09.04.2013

Der unheimliche Höhenflug der Grünen

Interview mit Manfred Güllner

Der Chef des Forsa-Instituts Manfred Güllner erklärt im Gespräch mit Novo-Redaktionsleiter Johannes Richardt den beispiellosen Aufstieg der Grünen hierzulande

Novo: Herr Professor Güllner, als Gründer und Geschäftsführer des Forsa-Instituts sind Sie einer der führenden Demoskopen Deutschlands. In Ihrem aktuellen Buch „Die Grünen – Höhenflug oder Absturz?“ beschäftigen Sie sich auf Grundlage zahlreicher Umfragen und Erhebungen mit der Entstehungsgeschichte, dem Wählerpotential und dem gesellschaftlichen Einfluss der Grünen. Dabei konstatieren Sie eine große Dominanz grüner Ideen in Politik und Gesellschaft. Sie kritisieren die beiden großen Parteien – also die CDU und die SPD – dafür, keinen Widerstand gegen diesen grünen Zeitgeist zu leisten. Stattdessen passen sie sich immer mehr an und bezahlen dafür mit einem enormen Vertrauensrückgang bei den Wählern. Dies führt seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland zu einem im internationalen Vergleich nahezu einmalig hohem Rückgang der Wahlbeteiligung. Können Sie diese Zusammenhänge genauer erklären?

Manfred Güllner: Bei den Bundestagswahlen 1980 und 1983 gingen fast 90 Prozent aller Wahlberechtigten zur Wahl. Bei der letzten Bundestagswahl im September 2009 beteiligten sich nur noch etwas mehr als 70 Prozent. Im gleichen Zeitraum ging der Anteil der Wahlberechtigten, die eine der beiden Volksparteien SPD oder Union gewählt hatten, von 77 auf weniger als 40 Prozent zurück. In einem Vierteljahrhundert verloren die beiden großen Parteien fast die Hälfte ihrer einstigen Wähler. 2009 erhielt die Union so wenig Stimmen wie zuvor nur bei der ersten Bundestagswahl 1949, als das politische System nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus noch nicht voll etabliert war. Und bei der SPD muss man sogar bis zur Reichstagswahl 1924 zurückgehen, um auf eine ähnlich schwache Wählermobilisierung wie 2009 zu stoßen. Der Vertrauensschwund der beiden großen Parteien ist nicht nur auf der Ebene der Bundespolitik, sondern auch auf Landes- und kommunaler Ebene zu registrieren. So wurden Union und SPD zusammen bei den Landtagswahlen zwischen 2005 und 2009 nur noch von 38 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt. Die Zahl der Nichtwähler überstieg mit 43 Prozent die der Wähler der beiden Volksparteien. Bei Kommunalwahlen wie 2011 in Hessen gaben nur noch 29 von 100 Wahlberechtigten CDU oder SPD ihre Stimme, 55 von 100 aber blieben der Wahlurne fern. Und in einer Stadt wie Frankfurt am Main erhielten CDU und SPD zusammen nur noch die Stimmen von etwas mehr als 20 Prozent aller Wahlberechtigten; dreimal mehr aber (60 Prozent) gingen nicht zur Wahl.

