01.07.2008
Erwachsenenkult Kinderrechte
Analyse von Sabine Beppler-Spahl
Kinder mit „Rechten“ auszustatten, mag populär sein. Es entwertet aber sowohl die Bedeutung des Rechtsbegriffs als auch das Erwachsensein.
„Jedes Kind hat das Recht auf eine positive Entwicklung und Entfaltung sowie auf das erreichbare Maß an Gesundheit.“ So begründet SPD-Chef Kurt Beck seinen Einsatz für Kinderrechte. Angefacht vor allem durch die in jüngster Zeit bekannt gewordenen Missbrauchs-, Vernachlässigungs- und Tötungsfälle hat die Debatte über Kinderrechte in den vergangenen Monaten wieder an Dynamik gewonnen. Mit ihrer juristischen Verankerung soll das Schicksal derer, die gemeinhin als die Schwächsten und Verletzlichsten unter uns gelten, verbessert werden. Sie erhalten ein „Grundrecht auf Schutz und Hilfe“.1 Dabei geht es um einen Schutz, der sich daraus ergibt, dass der Stellenwert von Kindern als eigenständige Persönlichkeiten ein für alle Male auch offiziell festgeschrieben werden soll. Anders ausgedrückt: „Der an den Kinderrechten orientierte Ansatz sieht Kinder von Anfang an als Bürgerinnen und Bürger.“2
Dass die Politik Kinderrechte nun zum Thema macht, ist nicht zuletzt den beharrlichen Kampagnen derer zu verdanken, die dies seit Jahren fordern. Für viele stellen diese Kampagnen den Endpunkt einer bis in die vergangenen Jahrhunderte reichenden Tradition freiheitlich orientierter Bürger- oder Menschenrechtsbewegungen dar: „Genauso, wie Frauen einmal für ihre Rechte streiten mussten, sind es jetzt die Kinder, für die wir uns einsetzen müssen“, sagt Diana Golze, Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und Mitglied der Linksfraktion.3
Es ist der Wunsch, Kindern zu helfen und diese zu schützen, die der Kampagne so viel Sympathien einbringt. Weil es zudem darum geht, Rechte für eine von der gesellschaftlichen Partizipation weitgehend ausgeschlossene Gruppe durchzusetzen, liegt der Verweis auf frühere Bürgerrechtsbewegungen (ob Sufragetten oder die American Civil Rights Bewegung etc.) nahe. Doch in einer ganz zentralen Hinsicht unterscheidet sich die Kinderrechtskampagne von diesen Bewegungen: Das klassische Verständnis von Rechten, wie sie die Bürgerrechtsbewegungen einforderten, basierte auf der Vorstellung von aktiven Rechtsträgern. Dort, wo Frauen oder die Mitglieder unterdrückter Gruppen Rechte für sich erkämpften, taten sie dies als autonome, rational handelnde Individuen, und die durch sie vertretenen Gruppen besaßen, insgesamt betrachtet, auch die Fähigkeit, diese Rechte für sich einzulösen (bzw. von ihnen Gebrauch zu machen). So wurde das Wahlrecht für Frauen mit dem Ziel der absoluten politischen Gleichberechtigung erkämpft, weil man an der gesellschaftlichen Partizipation wirklich auch selber teilhaben wollte. Mit ihrem Kampf bewiesen Frauen, dass sie zur Ausübung politischer Rechte ebenso befähigt waren wie Männer. Historisch gesehen waren die von einer Bewegung erstrittenen Rechte daher auch mit der Fähigkeit verknüpft , dem eigenen Willen Ausdruck zu verleihen. Dies wiederum führte dazu, dass die Unterstützer der Bewegung früher oder später vom Rest der Gesellschaft als gleichberechtigte Bürger wahrgenommen werden mussten.
Da es der Kinderrechtsbewegung eher darum geht, Kinder mit Rechten „auszustatten“, stellt sie eine Abkehr vom Rechtsbegriff dieser früheren Bewegungen dar. Sie bezieht zwar auch Stellung gegen Brutalität und Ungerechtigkeit, aber der Begriff „Recht“ wird in erster Linie zum Synonym für „Schutz“.4 Bürgerrechte beinhalten jedoch mehr als nur den Schutz des Bürgers (z.B. vor dem Staat). Sie basieren auch auf eben jenem Grundsatz des rational handelnden Subjekts, das über seine Geschicke selbst bestimmen möchte und kann. Bei Kinderrechten geht es dagegen gerade um das Schicksal der Schwachen und Schutzlosen, die eben nicht die Fähigkeit und das Durchsetzungsvermögen haben, für sich selber einzutreten.
