13.10.2022

Putins Krieg und das Schiefergas

Von Christian Zeller

Ein Teil der ukrainischen Fracking-Gas-Vorkommen liegen im von Russland nun annektierten Gebiet. Deren Kontrolle ist eine wirtschaftliche und machtpolitische Frage.

Putin setzt sein Gas als Waffe gegen den Westen ein, so ist es allenthalben in bundesdeutschen Medien zu vernehmen. Falsch ist das freilich nicht: In Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine haben westliche Länder Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor in Gang gesetzt, die das russische Regime mit einer Drosselung und jüngst sogar der Aussetzung von Gaslieferungen beantwortet. Deutsche Interessen sind dadurch bis ins Mark berührt. Eine Gasmangel-Lage, die in diesem Winter droht, wäre für die energieintensive deutsche Wirtschaft eine Katastrophe. Und knapp 20 Millionen private Haushalte sind auf den Rohstoff Gas zum Heizen angewiesen. Der politische Druck ist enorm. Wie das Kaninchen auf die Schlange starren die Leitmedien deshalb auf diese Geschehnisse und die mit ihnen verbundenen politischen Verwerfungen innerhalb der Ampel-Regierung.

Unterdessen läuft ein ganz anderer Teil des Gaskriegs nahezu vollständig unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung ab. Denn Putin führt nicht nur einen Wirtschaftskrieg mit seinem Gas, sondern auch einem Krieg um Gas.1 Diesem kommt im Krieg gegen die Ukraine eine geopolitische Bedeutung zu, die angesichts der jüngsten Annexion der vier ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson mittels „Referenden“ der Rekonstruktion bedarf.

Blicken wir zurück ins Jahr 2013, ein Jahr, bevor Putins berühmte grüne Männer, russische Soldaten ohne Hoheitszeichen, die geschichtsträchtige Schwarzmeer-Halbinsel Krim annektierten. Die Ukraine ist fast zu 100 Prozent von russischen Gaslieferungen abhängig, und sie steckt in Knebelverträgen fest, die dem russischen Konzern Gazprom die Abnahme immer höherer Gasmengen garantieren. Am 24. Januar erhält der britische Energiekonzern Royal Dutch Shell die Lizenz, die Schiefergasreserven in der Region um Slowjansk auszubeuten. Der Vereinbarung zufolge soll im Jahr 2018 die Förderung auf dem Yuzivska-Feld in der Ukraine durch den Shell-Konzern beginnen. Die Schätzungen der potentiellen Fördermenge variieren stark, aber in jedem Fall handelt es sich um beträchtliche Vorkommen. 1,2 Billionen Kubikmeter Gas schätzt das US-Energieministerium, bis zu 30 Billionen Kubikmeter vermutete der ukrainische Minister für Energie- und Kohlewirtschaft Juri Prodan. Der staatliche Geologiedienst der Ukraine schätzt die Vorkommen des Yuzivska-Feldes auf bis zu 4 Billionen Kubikmeter

„Die Ukraine hat ein vitales Interesse daran, dass die russischen Erdgaslieferungen in die westlichen Länder Europas über ihr Territorium laufen, da sie massiv von den Transitgebühren profitiert.“

Zur Einordnung: Russland verfügte im Jahr 2020 über Gasreserven von rund 37 Billionen Kubikmetern, die USA über Gasreserven von 12,6 Billionen Kubikmeter. Sollten sich die eher konservativeren Schätzungen zur potentiellen Fördermenge des Yuzivska-Feldes in der Ukraine als korrekt herausstellen, so gleicht es in etwa den Gasreserven Norwegens von rund 1,4 Billionen Kubikmeter. Möglicherweise befinden sich im Osten der Ukraine allerdings auch Reserven in ähnlicher Menge wie in der bislang größten russischen Erdgasstätte, dem im Jahr 1966 entdeckten, sibirischen Urengoy-Feld, das über 9,5 Billionen Kubikmeter Erdgas verfügt.

In der Ukraine wird das Abkommen mit Shell mit der Aussicht verbunden, von russischen Gaslieferungen unabhängiger zu werden – just zu jener Zeit, als in Deutschland das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie mit den Planungen für die Pipeline Nord Stream 2 beginnt. Die Leitung sollte die 2011 fertigstellte Doppel-Leitung Nord Stream 1 ergänzen. Beschlossen wurde das Nord Stream-Projekt 2005 unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, der nach seiner Abwahl in den Aufsichtsrat des russischen Staatskonzerns Gazprom wechselte. Die nachfolgenden Regierungen, angeführt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, betrieben das Projekt weiter. Osteuropäische Länder hatten sich wiederholt dagegen ausgesprochen, da sie befürchteten, als Transitländer für russisches Gas umgangen zu werden.

Insbesondere die Ukraine hat ein vitales Interesse daran, dass die russischen Erdgaslieferungen in die westlichen Länder Europas über ihr Territorium laufen, da sie massiv von den Transitgebühren profitiert. Diese haben es ihr in den 1990er und 2000er Jahren erlaubt, ihre hohe Verschuldung gegenüber Gazprom abzubauen, indem die Transitgebühren mit dem hohen Gasbedarf des Landes verrechnet wurden. Bereits im Jahr 2017 wurden Befürchtungen laut, dass eine Umgehung der Ukraine bezüglich des Gastransits für westliche Länder den Weg für eine russische Invasion bereitet. In Deutschland wird unterdessen der Bau von Nord Stream 2 fortgesetzt, im Juni 2021 wurde der Bau der ersten Leitung abgeschlossen. Die deutsche Politik war damit über eineinhalb Jahrzehnte der unbewusste Erfüllungsgehilfe von Putins geopolitischen Winkelzügen. Und eigentlich dürfte nicht nur der Gazprom-Lobbyist Gerhard Schröder als Sündenbock für ein kollektives Versagen, das von Angela Merkel bis hin zu Frank Walter-Steinmeier reicht, herhalten müssen.

