01.09.2008

Gerechtigkeit auf Kosten von Bildung?

Essay von Sabine Beppler-Spahl

Über ein Buch, das unangenehme Fragen stellt, die in der Bildungsdebatte zumeist ignoriert werden.

Ein „Facharbeiterkind in Bayern hat bei gleicher Begabung eine viermal geringere Chance, im Gymnasium zu sein, als ein Kind aus den Bildungsschichten“, hieß es nach der ersten PISA Studie.1 Seither ist das Thema Bildungsgerechtigkeit zu einem Topthema avanciert. Nun hat Bruno Preisendörfer ein Buch mit dem provokanten Titel Das Bildungsprivileg – Warum Chancengleichheit unerwünscht ist veröffentlicht. Für ihn ist „die Reproduktion von Ungleichheiten“ kein Versehen des Bildungssystems, sondern ein wesentlicher Teil seiner Aufgabe. Doch Preisendörfer meint es ernst und untermauert die These durch eine Vielzahl präziser Beobachtungen.

Der Autor reiht sich nicht einfach in die Liste vieler anderer ein, die ebenfalls mehr Bildungsgerechtigkeit fordern. Es gelingt ihm, einen differenzierteren Blick auf die Bildungsfrage zu werfen. Er lässt sich nicht leicht in politische Schubladen einordnen. Während viele etwa in der Einführung von Studiengebühren den größten Angriff auf die Chancengleichheit sehen, glaubt Preisendörfer, dass nicht weniger, sondern mehr Studiengebühren gezahlt werden müssten, ginge es wirklich um Gerechtigkeit. Der Kampf gegen Studiengebühren sei der einer besorgten Mittelschicht, die fürchte, ihre Privilegien zunehmend einbüßen zu müssen. Warum sollten Bäcker, Friseure, Arbeiter und Angestellte denen ein Studium finanzieren, die nach dessen Abschluss ohnehin deutlich bessere Einkommenschancen haben, fragt er.2 Der Autor ist kein Politiker, der eine bestimmte Klientel bedient. Bildung ist für ihn zu wichtig, um für soziale und politische Zwecke missbraucht zu werden. „Bildung wird nur selten zuerst um ihrer selbst Willen geschätzt und stets für etwas anderes in Dienst genommen: den individuellen Aufstieg, den gesellschaftlichen Fortschritt, das ökonomische Wachstum, die Rettung der Welt. Noch durch die schönsten Loblieder auf die Bildung hallt das Echo ihrer Instrumentalisierung.“3

Macht sich aber nicht auch derjenige, der Bildung jenem Zweck unterordnen möchte, den vermeintlich sozial Schwachen eine bessere Zukunft zu bieten, einer solchen Instrumentalisierung schuldig? Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit in einer Zeit, in der es keine formalen soziale Barrieren, wie wir sie aus den früheren Zeiten der geburtsständischen Bildung kennen, mehr gibt? Wer das Ziel verfolgt, mehr Kindern eine Chance zu geben, ist schnell versucht, Bildungsbarrieren – also alles, was mit Leistungsbeurteilungen und Bildungsstandards zu tun hat – abzubauen. Die Kritik an schulischer Selektion ist häufig ein Ausdruck hierfür. Statt darüber zu debattieren, wie man Schülern die Rigorosität des Lernens nahebringt und sie zu besseren Leistungen animiert, werden die Anforderungen angepasst, damit ein paar mehr Kinder (vielleicht auch ein paar mehr Kinder aus Arbeiterfamilien) den formal höchsten Schulabschluss erreichen. Dies aber führt zu einer Inflation bei den Bildungsabschlüssen und verstärkt zudem einen Trend, den wir schon heute beobachten können: Bürgerliche Eltern suchen nach Alternativen, um ihren Kindern den kleinen Vorsprung weiterhin zu sichern und ihnen auf andere Art und Weise eine gute bzw. karriereförderliche Bildung zukommen zu lassen. Die Kinder aus ärmeren Familien sind dagegen auf Gedeih und Verderb auf die Schule angewiesen. Was ihnen der vereinfachte Unterricht vorenthält, können sie nur schwer wettmachen. Bevor also von Chancengleichheit die Rede ist, sollte geklärt werden, welcher Stellenwert der Bildung überhaupt zukommt. Die alleinige Fixierung auf Gerechtigkeit führt schnell zu Formalismus, Bürokratie und technischen Lösungen, die an dem eigentlichen Problem der sozialen Benachteiligung nichts ändern und zudem die Bildung als Ziel an sich weiter abwerten.

