10.12.2011

Freiheit braucht Vertrauen

Essay von Moritz C. Claussen und Lukas von Kohout und Manouchehr Shamsrizi und Benjamin Wüstenhagen

Anregungen für die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft.

„Anfangen, wo es anfängt.“ Dazu fordert Dylan Thomas in seinem bekannten Hörspiel „Unter dem Milchwald“ jeden frei denkenden Menschen auf. Daran haben wir uns versucht. Wir haben viel Zeit damit verbracht zu verstehen, was derzeit in der Gesellschaft passiert, haben Erkenntnisse aus Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Philosophie und Geschichte zusammengetragen und uns mit Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf, Joseph Beuys und Alfred Herrhausen beschäftigt. Wir haben als virtuelles Team gefragt, besprochen, gelesen, diskutiert und letztlich unsere Gedanken aufgeschrieben. Wir haben Vision von Realität getrennt, Gesellschaft von Wirtschaft, Chancenreiche von Chancenarmen, Shareholder von Public Value, Ist von Soll – und wir haben erkannt, dass diese Dualitäten konstruiert sind. Die Zukunft wird mehr denn je von Unsicherheit und Komplexität geprägt sein. Mit Dualitäten lässt sich das neue Zeitalter nicht erfolgreich bestehen. Im Folgenden präsentieren wir unsere Vorstellungen zur Gestaltbarkeit von Zukunft im Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft. Wir wünschen uns einen offenen und handlungsorientierten Diskurs. Wir formulieren eine Kritik an bestehenden Verhältnissen und Strukturen, zeigen aber zugleich eigene Ansätze einer aktualisierten sozialen Marktwirtschaft samt Wegbeschreibung, dorthin zu gelangen. Wir sind uns bewusst, dass wir uns hohe Ziele gesteckt haben und unsere Lösungsvorschläge nicht einfach sind. Jedoch hatten wir einen Unterstützer, Alfred Herrhausen, ehemaliger Sprecher der Deutschen Bank, der uns immer wieder zurief: „Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn es nicht so einfach geht, wie sie es sich vorgestellt haben. Denn Aktivität und Entwicklung Ihrer eigenen Persönlichkeit führen zum Erfolg.“

Bedürfen ethische Grundlagen einer Aktualisierung? Generell ist das kaum vorstellbar, ist Ethik doch gemeingültig und beständig. Die jüngste Wirtschaftsgeschichte gibt jedoch Anlass zur Sorge – sowohl in Deutschland, als auch weltweit. In der gerade endenden ersten Dekade des 21. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang viele Schlagwörter hängen geblieben: Zumwinkel, Oppenheim-Esch, Adolph Merckle, Fanny Mae & Freddi Mac, Bernard Madoff, LBBW, BankGesellschaft Berlin, Nord LB, WestLB, IKB, Depfa, Hypo Real Estate, Flowtex, Arcandor, Lidl, Mannesmann …
Der eine oder andere Name ist vielleicht noch frisch in Erinnerung, bei anderen Schlagwörtern werden die dahinter liegenden Skandale langsam und sanft von der Zeit verdeckt. Und doch, es scheint, als gäbe es in der jüngsten Vergangenheit eine Häufung – nicht umsonst sprechen wir allerorten von Krise. Lord Dahrendorf schrieb im Frühjahr 2009 in einer seiner letzten Veröffentlichungen: „Wer in diesem Jahr 2009 von ‚der Krise‘ spricht, braucht seinen Lesern oder Zuhörern nicht zu erklären, wovon die Rede ist. Einen Namen für die Geschichtsbücher hat das Ding dennoch einstweilen nicht. ‚Es‘ begann als Finanzkrise, wuchs sich dann zur Wirtschaftskrise aus und wird mittlerweile von vielen als tiefer gehende soziale, vielleicht auch politische Wendemarke gesehen.“

