanten: Ihre Häufigkeit und der Glaube an sie wird alleine dadurch entschieden, ob sich eine Gesellschaft dies erlauben kann. Die Zukunft gehört aber nicht den rosa Elefanten. Dafür rückt Sennetts Zivilisationskonzept allmählich näher.

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