01.05.2008

Ein Schuh im Klo und schmerzende Worte der Erziehungsberechtigten

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Sabine Beppler-Spahl über Gewalt in der Schule.

Mein siebenjähriger Sohn wurde vor einiger Zeit Opfer von Gewalt in der Schule – zumindest nach Ansicht der Lehrer und Erzieher. Was war passiert? Zwei Klassenkameraden hatten einen seiner Schuhe in die Schultoilette geworfen, sodass er in Hausschuhen nach Hause laufen musste. Am nächsten Tag suchte eine besorgte Lehrerin das Gespräch mit mir. Sie versicherte, die Sache sehr ernst zu nehmen – sogar die Eltern der beiden „Übeltäter“ seien bereits unterrichtet worden, denn, so erklärte sie mit Blick auf meinen Sohn, „die Seele eines Kindes leidet besonders“. Wirklich? Mein Sohn bezeichnete den Vorfall noch am gleichen Abend als „voll witzig“. Wenige Wochen später erklärte er einen der Jungen, dessen Eltern uns gleich nach der Tat ein Wiedergutmachungsgeschenk zukommen ließen, gar zu seinem „besten Freund“.

Es mutet seltsam an, dass sich eine Schule so intensiv mit einem Dummejungenstreich beschäftigt – vielleicht sogar beschäftigen muss. Zwei Gedanken kamen mir in den Sinn: erstens, dass Erwachsene heutzutage kindische Spiele und Streiche viel zu ernst nehmen, und zweitens, dass wir im Bestreben, unsere Kinder vor vermeintlichen seelischen Schäden zu schützen, Gefahr laufen, aus ihnen kleine Sensibelchen zu machen. Beides ist schlecht, weil wir die Erfahrungswelt unserer Sprösslinge einschränken, ihnen nicht mehr zugestehen, einfach nur Kinder zu sein, und sie stattdessen ermuntern, sich selbst als „verletzliche Opfer“ oder „Täter“ zu sehen, die ohne die professionelle Hilfe von außen kaum miteinander auskommen können.

Unsere Einstellung zu Schulhofrangeleien und kindlichen Streitigkeiten zeigt, wie sehr sich die Diskussion über Kinder in den letzten Jahren verändert hat. Immer häufiger werden alltägliche Ereignisse im Leben von Kindern – wie z.B. Ausgrenzungen, Beschimpfungen, Sticheleien und Rangeleien usw. als „Gewalthandlungen“ dargestellt, die durch das Eingreifen von Erwachsenen unterbunden werden müssen. „Null Toleranz“ gegenüber handgreiflich ausgetragenen Kämpfchen ist die Devise an den Grundschulen in Berlin. Natürlich ist es wichtig einzuschreiten, wenn ein Kind tatsächlich ernsthaft verprügelt wird oder von anderen so sehr bedroht wird, dass es größte Angst empfindet. Doch andererseits gehören Streitigkeiten zur Kindheit dazu, weil sie Kindern helfen, sich normal zu entwickeln. Der Psychologe Peter Blatchford vom Institute of Education in London schreibt, dass Rangeleien auf dem Schulhof eine wichtige soziale Funktion haben, weil Kinder hierdurch „Grenzen setzen … ihre Freundschaften begründen und konsolidieren, ihre Fähigkeiten, in einen sozialen Diskurs miteinander zu treten, trainieren und um Status rangeln“.1

Kinder sind nun einmal nicht perfekte kleine Damen und Herren, die von vornherein wissen, wie man sich richtig benimmt. Sie testen miteinander aus, was möglich ist und was nicht. Im unbeaufsichtigten Spiel lernen sie durch Konflikte und Kooperation, wie weit man gehen kann und wie man Freundschaften schließt. Meine Mutter erzählt noch heute von der ersten Begegnung meines Bruders (im Alter von ca. sechs Jahren) mit seinem späteren Freund, den er nach unserem Umzug in eine neue Stadt kennenlernte. Kaum hatten sich beide Jungen das erste Mal gesehen, waren sie mit Fäusten aufeinander losgegangen. Erst nach diesem „Kräftemessen“ folgte eine tiefe, lang anhaltende Freundschaft. Meine Mutter fand den Schlagabtausch zwar nicht schön, sie war aber offensichtlich auch nicht der Meinung, hier ein großes Problem sehen zu müssen. „Jungs sind nun einmal Jungs“, war die damals übliche Erklärung für solche Vorfälle. Wann hört man diesen Spruch heute noch?

Sicherlich müssen wir unseren Kindern Grenzen setzen und ihnen zeigen, was von ihnen erwartet wird, aber im Fall des freien Spiels müssen diese Grenzen und unser Eingreifen genau überdacht sein. In unserem fast panischen Bestreben, jede Form der „Gewalt“ zu unterbinden, dürfen wir nicht vergessen, dass Spielen mehr ist als gemeinsam Puppen an- und auszuziehen oder Sandburgen zu bauen, sondern gelegentlich eben auch beinhaltet, sich mit Sand zu bewerfen, sich gegenseitig Spielsachen fortzunehmen, sich mit Wörtern, deren Bedeutung man selbst noch nicht richtig kennt, zu beschimpfen, sich zu schubsen oder sogar zu schlagen. Spielen beinhaltet alle Emotionen, nicht nur die, die wir als positiv empfinden. Wenn wir dies vergessen, riskieren wir, unseren Kindern einen wichtigen, eigenen Erfahrungsbereich streitig zu machen.