Was ist passiert? Wie konnten wir in Deutschland, wie konnte die prosperierende westliche Welt scheinbar so plötzlich in die Krise rutschen, unter Inkaufnahme der Zerstörung von riesigen Vermögen, der Gefahr aufbrennender sozialer Unruhen und vor allem eines Vertrauensverlustes in die bestehende Wirtschaftsordnung, die mit dem Scheitern von Kommunismus und Sozialismus endgültig als unfehlbar galt? Noch nie zuvor in der Nachkriegs- respektive Nachwendegeschichte war das Vertrauen in die Wirtschaft und deren Eliten in der Gesellschaft so gering. Gleichzeitig sinken der Glaube an Demokratie, soziale Marktwirtschaft und – wieder einmal – das Vertrauen in die Politik.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung gaben 70 Prozent der Befragten an, weder auf die Leistungsträger in der Politik noch in der Wirtschaft zu zählen. Eine Umfrage der GfK ergab, dass 63 Prozent der Deutschen von den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts nicht profitiert haben, nur 13 Prozent geben an, dass es ihnen besser ginge. Das ist ein Armutszeugnis für die Eliten aus Wirtschaft und Politik in diesem Land. Schlimmer noch, es erschüttert die Grundfesten der sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie. Insofern ist die Auseinandersetzung mit dieser Thematik keine spinnerte Diskussion von Gutmenschen, sondern die Voraussetzung für eine weiterhin prosperierende Gesellschaft und die Zukunft der Bundesrepublik.

Doch zurück zur Frage, wie all dies passieren konnte. In seiner „ungehaltenen Rede“ von 2004 berichtete der ehemalige Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Ludwig Poullain, aus seinen eigenen Erfahrungen und nennt ein maßgebliches Problem: „Anders als der 1945 aus dem Krieg heimkehrende geschlagene Soldat P., der es als Glück empfand, die Fesseln der Staatswirtschaft gegen die Freiheiten, die ihm der Kapitalismus bescherte, eintauschen zu können, und sich darum auch seinem Land verpflichtet fühlte, nehmen sich die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft nicht mehr als wesentliche Bestandteile unseres Staates wahr. Sie sind von Fördernden zu Fordernden geworden.

Freiheit und Vertrauen bedingen einander. Höchstwahrscheinlich wird eine überwältigende Mehrheit in unserer Gesellschaft zustimmen, dass diese beiden Werte einforderbar sind. Einfordern allein reicht jedoch nicht aus – Freiheit und Vertrauen müssen gefördert werden. Natürlich von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft – allen voran jedoch von den Eliten, egal ob aus Wirtschaft oder Politik.

Wenn man es mit dem bekannten Bielefelder Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann hält, dann ist Wirtschaftsethik gar nicht existent: „Die Sache hat einen Namen: Wirtschaftsethik. Und ein Geheimnis, nämlich ihre Regeln. Aber meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört, wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheim halten müssen, dass sie gar nicht existieren.“ Diese Annahme Luhmanns ist eine höchst düstere und nicht erstrebenswerte Situation. Wir glauben, dass Luhmann nicht umfassend recht behält. Trotzdem gilt es, diesen Umstand schnell zu ändern. Wir müssen ein neues und ausgewogenes Verhältnis zwischen Wirtschaft, dem freien Markt und der Gesellschaft finden. Eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Überwirtschaftens und des Paradigmas der absoluten Gewinnmaximierung ist das Gebot der Stunde.

„Freiheit braucht Vertrauen“ – so lautet unser Leitgedanke. Freiheit und Vertrauen gehören zu den wichtigsten gesellschaftlichen Werten in der Wirtschaft. Humanität und Verantwortung spielen eine ebenso entscheidende Rolle und dürfen nicht vernachlässigt werden. Wirtschaft ist nicht die Summe einzelner Unternehmen, sondern ein System, bestehend aus verschiedenen Institutionen. Freiheit ist eines der höchsten Güter. Sie ist ein Grundrecht, manifestiert in der Charta der Vereinten Nationen, den Verträgen Europas und unserem Grundgesetz. Das war nicht immer so. Die Geschichte der Freiheit in Europa ist bewegt und Produkt von unzähligen Kämpfen, Revolutionen, Diskursen und nicht zuletzt der Aufklärung. Freiheit für jedermann, dies ist eines der Grundziele unserer Gesellschaft. Das heißt, sowohl Freiheit für jedes Individuum als auch Freiheit für die Unternehmung.