Preisendörfer ist dieser Vorwurf der Instrumentalisierung von Bildung nicht zu machen. Es geht nicht nur darum, Kindern aus benachteiligten Schichten bessere Jobchancen zu ermöglichen, sondern ihnen den Blick für wahre Bildung zu öffnen: „Bildungsferne Schichten“, so Preisendörfer, „werden nicht nur von Bildung ferngehalten, sie halten sich auch selbst davon fern.“ Denn „nicht Bildung als Bildung vermissen sie, sondern das, was Bildung gewöhnlich mit sich bringt: besseres Einkommen, mehr soziale Sicherheit, einen höheren gesellschaftlichen Status. Bildung ist jedoch nicht nur ein funktioneller Wert, sondern schließt geistige, seelische und ästhetische Dimensionen auf, deren Begreifen, Erleben und Genießen wertvoll in sich selber sind.“4 Dennoch ist Selektion für Preisendörfer ein wichtiges Thema. Er kritisiert, dass die Selektion, wie sie zurzeit stattfindet, soziale Unterschiede eben nicht aufhebt, sondern verfestigt. Geht man davon aus, dass Kinder aus Arbeiterfamilien nicht dümmer sind, müsste ihr Anteil an den Abiturienten etwa dem Anteil ihrer Eltern an der Erwerbsbevölkerung entsprechen – das tut er aber nicht, und hier liegt für ihn das Problem. Doch was genau verursacht dieses „Fernhalten von Bildung“? Formal gilt: Wer eine weiterführende Bildung wünscht und die Leistungsvoraussetzungen erfüllt, kann nicht daran gehindert werden. Begabten Kindern aus ärmeren Familien wird es im heutigen System viel leichter gemacht, durch Intelligenz und Fleiß aufzufallen, als früher. Wenn Preisendörfer auch einräumt, Lehrererwartungen würden bei der Leistungsbeurteilung gelegentlich eine subtile Rolle spielen, so reicht dies als Erklärung für die unterschiedlichen Schulkarrieren nicht aus. Es sind vielmehr soziale Mechanismen, die diese Unterschiede hervorrufen. Die Stärke des Buchs liegt darin, dass diese vielfältigen Mechanismen sehr eindrucksvoll beschrieben werden.

Dass Kinder unterschiedliche Voraussetzungen haben, mag niemanden überraschen. Doch im Unterschied zur allgemeinen Debatte, die sich oft auf die Unzulänglichkeiten der bildungsfernen Schichten (Bifs) konzentriert, zeigt Preisendörfer auch auf, mit welchen Mitteln die andere Seite um ihren Vorsprung „kämpft“. Gerade weil Kinder im heutigen Bildungssystem in der Regel formal gleichgestellt sind, beginnt für die Bessergestellten schon früh der Druck, im vermeintlichen Konkurrenzkampf den eigenen Nachwuchs ausreichend abzugrenzen. Bif-Kindern fehlt mehr als das elterliche Vorlesen von Büchern. Ihnen fehlen vor allem Eltern, die von Anfang an alles daran setzen, sie für eine erfolgreiche Schulkarriere fit zu machen. Preisendörfer führt hierzu zahlreiche gute, z.T. amüsante Beispiele an, die direkt der Berliner Realität entnommen sind: Kreuzberger Akademiker, die sich bei Freunden scheinanmelden, um dem „pädagogischen Notstandsgebiet im multikulturellen Kiez zu entrinnen, obwohl man hier so preisgünstig und tolerant wohnen kann“.5 „Während hinter der Weigerung, die Kinder in den multikulturellen Stadtteilen einzuschulen, Behütungs- und Vermeidungsreflexe wirksam sind, steht hinter der Tendenz zu Privat- und Internatschulen die Absicht, sich Vorteile zu erkaufen.“6 Eltern in Berlin, die jahrelang gegen Religion gewettert haben, treten plötzlich der Kirche bei, um ihr Kind auf angesehene Schulen wie das Graue Kloster oder das Canesius Colleg schicken zu können. Interessant ist auch der Hinweis Preisendörfers, dass es Eltern oft wenig auf die philosophische oder pädagogische Ausrichtung einer Privatschule ankommt. Hauptsache, der Nachwuchs bewegt sich in einem geschützten und privilegierten Raum. So ist die Waldorfschule „heute eine Domäne jener Fortschrittlichen in der bürgerlich-akademischen Mittelschicht, bei denen vage linke Gefühle mit der Sorge einhergehen, der eigene Nachwuchs sei zu sensibel für die Rauheit des staatlichen Schulalltags“.7 Mit wahrer Bildung haben diese Abgrenzungstendenzen nichts zu tun, wohl aber mit sozialer Distinktion.

Während ich das Buch von Bruno Preisendörfer lese, habe ich die zweite Klasse meines Sohnes vor Augen. Es ist eine staatliche Schule in einer sozial gemischten Gegend. Ich kenne einige Akademikereltern, die ihre Kinder scheinumgemeldet haben, um diese Schule zu umgehen. Bei einigen Kindern der Klasse wäre es ein Wunder, wenn sie es ins Gymnasium schaffen würden. Sie kommen aus den sogenannten Bif-Familien. Bei einigen ist klar, dass sie eine Gymnasiallaufbahn vor sich haben. Das sind die Kinder der Akademiker. Am letzten Schultag vor den Sommerferien warte ich auf dem Pausenhof auf Anton und geselle mich zu zwei Müttern von Mitschülerinnen. „Wir unterhalten uns gerade über die Qualität der Gymnasien hier in der Gegend“, sagt eine. „Anna wird auf jeden Fall das Frühgymnasium besuchen“, erfahre ich von der anderen. Das Frühgymnasium ist eine speziell Berliner Angelegenheit. Es beginnt mit Klasse fünf statt Klasse sieben, wie sonst in Berlin üblich, und bietet vor allem eines: den Nachwuchs zwei Jahre früher als normal von den Bif-Kindern trennen zu können. Da nur fünf Prozent der Berliner Kinder einen Platz auf dem Frühgymnasium bekommen können, ist es ein Objekt der Begierde von Akademikereltern. Natürlich findet es sich auch in Preisendörfers Buch. Anton kommt jetzt in die dritte Klasse, und ich habe mich immer noch nicht um das passende Gymnasium gekümmert. Vielleicht vernachlässige ich meine elterlichen Pflichten? Preisendörfer plädiert für mehr Förderung und somit eine „positive Diskriminierung“ von Bif-Kindern. Hierzu mag man stehen, wie man will. Ihm ist zugute zu halten, dass er zum Nachdenken darüber animiert, welche Mechanismen unseres Schulsystems die Reproduktion von Ungleichheiten begünstigen.

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