Dieser extreme Vertrauensrückgang für die beiden Volksparteien ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass sich die Politik immer weniger an den tatsächlichen Bedürfnissen und Interessen der Mehrheit der Menschen orientiert. Gerade auf kommunaler Ebene, wo der Vertrauensschwund für CDU und SPD besonders drastisch ist, kann man beobachten, wie sehr die Politik ideologischen Dogmen, Modetorheiten oder einem vermuteten „grünen“ Zeitgeist folgt. Ein eklatantes Beispiel dafür ist z.B. die Verkehrspolitik vor Ort. Vielfältigste „Verkehrsberuhigungsmaßnahmen“, Tempo-30- oder sogar -10-Zonen, auch dort, wo sie unsinnig sind, die Einrichtung völlig unnützer sogenannter „Umweltzonen“ etc. sind einige Beispiele. Dazu gehört auch die enorme Förderung von Verkehrsteilnehmern, die nur eine Minderheit darstellen: die Fahrradfahrer. Anstatt dort, wo es sinnvoll wäre, nämlich im Umfeld von Schulen, für ein sicheres Fahrradwegesystem zu sorgen, werden Fahrradwege auf Kosten anderer Verkehrsteilnehmer an Stellen eingerichtet, wo sie eher entbehrlich sind. Während in den Städten viel mehr Bürger den öffentlichen Nahverkehr oder das Auto nutzen bzw. zu Fuß gehen als mit dem Fahrrad zu fahren, tut die Verkehrspolitik nur etwas für diese kleine Gruppe der Fahrradfahrer – bis hin zu solch unsinnigen Dingen wie der Einrichtung von Fahrradstraßen oder Fahrradbeschleunigungsspuren. Wegen einer solchen, die Bedürfnisse der Mehrheit ignorierenden Politik fühlt sich die Mehrheit der Bevölkerung durch die politischen Akteure nicht mehr vertreten und bleibt den Wahlen voller Unmut fern. Dieser Unmut der Bürger wird immer größer, weil sich vor allem die SPD, aber zunehmend auch die CDU mehr und mehr grünen Positionen annähern, sie übernehmen und im Alltag auch umsetzen.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer zunehmenden Entfremdung zwischen der Mehrheit der Bürger, die Ihre Interessen, Probleme und Sorgen in der Politik nicht mehr repräsentiert sehen, und vielen politischen Akteuren, die sich vor allem den Interessen der gutsituierten, akademisch gebildeten und nicht selten verbeamteten grünen Wählerklientel verpflichtet fühlen. Welche Folgen für die Demokratie erwachsen aus solch einem Missverhältnis?

Die Politik orientiert sich überwiegend an den Interessen der grünen Wählerklientel – meist wohlversorgte „Postmaterialisten“ im Dunstkreis des öffentlichen Dienstes. Dadurch fühlt sich die Mehrheit der „arbeitenden“ Klasse bzw. der vielen um ihre Altersversorgung Besorgten von politischen Entscheidungsprozessen ausgegrenzt. Das führt zunächst nur zu einer immer größer werdenden Unzufriedenheit mit der Politik, wie sie von vielen politischen Akteuren derzeit praktiziert wird. Doch zunehmend ist zu registrieren, dass auch die Zweifel am politischen System insgesamt bzw. an der Form der Demokratie, so wie sie die vielen Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes einmal festgelegt hatten, zunehmen.

Wie kann es überhaupt sein, dass eine relativ kleine Schicht der Bevölkerung – also die grüne Wählerklientel – diesen überproportional großen Einfluss auf die politische Agenda ausüben kann?

Die Aktivisten der grünen Bewegung entstammen überwiegend der privilegierten Schicht des deutschen Bildungsbürgertums und verfügen deshalb über weitaus bessere kommunikative Fähigkeiten als der Durchschnitt der Bevölkerung. Da sie außerdem von einem missionarischen Eifer beseelt sind, können sie ihre Anliegen eloquent artikulieren und in den Medien verbreiten. Viele Wissenschaftler, die eher einem idealistischen Holismus anhängen als einem rationalen Pragmatismus, haben zudem die Grünen von Anfang an unterstützt. Das verschafft den Grünen, die sich ohnehin immer als „Gutmenschen“ darstellen, denen es nur um hehre Ziele wie Umweltschutz, Friedenssicherung oder Frauenemanzipation geht, zusätzliche Reputation und den Zugriff auf Ressourcen der Wissenschaft. Ihren übermächtigen Einfluss verdanken die Grünen aber vor allem der vielfältigen Unterstützung durch weite Teile der deutschen Massenmedien. Schon 2005 stellte der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg fest, dass fast 40 Prozent der deutschen Journalisten der grünen Ideologie zuneigen. Dass unter den Journalisten mehr Anhänger der grünen Bewegung zu finden sind als in der gesamten Bevölkerung, verschaffte und verschafft den Grünen durch die Medien einen Verstärkereffekt, so dass grüne Ideen und Ideologien weit über das kleine Segment des grünen Milieus hinaus verbreitet wurden und werden. Hingewiesen werden muss auch darauf, dass grüne Ideen und Dogmen ihre große Verbreitung in Politik und Gesellschaft nur deshalb erreichen konnten, weil die etablierten Parteien der grünen Bewegung keinen Widerstand entgegenbrachten, sondern ihr immer mehr Raum gewährten, selbst wenn sie sich dadurch selbst schwächten.