Doch wie weit kann die Freiheit jedes Einzelnen praktiziert werden, ohne die des anderen zu tangieren? Es geht darum, die Kräfte eines jeden zu kanalisieren, sie zu bündeln, ohne sie zu beschränken oder zu beschneiden, aber darauf zu achten, dass sie die des anderen nicht behindern. Von Thomas Hobbes bis Rosa Luxemburg ist in der europäischen Ideengeschichte klar: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der anderen.“ Dies gilt auch auf die Wirtschaft übertragen. Die Freiheit der Wirtschaft, erstmals beschrieben von Adam Smith in The Wealth of Nations, ist die Wurzel unseres heutigen Wohlstands. Die Freiheit zu wirtschaften und Profit zu erzielen, dabei dies aber nicht auf Kosten der Konsumenten zu tun, sondern immer auf das allgemeine Wohl als großes, übergeordnetes Ziel zu achten und darauf hinzuarbeiten. In der Realität hat sich die Wirtschaft zu großen Teilen weit von dem Wert „Freiheit entfernt“ – sie vergisst zu dienen. Banken, die als Unternehmensziel nachhaltig kaum zu erzielende Renditezahlen verkünden und nicht davor zurückschrecken, auch in Deutschland Hypotheken von Einfamilienhäusern weiterzuverkaufen oder auf Brötchentüten mit passenden Zertifikaten zum „Trend“ Nahrungsmittelknappheit werben, die Preiskämpfe auf dem Rücken der Angestellten austragen und traditionsreiche Unternehmen gezielt ausbluten lassen – versteckt hinter Bilanzkosmetik, dem Rauswurf von auf Integrität bestehenden Managern wie Ex-BHF-Vorstand Ingo Mandt, den das

Handelsblatt im Sinne Poullains treffend als „Bankier“ betitelte. Dies sind nur einige wenige, aber dennoch bezeichnende Beispiele. Die Freiheit des Einzelnen ist hierbei nicht gewahrt. Unternehmen nehmen sich die Freiheit, die sie brauchen, um gewinnmaximale Ziele zu erreichen, um irreale Renditen zu erzielen – auf Kosten der Freiheit anderer: der Mitarbeiter, Kunden, Partner, letztlich der gesamten Gesellschaft. Dabei wird scheinbar nicht verstanden, dass man das System Wirtschaft nicht strukturell aushebeln kann.

Vertrauen ist der zweite, aber nicht minder wichtige Wert in der Wirtschaft. Vertrauen heißt, „Sich-verlassen-können“ auf etwas, und es entsteht in einer Beziehung, einer Interaktion zwischen Menschen oder Institutionen als Grundstein für funktionierende Verhältnisse. Ohne Vertrauen herrscht ein Klima von Überwachung und Kontrolle, ein für die Gesellschaft auf Dauer unerträglicher Zustand mit extrem hohem Ressourcenverbrauch. Vertrauen ist also eine wichtige, ja immanente Größe des sozialen Lebens. Jedoch muss Vertrauen erarbeitet werden: durch die Einhaltung von Regeln und Normen, durch offensichtliches und nachvollziehbares Handeln und durch den guten Willen. In der Wirtschaft ist Vertrauen, gerade das Vertrauen der Konsumenten, ein wichtiges und messbares Gut, welches über Jahre hinweg vernachlässigt wurde. Banken waren einst Garanten für Sicherheit und genossen großes Vertrauen. Davon ist heute wenig geblieben. Fälle wie Lehman Brothers, WestLB, Hypo Real Estate, Sal. Oppenheim oder der des amerikanischen Versicherers AIG haben enorm viel Vertrauen vernichtet. Manager, die sich bereichern, übertriebene Einkommen, die in keinster Weise der erbrachten Leistung entsprechen, sondern zum Teil auf künstlichen Werten basieren, zu volatile Börsenkurse – all das verunsichert eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die einen ihrer wichtigsten Werte in der Wirtschaft nicht mehr wahrgenommen und geachtet sieht: das Vertrauen. Misstrauen, das Gegenteil von Vertrauen, hat sich breitgemacht in einer verunsicherten Gesellschaft. So entsteht soziale Erosion zum Schaden jedes Einzelnen, dessen Beine auf dieser Erde stehen.