Was bringt uns dazu, uns so intensiv mit den kleinen, kindlichen Spielchen unseres Nachwuchses zu beschäftigen? Es wäre unfair, die Schulen, Lehrer oder auch die Eltern hierfür verantwortlich zu machen. Seit Jahren schon veröffentlichen Sozialarbeiter, Gewerkschaftsfunktionäre, Psychologen u.v.m. Studien, in denen vor den vermeintlichen Schäden gewarnt wird, die solche Kindheitserlebnisse verursachen können. Die Schulen reagieren hierauf, nicht zuletzt auch, um sich vor möglichen Vorwürfen zu schützen. In einer aus dem Jahr 2006 stammenden Bestandsaufnahme zum Thema Gewalt in der Schule heißt es beispielsweise: „Die Schule gilt als eine der wichtigsten Sozialisationsinstanzen für Kinder und Jugendliche ... Wenn jedoch jenes soziale Umfeld, das für die persönliche Entwicklung eines Menschen eine bedeutende Rolle spielt, massiv gestört wird und sich zum spezifischen Alptraum entwickelt, dann entstehen Probleme und psychische Schäden, deren Folgen mitunter bis ins Erwachsenenalter spürbar sind.“2 Bezeichnend ist, welche Erfahrungen laut Bestandsaufnahme solche Störungen verursachen können und wie Gewalt hier definiert wird: „Das Kernproblem der betroffenen Opfer“, so die Studie, „ist die größtenteils im Verborgenen liegende Gewalt, die selten von Außenstehenden wahrgenommen wird. So liegt ihr Wirkungsfeld … mehrheitlich im verbalen und psychischen Bereich, der ohnehin selten offenzulegen ist.“ 3 Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, was tatsächlich getan oder gesagt wurde, sondern darum, wie dies vom vermeintlichen Opfer aufgenommen oder empfunden wird. Bei einer derart willkürlichen Begriffsdefinition ist es verwunderlich, dass nicht fast jedes Kind irgendwann zu einem Gewaltopfer wird (sondern „nur“ jedes zehnte, wie die Studie behauptet).

Offensichtlich trauen wir unseren Kindern immer weniger emotionale Widerstandskraft zu. Aber laufen wir nicht Gefahr – indem wir unsere Kinder als so labil darstellen –, dass sich unsere Prophezeiungen selbst erfüllen? Indem wir unseren Kindern nahelegen, dass alles, was sie als beleidigend oder kränkend empfinden (psychischer Druck), eine Form von Gewalt ist, ermuntern wir sie, sich selbst jederzeit als Opfer zu sehen. Wir befördern Selbstmitleid, Überempfindlichkeit und die Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen. Während ich den Vorfall mit dem Schuh in der Toilette noch als relativ unwichtig abtat (da die „Seele“ meines Sohnes offensichtlich keinen Schaden genommen hatte), begann ich mir ernstlich Sorgen zu machen, als er folgendes Verhalten an den Tag legte: Jedes Mal, wenn ich mich mit ihm zu schimpfen bemüßigt sah, klagte er, ich „tue ihm weh“. Es stellte sich heraus, dass seine Lehrerin gesagt hatte, mit Worten könne man jemanden genauso verletzen wie mit Schlägen. Ich habe ihm in aller Härte widersprochen und klargestellt, dass es durchaus einen Unterschied macht, ob ich ihn richtig schlage (und verletze) oder ihm sage, er habe sich bei irgendetwas dumm angestellt oder ungehörig benommen (ihn kritisiere). Ich glaube, er hat es sofort verstanden und akzeptiert.

Nicht die Kinder sind es, die das Augenmaß bei der Einschätzung von Gewalt verloren haben, sondern wir Erwachsene. Es mag als nicht mehr zeitgemäß gelten, unsere Kinder auch „emotional“ abhärten zu wollen, aber dem Trend, sie zu kleinen, ängstlichen „Softies“ zu erziehen, möchte ich eine klare Absage erteilen. In diesem Sinne sei an den bekannten Kinderarzt und Erziehungsberater Dr. Benjamin Spock erinnert, der Eltern noch in den 80er-Jahren empfahl, ihre Kinder möglichst oft solchen Situationen auszusetzen, in denen sie sich gegen andere behaupten müssen, um ihnen die Angst vor anderen zu nehmen. Dies, so Spock, sei der wirksamste Schutz vor „Mobbing“ und Gewalt in der Schule. Gefährdet seien insbesondere eben jene, die Angst hätten: „Wenn sie [die Kinder] lernen können, eine unaufgeregte Haltung gegenüber den gelegentlichen Hieben, Beleidigungen oder Spielzeugstreitereien einzunehmen, dann werden sie gut gegen ‚Bullies‘ [Kinder, die anderen Gewalt antun] geschützt sein, weil Bullies nämlich bevorzugt ängstliche und überempfindliche Kinder herauspicken.“4

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