Viele grüne Politiker haben ziemlich angefressen auf Ihr Buch reagiert. Der Spitzenkandidat der Grünen für die diesjährige Bundestagswahl, Jürgen Trittin, sprach von „Verleumdung“. Aber auch Teile der Medien gingen wenig zimperlich mit ihnen um. Die Zeit denunzierte ihr Buch gar als „Krawallpublizistik“. Möchten Sie auf solche Kritik aus Politik und Medien etwas entgegnen?

Entsprechend dem alten Sprichwort, dass getroffene Hunde bellen war die harsche Reaktion der Repräsentanten der Grünen zu erwarten. Doch die Primitivität dieser Reaktionen von politischen Akteuren, die ansonsten ihr hohes geistig-moralisches Niveau herausheben, war erschreckend, so wenn Trittin nur die Vokabel „Verleumdung“ oder der diskriminierende Satz „Wir lassen uns von einem alten Herrn auf seine alten Tage nicht schlecht reden“ einfiel. Dabei übersieht er zudem, dass ich aufgrund meiner Beobachtungen der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse schon 1985 in einem Artikel für GEO eine damals wie heute zutreffende Analyse und Beschreibung der grünen Bewegung vorgenommen habe. Damals schrieb ich: „Die Grünen haben viele Bundesgenossen in allen Medien. Ergo ist den Aktionen der Grünen meist eine große Resonanz sicher, und in der politischen Diskussion werden grüne Werte und Positionen weitaus stärker artikuliert, als es der zahlenmäßigen Stärke der Grünen entspräche. Die Grünen haben, unabhängig von Wählergunst und Mandaten, durch ihre Verankerung im öffentlichen Dienst (…) und durch ihren Zugang zu wissenschaftlichen Ressourcen an Hochschulen eine reale gesellschaftliche Machtposition (…)“.

Noch bemerkenswerter aber als die primitive Reaktion der grünen Aktivisten ist, dass auch viele Medien sich gar nicht mit dem analytischen Gehalt meines Buches auseinandersetzen, sondern es totschweigen oder – wie das Beispiel der grünen Leitmedien Zeit und Süddeutsche Zeitung zeigen – mit Vokabeln wie „Knallthesen“, „Krawallpublizistik“, „Selbstrufmord“ etc. mein Buch zu denunzieren versuchen. Geradezu erschreckend ist jedoch die dabei zutage tretende Arroganz, vor allem aber die Ignoranz der dem grünen Milieu verhafteten Journalisten. So behauptet der Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung, Detlef Esslinger, allen Ernstes, die meisten SPD-Wähler seinen „im Zuge der Agenda 2010“ und viele CDU/CSU-Wähler durch „das Hadern vieler Konservativer mit der Merkel-CDU“ zu Nichtwählern geworden. Er blendet jedoch aus, dass „Agenda-Schröder“ noch 2005 von über 16 Millionen gewählt wurde, die Anti-Agenda-SPD von 2009 jedoch von weniger als 10 Millionen – also in über 4 Jahren über 6 Millionen Wähler verloren hat. Ebenso ignoriert er, dass die Merkel-CDU im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 auf Werte von über 40 Prozent kommt, was zuletzt bei der Wahl 1994 der Fall war. Ein Frank Drieschner von der Zeit glaubt auch nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21, die Bahnhofsgegner und nicht die Befürworter des Umbaus des Stuttgarter Bahnhofs hätten eine Mehrheit gehabt. Und die hohe Zahl der Nichtwähler führt er allen Ernstes auf „ein einziges historisches Ereignis“, nämlich „die CDU-Spendenaffäre“ zurück. Er ignoriert, dass viele CDU-Anhänger schon lange vor der Spendenaffäre ins Lager der Nichtwähler abgewandert sind und verdrängt, dass die seit Ende der 1980er Jahre sinkende Wahlbeteiligung vor allem auf kommunaler Ebene wohl kaum mit der Spendenaffäre 1999/2000 erklärbar ist.