Humanität, verstanden als das Streben nach Menschlichkeit im Sinne eines kultivierten, friedvollen und gütigen Umgangs, ist ein immanenter Wert in unserer heutigen Gesellschaft. Unsere Grundrechte setzen einen solchen Umgang miteinander voraus und manifestieren ihn, wobei ein ständiges Ringen um Humanität in der Gesellschaft sich nicht erübrigt. Humanität, „ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss, oder wir sinken ... zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück“, sagte der Philosoph Johann Gottfried Herder. Doch ist diese heute in der Wirtschaft vorzufinden? Man schaue sich als Beispiel den Fall von Nokia in Bochum an. Tausende Arbeitsplätze des Marktführers im Mobiltelefonbereich werden gestrichen: zu teuer, unrentabel, unflexibel, so heißt es. Später stellt sich heraus, dass der Standort Bochum nicht unrentabel war. Es ging nach Rumänien, weil dort Arbeitskräfte und Steuern günstiger sind. Kostenrechnerisch gesehen ist diese Überlegung nicht falsch, vielleicht sogar nachvollziehbar, aber von Humanität, einem im Mittelalter und durch das ganze 18. und 19. Jahrhundert so schwer erkämpften Wert, fehlt jede Spur. Und es gibt mehr dieser Beispiele. Stellenstreichungen in hoch profitablen Unternehmen, weit vor der Finanz- und Wirtschaftskrise, um unglaubliche Renditen zu erzielen. Gewinnmaximierung also um jeden Preis? Sich hinter Sachzwängen zu verstecken und sich selbst als Getriebener des Systems zu sehen, ist schwach und paradox für Kräfte, die sich als globale Führer sehen. Wahre Führung, starke Führung lässt sich nicht treiben – sie gestaltet.

Verantwortung ist hier der vierte wichtige Punkt, auf den wir eingehen wollen. Verantwortung heißt: einstehen müssen für eine Tat, für eine Handlung. Und zur Rechenschaft gezogen werden können. Jedoch setzt die moralische Verantwortung voraus, dass ein jeder so handelt, dass er für seine Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden muss, da er in den Grenzen und Regeln der Gesellschaft handelt. Von Immanuel Kant wurde dies beschrieben als: „Handle stets so, dass die Grundlagen deiner Handlungen als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnten.“ Gleicht man nun diesen Wert des moralisch-verantwortungsvollen Handelns mit dem in der realen Wirtschaft praktizierten Handeln ab, so stellt man fest, dass Verantwortung zwar immer größer geschrieben wird, aber die Handlungen immer verantwortungsloser werden. „Corporate Social Responsibility“ wird das Übernehmen von Verantwortung durch Unternehmungen heute genannt und gilt als wichtig, wenn es um Marketing und Kundenbindung geht. Doch sind milliardenschwere Fehlspekulationen, übertriebene Managergehälter und risikoreiche Investitionen in höchst labile Konstrukte ein Handeln, welches „als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte“? Wir hoffen, nicht, sondern höchstens das verantwortungslose Handeln einzelner Institutionen in einem großen System Wirtschaft.
Natürlich sind die hier genannten Beispiele Extreme und nicht auf die gesamte Wirtschaft zu übertragen – viele Familienunternehmen beweisen tagtäglich das Gegenteil. Jedoch zeigen sie den Werteverfall, der infolge des Strebens nach immer größerem Gewinn eingesetzt hat. Erst wenn auch diese extremen Negativbeispiele geändert werden, gibt es wieder die Chance des Handelns nach den Werten der Gesellschaft im Sinne Alfred Herrhausens.