„Putins Forderungen gegenüber dem Westen im Vorfeld seines Überfalls auf die Ukraine speisten sich allesamt aus einem Denken in Großmachtansprüchen, das zu der faktischen Großmacht USA ein Gegengewicht in einer ‚multipolaren Weltordnung‘ bilden soll.“

Shell ist im Jahr 2013 nicht der einzige Konzern, der in der Ukraine auf große Geschäfte mit der Fördertechnik des Fracking hofft. Im Westen der Ukraine bewirbt sich der US-Energiekonzern Chevron um Schiefergas-Förderrechte in der Region Lviv. Das dortige Olesko-Feld soll bis zu 3 Billionen Kubikmeter Schiefergas enthalten. Im Schwarzen Meer erhält der US-amerikanische Konzern ExxonMobil die Förderrechte für ein Offshore-Gasfeld vor der Krim. Bald jedoch werden die Pläne der westlichen Konzerne Makulatur: Mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und dem unmittelbar danach einsetzenden Krieg im Donbass, der maßgeblich durch den russischen Aufbau prorussischer Milizen angeheizt wird, ziehen sich Shell und Exxon Mobil aus den Kooperationen mit ukrainischen Förderfirmen zurück. Auch Chevron gibt 2015 sein Vorhaben in der Westukraine auf, angeblich aus steuerlichen Gründen.

Wie sind diese Geschehnisse geopolitisch einzuordnen? Putins viel zitierter Ausspruch vom Untergang der Sowjetunion als „größter geopolitischer Katastrophe des 20. Jahrhunderts" legt den Blick frei auf ein Weltbild, dessen Träger – ein ehemaliger KGB-Agent – wie selbstverständlich in Einflusszonen zu denken gewohnt ist. Hierin unterscheidet er sich von seinem Widerpart, den USA, die dem Despoten die Anerkennung als Ebenbürtigem verweigern, nicht. Putins Forderungen gegenüber dem Westen im Vorfeld seines Überfalls auf die Ukraine speisten sich allesamt aus einem Denken in Großmachtansprüchen, das zu der faktischen Großmacht USA ein Gegengewicht in einer „multipolaren Weltordnung“ bilden soll:

  • Der Abzug aller Nato-Truppen aus Staaten, die vor 1997 nicht bereits der Nato beigetreten waren, also aus Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien
  • Der Verzicht auf weitere Beitritte zur Nato, was sich insbesondere auf die Ukraine bezog, aber auch Finnland und Schweden eingeschlossen hätte, die sich mittlerweile aufgrund des russischen Angriffskrieges im Beitrittsverfahren befinden
  • Der Verzicht der USA, Atomwaffen außerhalb ihres Territoriums zu stationieren, was einen Abzug der US-Atomwaffen aus Europa bedeutet hätte
  • Der Verzicht auf US-Militärstützpunkte in Staaten der früheren Sowjetunion, die nicht Nato-Mitglied sind, sowie der Verzicht auf die Durchführung militärischer Aktivitäten in diesen Staaten.2

„Putin kann mit der Annexion der Donbass-Region verhindern, dass die Ukraine, deren Energiebedarf zur Hälfte von Erdgas gedeckt wird, von russischem Gas unabhängig wird und sich weiter dem Westen annähert.“

Die Grundlage für diese Forderungen bildet Putins Auffassung, dass die Ukraine kein eigenständiger Staat, sondern vielmehr als zum russischen Reich gehörig zu betrachten sei, wie er im Juli 2021 in einem Aufsatz über „Die historische Einheit von Russen und Ukrainern" darlegte. Zur Befreiung ‚seines‘ Volkes zog Putin folglich gegen „Nazis" zu Feld, die angeblich die ukrainische Politik bestimmen. Wir dürfen annehmen, dass viele dieser Forderungen auch bestehende wirtschaftliche Interessen gegenüber der Ukraine, wie deren beträchtliche Gasvorkommen insbesondere im Osten des Landes ideologisch verbrämen.

Die geostrategischen Implikationen liegen also auf der Hand: Putin versucht, die Donbass-Regionen auch deshalb in den russischen Staat einzugliedern, um sich zum einen die beträchtlichen Gasvorkommen zu sichern, die er ohnehin auf ‚seinem‘ Territorium wähnt. Die Ausbeutung dieser Gasvorkommen durch westliche Konzerne war ihm sicherlich wenig genehm und bestärkte ihn in seiner Auffassung, ‚den Westen‘ auf Distanz zu seinen Einflusssphären zu halten. Zum anderen kann er mit der Annexion der Donbass-Region verhindern, dass die Ukraine, deren Energiebedarf zur Hälfte von Erdgas gedeckt wird, von russischem Gas unabhängig wird und sich weiter dem Westen annähert. Das scheut das russische Regime schon deshalb, weil dann seine eigene Bevölkerung möglicherweise sieht, wie das ukrainische ‚Brudervolk‘ im Wohlstand erblühen und sich nach der Überwindung von Korruption und Vetternwirtschaft zu einer liberalen Demokratie nach westlichem Vorbild mausern könnte.

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