Unübertroffen ist jedoch die Kritik eines Stephan Dörner, der sich als Redakteur des Handelsblatts bezeichnet, obwohl er dort nicht bekannt ist: Er gibt zu, dass er meine „Argumente“ nicht einmal „versteht“, doch seine offenbar unterentwickelte intellektuelle Fähigkeit hindert ihn nicht daran, mein Buch als „komplett schwachsinnig“ zu bewerten.

Um die Entstehung der Grünen ranken sich viele Mythen. Manche sehen sie als Erben der 68er, andere als parteipolitische Ausformung der Umweltschutz-, Friedens- und Frauenbewegung. Sie widersprechen und sehen als wesentlichen Entstehungsimpuls der grünen Bewegung eine „Revolte gegen die Moderne“, die maßgeblich von einem „radikalisierten Teil des Bildungsbürgertums“ getragen wurde. Was genau meinen Sie damit?

Die grüne Bewegung wird von ihren Anhängern, aber auch von den Medien und den meisten Politikwissenschaftlern sehr wohlwollend den neuen „sozialen Bewegungen“ zugeordnet, die sich gebildet hätten, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und sich vor allem um Umwelt-, Friedens- und Frauenthemen gekümmert haben. Silke Mende kommt das Verdienst zu, in ihrer Dissertation diesen Mythos zu relativieren. Sie hat die vielen unterschiedlichen Gruppen identifiziert, die schließlich in Deutschland zur grünen Bewegung wurden. Dabei wird klar, dass sich diese Gruppen überwiegend nicht als Reaktion auf in den 1970er Jahren plötzlich aufgetretene Missstände gebildet hatten.

Das Gemeinsame aller dieser ursprünglich recht heterogenen Gruppen aber war eine Art „Revolte gegen die Moderne“. So wie es auch 1919, beim ersten Versuch, die Demokratie in Deutschland zu etablieren, in Teilen des deutschen Bürgertums tiefes Unbehagen gegen die Industriegesellschaft und die pragmatische Politik der Weimarer „System-Parteien“ gab, so war die grüne Bewegung in den 1970er Jahren eine Auflehnung gegen das nüchtern-pragmatische Politikverständnis, das sich im Laufe des Demokratisierungsprozesses in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte. Der nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in den 1970er Jahren erreichte Entwicklungsstand und Zustand der westdeutschen demokratischen Gesellschaft wurde von Teilen der jüngeren Angehörigen des deutschen Bildungsbürgertums nicht akzeptiert, sondern führte zur Revolte – zunächst der Bürgersöhne, später auch der Bürgerstöchter – gegen die Bürgerväter. Die Anhänger und Wähler der grünen Bewegung entstammten dementsprechend nicht unterprivilegierten proletarischen Schichten, sondern den privilegierten oberen sozialen Schichten.

Die Grünen galten mal als rebellisch und „links“, heute werden sie eher als eine bürgerliche Partei wahrgenommen. Unionsfraktionschef Volker Kauder witterte bei ihnen sogar einen „neuen kleinbürgerlichen Mief“. Sind die Grünen am Ende etwa eine konservative Partei?

Die Grünen waren und sind eine Bewegung im eher „bürgerlichen“ Wählerlager. Sie kamen auch in ihrer Anfangsphase nicht aus dem „Fleisch der SPD“. Sie verorten sich selbst zwar bis heute im eher linken politischen Spektrum, sind aber von Herkunft, Habitus und sozialer Schichtzugehörigkeit durch und durch „bürgerlich“ und zum Teil auch „kleinbürgerlich“.