Wieso Visionen lohnen und wie diese einer Wirtschaft aussehen können

„Die Vorstellung der Moderne, wir könnten ständig sich erweiternde ökonomische Optionen – gekoppelt mit wirtschaftlichem Wachstum – und unaufhaltsam zunehmende Naturbeherrschung problem- und fugenlos verbinden mit einer einschränkungsfreien Emanzipation von verpflichtenden sozialen Verantwortungen im Sinne gleichsam totaler Selbstverwirklichung der Individuen, hat sich als ein verhängnisvoller Irrtum herausgestellt“, sagte Alfred Herrhausen. Kein Mensch, sagt man, erhält für sein Leben solche Aufgaben zugeteilt, die er nicht zu lösen imstande ist, für die er sich nicht auch die Möglichkeit, sie zu lösen, erarbeiten kann. Für uns gilt dieser Gedanke als ein Ganzes: Als erste Generation sind wir global vernetzt, haben freien Zugriff auf Wissen und Ideen, wachsen gesamtgesellschaftlich in einem nie gekannten Wohlstand auf. Hans Reitz, Unternehmer und Chefstratege von Friedensnobelpreisträger Muhammed Yunus, spricht von uns als der „ability generation“. Langsam scheinen auch wir selber zu begreifen, dass wir können, was wir wollen.

„Wird Freiheit unter diesen Umständen“, fragt Johano Strasser, und meint damit eine Politik und eine Wirtschaft, die scheinbar unfreiwillig von Sachzwängen getrieben wird, „auch bei uns zur Einsicht in die Notwendigkeit, d.h. zum Sich-ins-Unvermeidbare-Fügen?“ Ist das die Freiheit, von der auch Herrhausen spricht? Die Freiheit, eine Notwendigkeit einzusehen? Wir nehmen uns die Freiheit, wirkliche Freiheit zu fordern. Wir fordern eine Wirtschaft, die unsere jetzige an Effizienz und Effektivität weiter übertrifft, die im rasanten globalen Wachstum immer mehr Werte generiert. Wir sehen die Notwendigkeit, das überlegene System beizubehalten, den Kapitalismus weiter zu stärken und seine Vorteile zu nutzen. Wir wissen, dass es nur unternehmerischer Erfolg ist, der unsere Gesellschaft stützt und stärkt und damit unseren Wohlstand ermöglicht. Dies mag bekannt und konformistisch klingen, weiter gedacht und vom Allgemeinen aufs Einzelne ändert sich das schnell.

Effizienz und Effektivität der Wirtschaft haben das Ziel, die Arbeit zu verringern, Technologisierung und Rationalisierung führen nicht, wie oft fälschlicherweise formuliert wird, zur Vernichtung von Arbeitsplätzen, sondern von Arbeit. Gleichzeitig entsteht neue Arbeit auf Grund der Emergenz einer postindustriellen Dienstleistungs-, Netzwerks- und Wissensökonomie. Arbeit, in der sich eine zunehmende Anzahl von Menschen verwirklichen können wird, die sich auch alternativ einem verstärkten (hauptberuflichen) bürgerschaftlichen Engagement widmen können, was sich eine durch Technologisierung und Rationalisierung, durch Effizienz und Effektivität der Wirtschaft wohlhabend gewordene Gesellschaft leisten kann.

Den Kapitalismus behalten wir bei, weil seine ureigenste Eigenschaft die Vermehrung seiner Kapitalien ist und er den besten Motor für Gesellschaft darstellt. Allerdings ist Kapital für uns auch soziales Kapital, kulturelles Kapital, Haltungskapital – der mehrwertige Kapitalismus vermehrt dieses Kapital auf die gleiche Weise und mit der gleichen Stringenz wie Geld. Wertschöpfung hängt von der Wertschätzung ab und davon, wie diese Schätzung stattfindet. Wir meinen, dass die Werte, die wir schöpfen wollen, Freiheit und Vertrauen sind. Geld ist hierfür ein Instrument und muss folglich auch vermehrt werden, aber hat keinen Wert an sich. Und unternehmerischer Erfolg bemisst sich in unserem Verständnis nicht am Börsenkurs oder in der Bilanz eines Unternehmens allein: Der Beitrag zur Gesamtgesellschaft ist die Messlatte eines Unternehmens, nach der wir in Zukunft festlegen, welches Unternehmen überhaupt existiert (licence to operate) und welches den Public Value erhöht, für den Wohlstand der Gesellschaft ergo nachhaltig und umfassend wertvoll ist. Vertrauen ist für uns, neben dem Return on Investment, das neue, zweite Bewertungsmaß unternehmerischen Erfolgs.

