01.03.2008

Misstrauen ist verantwortungslos

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Die „Kultur des Hinsehens“ wird in einer ängstlichen und misstrauischen Gesellschaft Kindern und Erwachsenen schaden.

Die Anwohner der Siedlung in Schwerin-Lankow wirken nicht wie Menschen, die lieber wegschauen würden, als einem sterbenden Kind zu helfen. Hier war im Dezember ein Mädchen (man kennt sie aus der Presse als „Lea-Sophie“) an den Folgen schwerer Vernachlässigung gestorben. Für die Kanzlerin war der Vorfall Anlass, eine „Kultur des Hinsehens“ zu fordern.
Ich besuche die Gegend und treffe auf aufgeschlossene Menschen, die bereitwillig mit mir reden. Ein freundlicher älterer Anwohner sagt mir: „Ich hätte der Familie direkt ins Schlafzimmer schauen können.“ Das Mädchen wohnte im obersten Stockwerk eines frisch sanierten Plattenbaus, umgeben von gepflegten Grünflächen mit sauberen Kinderspielplätzen. Drei weitere Parteien wohnen im Haus – „alles alte Leute“, wie man mir sagt. Für mich ergibt sich das Bild einer Familie, die sich von ihrer Umwelt abgeschottet und sogar mit der Verwandtschaft gebrochen hatte.

Was genau ist eine „Kultur des Hinsehens“? Der Begriff stammt aus der Kriminalprävention und ist bislang vor allem im Zusammenhang mit dem Schutz vor Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln benutzt worden. Es ging darum, in der öffentlichen Sphäre Gewalttäter oder Rowdys im Auge zu haben. Ganz anders bei der jüngsten Kampagne: „Sehen müssen wir genau dorthin, wo man sonst aus gutem Grund nicht hinsieht. Ins Private“, fordert Brigitte Fehrle in der Wochenzeitschrift Die Zeit. (1) Gerechtfertigt wird dies mit dem Kinderschutz. Wer wollte schließlich behaupten, der Schutz der Privatsphäre sei wichtiger als ein Kinderleben?! Als Maxime des Handelns soll gelten, dass immer dort, wo der Schaden des Nichteinmischens höher wäre als der des Einmischens, das Nichteinmischen verwerflich ist.
Doch die Angelegenheit hat mehr als einen Haken. Woher sollen wir wissen, wo gerade ein Kind zum Opfer wird? Zu sagen, es wäre besser gewesen, der Nachbar hätte der Familie tatsächlich ins Schlafzimmer geschaut, bedeutet, die Geschichte rückwärts zu lesen. Mit solchen gedanklichen Manövern könnte man im Nachhinein – mit dem Wunsch, besser nicht ins Auto gestiegen zu sein – auch jeden Autounfall verhindern. Zudem müssen wir uns die Frage stellen, ab wann wir von Vernachlässigung oder Misshandlung sprechen können? Sind Eltern, die kurzfristig die Nerven verlieren und nach ihrem Kind ausholen, Tatverdächtige?
Wie schwierig es ist, Vernachlässigung oder Misshandlung auszumachen, zeigt die verwirrende Auflistung der Erkennungsmerkmale, die Kinderschützer gelegentlich präsentieren. Die einen fordern hinzuschauen, wenn in einer Familie viel geschimpft oder geschrien wird. Doch sind alle Familien, in denen ein barscher Umgangston herrscht, Problemfamilien, die das Misstrauen ihrer Mitmenschen verdienen? Der Psychologe und Familientherapeut Stephe Biddulph beschreibt Familien, in denen sich Kinder und Eltern ständig anschreien: „Ganze Familien können sich dieses Kommunikationsmusters bedienen, was auf Außenstehende den Eindruck eines gefährlichen verbalen Freistilringens machen kann. Tatsächlich aber drückt es eine Intimität aus, die alle Beteiligten vermissen würden, wenn sie wegfiele.“ (2) Andere raten, auf blaue Flecke, Verletzungen oder dreckige Kleidung zu achten. Doch Marlies Herterich, Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes in Hannover, ist da anderer Meinung. Viel wichtiger sei, dass sich „ein Kind nicht kindgerecht verhält und auf Ansprache sehr scheu reagiert“. Stürze sich ein Kind „sehr hungrig auf Essen, könne das ebenfalls ein Zeichen für Vernachlässigung sein“. (3)
Wer jetzt verwirrt ist, darf sich trösten: Vernachlässigung ist kein klar definierter, feststehender Begriff. Kinder, die heutzutage allein in den Kindergarten kommen, erklärte mir unsere Erzieherin kürzlich, gelten in der Regel als vernachlässigt – auch wenn sie ganz in der Nähe wohnen. Vor noch 20 Jahren bewältigten jedoch fast alle Fünf- oder Sechsjährigen den Kindergartenweg allein. Damals galt es vielmehr als Problem, wenn Kinder „überbehütet“ wurden.

Abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten gibt es einen weiteren, gewichtigeren Grund, die „Kultur des Hinsehen“ abzulehnen: Sie trägt zu einer weiteren Vergiftung des sozialen Klimas bei. Es ist wahr, dass sich viele Wohngegenden verändert haben und Menschen heute isolierter leben als früher. Doch muss es automatisch schlecht sein, in einem städtischen Umfeld zu leben, in dem größere Anonymität herrscht? Für viele Menschen bedeutet ein solches Umfeld mehr Freiheit bei der Gestaltung des eigenen Lebens, und ich kenne viele, die ganz bewusst der Enge und Intimität kleiner Dörfer entflohen sind. Problematisch wird Anonymität nur dann, wenn ein Gefühl der Angst und des Misstrauens gegenüber anderen Menschen hinzukommt – und genau dieses Gefühl prägt unseren Umgang mit Kindern. Dass Eltern ihre Kinder bis weit in die Grundschule hinein auf dem Schulweg begleiten und ihnen das freie Spiel „draußen“ immer weniger erlauben, ist ein Ausdruck dieses Problems. Auch, dass sich Nachbarn nicht trauen, fremde Kinder anzusprechen, ist ein bedenkliches Symptom. „Sagen Sie heute einem fremden Kind oder anderen Eltern doch mal was“, sagt der ältere Herr in Lankow. Nicht die objektiven Gefahren, denen ein Kind ausgesetzt ist, sind die Ursache dafür, dass die wenigsten Eltern ihre Kinder nicht allein in den Kindergarten schicken. Da ist zum einen die diffuse Angst vor dem fremden Kinderschänder. Doch noch viel ausgeprägter ist ein eher „passives Misstrauen“. Die meisten Mütter werden zugegeben, dass sie nicht glauben, der Nachbar im Nebenhaus sei womöglich ein Pädophiler, der Böses im Sinn habe – aber sie glauben genauso wenig, dass er es gut mit ihren Kindern meint. Wir Eltern vertrauen nicht mehr darauf, dass unsere Kinder in der „Gemeinschaft“ oder in der Öffentlichkeit gut aufgehoben sind. Wir glauben nicht, dass schon jemand aufpassen wird, wenn unsere Lieblinge sich eine Baustelle als Spielplatz aussuchen oder bei Rot über die Ampel gehen wollen. Das ist der Grund, weshalb wir sie am besten stets selbst im Auge behalten wollen. Die Folge ist, dass Kinder immer weniger Teil unseres öffentlichen Lebens sind, und alte oder alleinstehende Menschen, ob sie es wollen oder nicht, oft überhaupt keinen Kontakt mehr zur jungen Generation haben.
Kinder großzuziehen ist allein Sache der Eltern geworden. Unterstützt werden sie dabei allenfalls von einer stetig wachsenden Zahl professioneller Berater. Erziehung und das Wohl fremder Kinder wird heute viel weniger als noch vor 20 Jahren als eine Aufgabe aller angesehen. Der alte Herr, der mit einem Kind schimpft, weil es das Kaugummipapier einfach auf die Straße fallen lässt, zeigt ein Gefühl der Verantwortung für anderer Leute Kinder. Er unterstützt die Eltern bei der Erziehung und damit der Sozialisation ihres Nachwuchses, indem er dem Kind zeigt, was von ihm als Teil einer Gemeinschaft erwartet wird. In einem Klima, in dem diese Solidarität unter Erwachsenen gestört ist und Eltern das Gefühl haben, sie müssten jederzeit und in jedem Moment für ihr Kind verantwortlich sein (weil sie ja auch die Vorzüge einer sie unterstützenden Nachbarschaft nicht mehr nutzen können), kommt es leicht zu Missverständnissen. Hinweise von Fremden werden als Einmischung oder als Kritik an der eigenen Erziehungsleistung gewertet. Viele ältere Menschen sind daher verunsichert, wenn es um die Frage ihrer Rolle in Hinblick auf anderer Leute Kinder geht. Das ist der Grund, weshalb sie die „Einmischung“ scheuen.
Die Mitverantwortung wurde ihnen genommen, gleichzeitig wird nun Hinsehen von ihnen gefordert. Wir erkennen hier eine Politik, die den Zusammenbruch der Solidarität unter Erwachsenen beklagt, selbst aber dazu beiträgt und beigetragen hat, ein solches Klima zu schaffen. Wir leiden nicht unter einer fehlenden Sensibilität für die Sicherheit unserer Kinder (oder für Kinder überhaupt), sondern, im Gegenteil, unter einer überhöhten Risikowahrnehmung. Die Bundeskanzlerin verlangt von uns, unsere Nachbarn noch misstrauischer und kritischer zu beäugen. Zur diffusen Angst um die eigenen Kinder kommt nun noch die Angst vor einer Unterschicht hinzu, die ihre eigenen Kinder verhungern lässt.
Eine Mutter in Lankow sagt: „Das macht einem richtig Angst, wenn man darüber nachdenkt, dass so etwas überall und jederzeit passieren kann.“ Kriminalisten bestätigen immer wieder, dass die Fälle schlimmer Kindesmisshandlung nicht zugenommen haben. (4) Doch wenn es gelingt, das Misstrauen innerhalb einer Gesellschaft, die Spaltung zwischen den Generationen und die soziale Ausgrenzung von Familien, die ohnehin am Rande der Gesellschaft stehen, weiter zu beschleunigen, dann werden solche Fälle in der Zukunft womöglich doch zunehmen.

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