Vielen, die sich für Kinderrechte einsetzen, ist dieser Widerspruch durchaus bewusst. Es werden einerseits Bürgerrechte für Kinder gefordert, andererseits sind diese nicht in der Lage, solche Rechte auch wirklich einzulösen. Nur die wenigsten würden behaupten, dass Kinder die gleichen Bürgerrechte ausüben können wie Erwachsene. Vielmehr wird angenommen, „dass Kinder Interessen haben, die es zu schützen gilt, bevor sie den Willen entwickeln, diese Interessen selber einzufordern und durchzusetzen“.5 Kritisiert wird, dass die natürliche (oder biologisch bedingte) Abhängigkeit häufig ausgenutzt oder künstlich verlängert wird. Vor allem der Blick auf Kinder als reine Objekte z.B. elterlicher Fremdbestimmung ist es, dem Kinderrechtler mit ihrer Kampagne eine Absage erteilen wollen: Ohne eigene Rechte, so die frühere Vorsitzende der Kinderkommission des Bundestages, Miriam Gruß, seien Kinder nur „Regelungsgegenstand der Norm, also Objekte“.6 Kinder sind dann „Objekt“ im rechtlichen Sinne, wenn über sie verfügt wird.
Doch auch wenn sie mit eigenen Rechten ausgestattet werden, bleibt die Frage, wer diese für sie wahrnimmt, solange sie noch nicht in der Lage sind, ihre Rechte selber einzufordern und umzusetzen. Anders ausgedrückt: Wenn Rechte von anderen als denjenigen, für die sie bestimmt sind (also die potenziellen Rechtsträger), erstritten werden, wer übernimmt dann die Rolle der moralische Instanz, die über die Wahrung wacht? Vor allem aber muss festgestellt werden, dass auch die Verfechter von Kinderrechten nicht ohne externe (also kindfremde) Autoritäten auskommen. Dies zeigt sich schon an der UN-Kinderrechtskonvention von 1990. Im Artikel 12 (1) der Konvention heißt es zur Berücksichtigung des Kindeswillens: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“
Wer aber bestimmt, wann ein Kind fähig ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, oder auch, welche Meinungen entsprechend seines Alters und Reife zu respektieren sind? In Artikel 3 der Konvention wird festgelegt, dass das Wohl des Kindes [nicht sein Wille, Anm. d. R.] vorrangig zu berücksichtigen sind.7 Jeder, der mit Kindern zu tun hat, wird wissen, dass es nicht immer, aber häufig eine Diskrepanz zwischen dem Kindeswohl und dem unmittelbaren Kindeswunsch gibt. Auch hier drängt sich die Frage auf: Wer legt fest, wann der Kindeswunsch auf Kosten des Kindeswohls zurückgestellt werden muss? Diese Fragen bleiben im Diskurs über Kinderrechte weitgehend unbeantwortet.
In diesem Sinne wirft die Kinderrechtsdebatte eine Frage auf, die es zuvor so nicht gab. Denn bisher galten hauptsächlich die Eltern als jene Autorität, die zu entscheiden hatte, wann z.B. Kindeswohl vor Kindeswunsch zu stellen war. Dabei wurde angenommen, dass, weil keiner ein Kind so sehr liebt wie dessen Eltern, diese am besten geeignet seien, für deren Wohl und Interessen einzutreten. Die Forderung, Kinder nicht länger als Objekte elterlicher Fremdbestimmung zu sehen und ihnen stattdessen separate Rechte zuzusprechen, zeugt davon, dass man offenbar nicht mehr von einem solchen prinzipiellen Interesseneinklang zwischen Eltern und Kind ausgeht. Im Denken der Kinderrechtler stellt der große Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben, ein potenzielles Problem dar, weil hierdurch Kindesinteressen verletzt werden können. Daher gelte es, Kinder vor einer zu starken Bevormundung durch ihre Eltern zu schützen.
Bei einer Fachveranstaltung des Bundesministeriums der Justiz unter dem Motto „Kinderrechte ins Grundgesetz – mehr Rechte für Kinder“ lobte Alfred Hartenbach, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, den Bewusstseinswandel der letzten Jahre, der es Kindern ermögliche, ihre eigenen Interessen gegenüber ihren Eltern besser zu vertreten. „Einer der jüngsten und gut nachgefragten Ratgeber des Bundesministeriums der Justiz heißt ‚Meine Erziehung – da rede ich mit!‘. Die Broschüre wendet sich an Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren. Sie greift typische Alltagsfragen rund um das Thema Erziehung auf und gibt Informationen darüber, wo die Grenzen dessen liegen, was Eltern dürfen und was nicht.“8 Eltern werden sozusagen in ihre Schranken gewiesen. Zweifelsohne üben Eltern erheblichen Einfluss (Macht) auf ihre Kinder aus. Aber eine Erziehungskultur, die davon ausgeht, dass das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern vor allem durch Interessenkonflikte geprägt sei, greift viel zu kurz. Die Gegenüberstellung von „Elterninteressen“ und „Kinderinteressen“ schwächt eine Beziehung, die eigentlich nur durch gegenseitiges Vertrauen gedeihen kann. Wenn eine Beziehung, die auf Zuneigung basiert, einem engstirnigen, kalkulierenden Abwägen von Eigeninteressen unterworfen wird, dann kann dies sehr schädliche Folgen für alle Beteiligten haben – sowohl für Eltern als auch für Kinder.