Alfred Herrhausen erkannte dies schon Anfang der 70er-Jahre: „Und ein zweiter Schock stellte sich ein, als wir erkannten – dieser Prozess hält heute noch an –, dass unsere Wirtschaft in zunehmendem Maße eine Zivilisation hervorbringt, in deren Mittelpunkt ausschließlich die Produktion und Konsumtion von Gütern steht. Die Gefahr, in der wir uns ohne Zweifel befinden, ist gekennzeichnet durch die Tatsache, dass deshalb solche Güter, die keinen Marktwert haben, an den Rand der Wertskala geraten. Unsere Wirtschaft hat in sich noch keinen Raum entwickelt für Bedürfnisse, deren Befriedigung zwar Kosten, aber keine unmittelbaren Gewinne abwirft.“

Unternehmen, zumal multinationale Konzerne und Banken, haben Freiheit weit über den Kern ihrer Geschäftsmodelle hinaus. Diese Freiheiten sollen ihnen auch weiterhin zur Verfügung stehen, sich gar vergrößern, wenn zugleich die Verantwortung angenommen wird. Nur so kann Vertrauen aufgebaut werden. „To deny responsibility“, bemerkt in diesem Sinne kritisch Peter Drucker, „is to deny that there is an absolute good or an absolute truth. But freedom becomes meaningless if there is only relative good or relative evil.“ Und er warnt: „Decisions would have no ethical meaning; they would be nothing but an arbitrary guess without consequences.“

Die Entscheidungen und Bewertungen darüber trifft aber keine staatliche Stelle, sondern es ist der moralisierte Konsument, der durch seinen Grad an Bildung, sein verhältnismäßig nie größer gewesenes Vermögen und sein ethisches Verständnis nicht mehr als „homo oeconomicus“ auftritt. Wir erleben diesen Wandel bereits jetzt und sehen Unternehmen wegen Vorwürfen von Kinderarbeit, Umweltverschmutzung und Korruption ganze Produkte vom Markt nehmen und Wertschöpfungsketten ändern; nicht auf Geheiß des Gesetzgebers, sondern getrieben vom neuen Kräfteverhältnis zwischen Konsument und Produzent, das Nico Stehr als „moralisierten Markt“ bezeichnet.

Modi und Kultur der systemischen Kommunikation

Für Unternehmen, die in einen intensiven Austausch mit der Gesamtgesellschaft treten, bieten sich enorme Erfolgspotenziale. Zum einen gelangen sie gegenüber ihren Wettbewerbern durch umfassende Informationen in eine Position relativer Stärke, da sie über ein viel klareres Bild ihrer Umwelt verfügen und so ihre Handlungen und Pläne besser an der Realität und ihrer möglichen Zukunft ausrichten können. Des Weiteren wird durch die Öffnung und die Inputs systemfremder Akteure die Organisation, neben anderen notwendigen Bedingungen, befähigt, die Fähigkeit der hohen Agilität zu entwickeln. Diese Fähigkeit entwickelt sich kontinuierlich durch die Integrationsleistung der systemfremden Inputs in die systeminterne Realität des Unternehmens. Hoch agile Firmen sind in der Lage, sich flexibel und schnell den Erfordernissen des Marktes anzupassen, und können so schlanker werden als geschlossene Organisationen. Darüber hinaus werden Organisationen zu günstigeren Bedingungen Zugang zu Ressourcen erhalten als ihre klassisch operierenden Mitbewerber, da sie durch das in den Interaktionen aufgebaute Vertrauen eine prädestinierte Position in der Wahrnehmung nicht-ökonomischer Akteure erhalten. Diese Stellung erreichen Unternehmen unserer Meinung nach jedoch nur, wenn sie die Kommunikation mit ihrer Umwelt anders gestalten, als dies bisher der Fall ist.