In Ihrem Buch kritisieren Sie die großen Parteien, aber vor allem die SPD dafür, sich zu sehr an grüne Positionen angebiedert und dadurch maßgeblich zu ihrem eigenen Abstieg mit beigetragen zu haben. Ist der zu beobachtende Niedergang der Sozialdemokratie das Ergebnis ihrer inhaltlichen und personellen „Ergrünung“?

Der zu beobachtende Niedergang der deutschen Sozialdemokratie hat viel damit zu tun, dass sich die SPD inhaltlich der grünen Politik zu sehr angenähert hat. Die SPD, die nach 1945 in Deutschland zunächst die Partei der „Arbeiteraristokratie“ war und von diesem „Genossen Trend“ profitierte, erlangte in den 1960er Jahren zunehmend auch das Vertrauen der Mittelschicht („Bürger Trend“). Doch die Angleichung an grüne Positionen und damit eine Verengung der Politik – vor allem auch auf kommunaler Politikebene – auf die Interessen eines kleinen Segments der Gesellschaft – die „Postmaterialisten“ im Dunstkreis des öffentlichen Dienstes – vergraulte zunächst viele Stammwähler der SPD im Arbeitermilieu und schließlich auch immer mehr Angehörige der Mittelschicht („Schmidt-Wähler“). Gerhard Schröder gelang es, einen Teil dieser früheren Wähler wieder zurückzugewinnen, doch die SPD der Nach-Schröder-Ära hat wieder zur Abwanderung der Mitte-Wähler geführt, so dass die SPD zwischen 1998 und 2009 die Hälfte ihrer 20 Millionen Wähler verloren hat und 2009 nur noch von weniger als 10 Millionen Menschen gewählt wurde.

Vor allem im Zusammenhang mit der schwarz-gelben Energiewende nach Fukushima entstand der Eindruck, dass Politik heutzutage mehr an der Bedienung kurzfristiger durch Umfragen ermittelter Stimmungen als an inhaltlicher und strategischer Führung interessiert ist. Am Ende stand dann das totale Einschwenken auf grüne Positionen. Also: Welche Rolle spielt die Demoskopiegläubigkeit der Politik für den Höhenflug der Grünen?

Die unmittelbar nach dem Reaktorunglück von Fukushima eingeleitete abrupte Kehrtwende in der Energiepolitik ist eine Reaktion auf nicht richtig interpretierte Ergebnisse der politischen Meinungsforschung. Der Anteil derer, die seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl in Deutschland der Meinung sind, dass man irgendwann und irgendwie auf die Kernenergie verzichten sollte (das war seit 1986 immer eine Mehrheit der Deutschen von 60 bis 70 Prozent), wurde als „Volkes Wille“ (Norbert Röttgen) interpretiert, dem man unbedingt folgen müsse. Nicht berücksichtigt wurde dabei, dass die kurze Zeit nach Tschernobyl eingetretene Dämonisierung der Kernkraft auch nach Fukushima nicht wieder eingetreten war. So war nach Fukushima der Ausstieg aus der Kernenergie und der Einstieg in erneuerbare Energien für die Bürger nicht das drängendste Problem. Wichtiger war und ist für die Mehrheit der nicht grün-affinen Wähler, dass es genügend und bezahlbare Energie gibt, damit man nicht irgendwann im Dunkeln und Kalten sitzen muss. Entsprechend wurde die Energiewende im Frühjahr 2011 als wenig glaubhaft, opportunistisch und in dieser hektischen Form als nicht notwendig eingeschätzt und führte zu einem weiteren Vertrauensverlust der Politik und selbst der Kanzlerin, die sich von dieser Glaubwürdigkeitsdelle erst durch ihr hoch akzeptiertes Agieren in der Euro-Krise wieder erholte. Bei aller Präferenz der Bürger für Sonnen- und Windenergie: Eine Mehrheit der Bürger glaubt bis heute nicht daran, dass der Energiebedarf in Deutschland auf absehbare Zeit allein durch erneuerbare Energien gedeckt werden könne und hat deshalb große Zweifel, ob die Energiewende gelingen wird.