Zahlreiche Vertreter sozialer Berufe, die beratend tätig sind – Psychologen, Sozialarbeiter, Familienhelfer usw. –, prosperieren durch diese angeblichen Interessenkonflikte. Konflikte zwischen Familienmitgliedern rechtfertigen ihre Existenz und sichern ihnen jede Menge staatlich geförderte Aufträge. Ein solches Familienbild macht professionelle Hilfe unabkömmlich für das Lösen von Elternproblemen. Aus diesem Grund nimmt das Angebot an Elternkursen, Gesprächstherapien, schulpsychologischer Betreuung etc. ständig zu. Zu einem gesicherten Einkommen kommt oft noch die Befriedigung der eigenen Eitelkeit vieler in diesen Kategorien denkenden und agierenden Personen hinzu: Sie dienen nicht nur dem vermeintlichen Wohl anderer, sondern setzen sich mit ihrem Engagement für Kinderinteressen auch für das angeblich Gute ein.
Dieses Bild eines auf Konflikten basierenden Familienlebens steht im Widerspruch zur erzieherischen Realität. Nach wie vor sind es die Eltern, die die Kinder versorgen und für ihr Heranwachsen die tatsächliche Verantwortung übernehmen. Die Gesellschaft braucht Eltern, die ihre Kinder erziehen. Deshalb kommt der Elternschaft trotz Kinderrechtskampagnen gleichzeitig auch große Anerkennung zu. Neben dem Bild des konfliktreichen Familienlebens gibt es daher das andere, ebenfalls weit verbreitete Bild der selbstlosen Väter und Mütter. Doch während die verantwortungsbewusste Kindererziehung von allen Seiten hoch gelobt wird, erfahren Eltern kaum Unterstützung, wenn es um Fragen ihrer Autorität geht. Es scheint, als wolle unsere Gesellschaft einerseits pflichtbewusste Eltern, die aber andererseits gleichzeitig davon Abstand nehmen, ihre Kinder zu lenken und zu erziehen. Die meisten Eltern werden dennoch ihre Aufgabe wahrnehmen und bei ihrem täglichen Umgang mit Kindern das tun, was sie für richtig und notwendig halten.
Doch die Verunsicherung bleibt. Dies zeigt sich in der Verwirrung darüber, was es heute heißt, erwachsen zu sein. Wenn Kinder wie Erwachsene behandelt werden und „gleichberechtigte Bürger“ sein sollen, wird der Status der Erwachsenen untergraben. Elterliche Autorität wird abgewertet, die moralische Position von Kindern ständig erhöht und die Kindheit zelebriert. Die Grenze zwischen Erwachsenen und Kindern wird zusehends verschwommener, und es findet eine „Verkindlichung“ der Erwachsenenwelt statt. Immer wieder hört man, dass Eltern ihre Kinder als „ihre besten Freunde“ bezeichnen. Mütter kopieren die Redensarten und Verhaltensweisen ihrer jungen Töchter. Der amerikanische Psychologe David Anderegg berichtet von Eltern, die sich nicht trauen, ihren Kindern zu verbieten, Drogen zu nehmen, weil sie als Kinder ebenfalls mit Drogen experimentierten. Dass aus dem Kind, das man früher einmal war, unterdessen ein Erwachsener geworden ist, der die Konsequenzen solcher Experimente besser einschätzen kann, scheint diesen Eltern, so Anderegg, nicht bewusst zu sein.
Wie im Mittelalter werden Kinder als kleine Erwachsene betrachtet, die lediglich in ihrer eigenen Welt leben. Es bedurfte des Zeitalters der Aufklärung und der Emanzipation des rational handelnden Individuums, um die Kindheit als Entwicklungsstadium zu erkennen. In ihrem bereits in den 60er-Jahren veröffentlichten Aufsatz über die Krise der Erziehung beschreibt die Philosophin Hannah Arendt, welche Folgen es hat, wenn zwischen Erwachsenen und Kindern nicht mehr unterschieden wird:
„Unter dem Vorwand, die Unabhängigkeit des Kindes zu respektieren, wird es aus der Welt der Erwachsenen verstoßen und künstlich in seiner eigenen Welt gelassen, sofern diese überhaupt als Welt zu bezeichnen ist. Dieses Zurückhalten des Kindes ist künstlich, weil es das natürliche Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern durchbricht. Dieses Verhältnis besteht unter anderem aus Lehren und Lernen. Es wird unterbrochen, weil es die Tatsache verleugnet, dass Kinder sich entwickelnde menschliche Wesen sind und dass die Kindheit ein Vorbereitungsstadium auf die Erwachsenenzeit ist.“9