Zunächst muss die Art und Weise, wie Interaktion mit Externen organisiert wird, dahingehend verändert werden, dass ein echter Diskurs entsteht. Um dies zu erreichen, meinen wir, dass das Handeln der Führung folgende Qualitäten aufweisen muss: Erstens muss die Organisation prinzipiell offen gegenüber Inputs aller Akteure sein. Frei nach Nietzsche ist Objektivität die Summe aller Perspektiven. Der prinzipielle Ausschluss von Akteuren würde eine strukturelle Selbstbeschränkung darstellen und zu suboptimalen Ergebnissen führen. Allerdings macht noch ein anderer Grund diese Eigenschaft notwendig: Ignoranz schadet der Akzeptanz. Unternehmen werden nur allzu häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, relevante Teile der Gesellschaft zu ignorieren und sich erst nach massivem öffentlichem Druck einem Dialog zu öffnen. Wir halten es für strategisch wesentlich sinnvoller, den Kontakt proaktiv durch Offenheit zu suchen und nicht unnötig Sympathie zu verspielen; hierbei geht es auch um die Aufhebung unnötiger und irritierend wirkender Informationsasymmetrien.

Zweitens müssen Unternehmen die intellektuelle Kapazität aufbauen, um hoch diverse Inputs zu verarbeiten. Zunächst erfordert es kognitive Exzellenz, um die aufgrund ihrer Fremdheit irritierenden Inputs angemessen mit der systeminternen Realität zu verarbeiten. Darüber hinaus ist jedoch eine Vielfalt des Verstehens notwendig, welche über das landläufige Verständnis von „diversity“ hinausgeht. Neben der Offenheit gegenüber Impulsen aus verschiedenen Regionen der Welt ist eine Akzeptanz nicht-positivistischer Denkschulen und nicht-exakter Wissenschaften notwendig. Das Denken in einer Vielzahl der Großunternehmen ist recht stark durch ingenieurswissenschaftliche und klassisch-ökonomische Disziplinen – zunehmend angelsächsischer Tonalität – geprägt. Zweifelsohne leisten diese Denkschulen wichtige Beiträge zum gesamtgesellschaftlichen Fortschritt und zu zunehmender Rationalisierung. Jedoch halten wir aus einer Perspektive der europäischen Aufklärung und des Humboldtschen Bildungsideals die Integration von kritischen und zu den Geisteswissenschaften (humanities) gehörigen Denkrichtungen für unverzichtbar. Darüber hinaus sollte konsequente Vielfalt auch unterschiedliche sozio-kulturelle Milieus abbilden, um nicht im Universum von Poloshirts und Segelschuhen eingeschlossen zu sein. Wir sind davon überzeugt, dass aus dieser umfassenden Vielfalt wahre Exzellenz des Denkens erreicht werden kann.

Drittens sollte der Diskurs einer Kultur der Aufklärung entsprechen. Jeder Akteur ist im Diskurs a priori zu respektieren und legitim, d.h., seine Argumente müssen wahrgenommen und einer Prüfung unterzogen werden, deren Ergebnis selbstverständlich auch eine vollständige Ablehnung sein kann. Diese kritische Prüfung sorgt für eine pragmatische Handhabung der geforderten prinzipiellen Offenheit. Das Ideal, die Argumente ohne Ansehen der ökonomischen, sozialen oder kulturellen Position des Akteurs wahrzunehmen, sollte angestrebt werden – auch wenn wir uns bewusst sind, dass wir dies aufgrund unserer menschlichen Eigenschaften nie voll erreichen können.