Die Energiewende ist insofern kein bloßer Beleg für eine „Demoskopiegläubigkeit“ der Politik, sondern offenbart Schlimmeres, nämlich dass die Politik mit den Daten und Befunden der Umfrageforschung nicht adäquat umgehen kann.

In Ihrem Buch legen Sie dar, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland innerhalb der letzten dreißig Jahre stärker zurückgegangen ist als in allen anderen vergleichbaren Ländern mit Ausnahme von Portugal – hierzulande um 18,3 Prozent, in Frankreich etwa nur um 13,6 Prozent, in Österreich um 10,9 Prozent, in den Niederlanden um 5,6 Prozent und in Dänemark gar nur um 0,7 Prozent. Dennoch hat man den Eindruck, dass diese bedenkliche Entwicklung hierzulande öffentlich kaum diskutiert wird. Woran liegt das?

Der starke Rückgang der Wahlbeteiligung in Deutschland wird von den Parteien weitgehend verdrängt. Man berauscht sich lieber am Ergebnis einer Wahl auf der Basis der abgegebenen gültigen Stimmen, als sich die tatsächliche Vertrauensbasis vor Augen zu führen. Winfried Kretschmann z.B. wird nicht gern daran erinnert, dass er bei der Landtagswahl 2011 nur von 15,8 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt worden ist und somit der Ministerpräsident in Nachkriegsdeutschland mit der geringsten Legitimationsbasis ist. Diese schmale Vertrauensbasis als Mandat für einen radikalen Politikwechsel zu interpretieren, wie es Kretschmann tut, ist schon recht abenteuerlich. Aber auch andere politische Akteure werden nicht gern an ihre immer schwächer werdende Vertrauensbasis erinnert. Jüngstes Beispiel ist auch die euphorische Reaktion der SPD auf das Ergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen. Die SPD kann zwar dort aufgrund des Wahlergebnis wieder den Ministerpräsidenten stellen, vergisst aber, dass selbst nicht alle der wenigen der SPD 2009 noch verbliebenen Wähler 2013 der SPD die Stimme gaben und dass der Anteil der Nichtwähler mit über 40 Prozent doppelt so hoch war wie die Zahl der SPD-Wähler.

Sie schreiben in Ihrem Buch, der grünen Bewegung sei es in den letzten drei Jahrzehnten gelungen, in Deutschland für die Verbreitung einer Mentalität zu sorgen, die gekennzeichnet ist von Fortschrittsfeindlichkeit, Verzichtsideologie, die Verteufelung von Mobilität und einem generellen Misstrauen gegenüber Technik. Sehen Sie als Demoskop, dass sich irgendwo in der Gesellschaft Wiederstand gegen diesen traurigen Zeitgeist regt? Brauchen wir für einen Mentalitätswandel vielleicht eine neue politische Kraft, die dezidiert diese negativen Grundannahmen attackiert und ihnen eine positivere und humanistische Weltsicht entgegenstellt – eine neue Fortschrittspartei also?

Dass sich in Deutschland nicht nur Politik und weite Teile der Medien an einem vorgeblich „grünen“ Zeitgeist orientieren, sondern auch immer mehr Unternehmen glauben, diesem vermeintlich grünen Zeitgeist folgen zu müssen (wenn z.B. ein Energieversorger wie Eon nur noch mit „grünem“ Strom wirbt), schürt bei der Mehrheit der Bürger Unmut und führt zu einem weiteren Vertrauensverlust für Parteien, politische Akteure, aber auch die Wirtschaft. Ob allerdings eine „Fortschrittspartei“ helfen könnte, diese Tendenz umzukehren, muss bezweifelt werden. Besser wäre es, wenn die klassischen Volksparteien sich auf ihre alten Tugenden besinnen würden, ihre Politik wieder an den Interessen der großen Mehrheit der Bürger orientieren und so den Einfluss grüner Ideen auf ein vertretbares Maß zurückdrängen würden.

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