Viertens sollte der Interaktionsprozess mit den verschiedenen Akteuren eine möglichst hohe Sichtbarkeit für die Öffentlichkeit aufweisen, da diese den Erfolg deutlich hebeln kann. Wenn bei einem, zunächst nur betrachtenden, Akteur ebenfalls relevante Inputs entstehen und er sich aufgrund der prinzipiellen Offenheit in den Diskurs einschalten kann, ist es dem Unternehmen möglich, exponentiellen Netzwerknutzen zu realisieren. Neben diesem aktiven Faktor sehen wir auch einen passiven Faktor, der Unternehmen Erfolgspotenziale eröffnet: Durch sein differenzierendes und innovatives Verhalten lassen sich „Schumpeter-Renten“ erzielen, und es kann darüber hinaus durch kontinuierliche und differenzierende Präsenz in der Öffentlichkeit nachhaltig Vertrauen aufgebaut werden. Diese gesellschaftliche Akzeptanz wird es der Unternehmensführung ermöglichen, ihre Ziele wesentlich besser zu erreichen.

Fünftens müssen Firmen die technologische Kompetenz aufbauen, um die Interaktionen offen, vielfältig, diskursiv und sichtbar zu gestalten. Technologisch sollten die zuletzt entstandenen Phänomene konsequent genutzt werden: Digitalität sollte aufgrund der Gleichzeitigkeit von Immaterialität und Speicherbarkeit jeden Interaktionsschritt begleiten – was analoge Formen ausdrücklich nicht ausschließt, sondern unterstützt. Kollaborative und vernetzte Praktiken, wie das zurzeit dominante Phänomenbündel Web 2.0, ermöglichen es in einem vorher nicht gekannten Ausmaß, die von uns unterstütze Vision des offenen Unternehmens zu realisieren. Des Weiteren sind die Ubiquität, insbesondere aufgrund der Transnationalität und Geschwindigkeit der Handlungen, sowie der Mobilität der Akteure eine notwendige Qualität der technologischen Gestaltung der Interaktionen.

Statt einer Zusammenfassung: Der erweiterte Unternehmerbegriff

Wohl kaum ein Künstler hat sich in seinen Positionen so mit der Gesellschaft, mit Politik und Wirtschaft auseinandergesetzt wie Joseph Beuys. Sein „Aufruf zur Alternative“ ist eine bemerkenswert scharfsinnige und weitblickende Erklärung, die noch heute bzw. heute wieder lohnenswert ist. Neben vielem anderem verdanken wir Beuys aber auch die Vorstellung des „erweiterten Kunstbegriffs“, der die Lösung für ein von Beuys erkanntes Problem sein soll: die unnatürliche Trennung von Kunst und Wissenschaft und der dadurch entstandene blinde Dogmatismus für die jeweilige Antipode. Der erweiterte Kunstbegriff hingegen kennt diese affektive Dualität nicht, in ihm – und seiner Manifestation, der „sozialen Plastik“ – führt die Synthese von Kunst und Wissenschaft zu einem sehr viel tieferen Verständnis aus beiden Perspektiven; so profitiert dann die Kunst von der Wissenschaft und umgekehrt, wofür sich viele Beispiele aufzählen ließen. Und dennoch bedarf es des Umwegs über Beuys, um zu unserem Ziel zu kommen. Was dem Installations- und Aktionskünstler die Kunst ist, ist uns nämlich das Denken im Unternehmertum und der Wirtschaft, besonders das Denken ihrer Entscheider. Gegenüber auf der anderen Seite, als Adäquat für die Wissenschaft, sehen wir die belastbare ökonomisch-politische Realität, den berüchtigten „Sachzwang“. Dort sehen wir aber auch die vielen positiven Entwicklungen – die mächtige schöpferische Kraft des Unternehmertums –, wie wir es skizziert haben. „Das Denken und die Realität müssen im Einklang sein“, sagt Herrhausen. Mit Beuys haben wir den Weg zu dieser Einheit gefunden: der „erweiterte Unternehmerbegriff“ beschreibt eine Form von Leadership, Wertesystem und Verantwortung mit der Freiheit, die sich der Wirklichkeit stellt und sie positiv gestaltet. Dank der veränderten und sich verändernden Rahmenbedingungen findet eine nach dem erweiterten Unternehmerbegriff operierende Führungskraft oder Unternehmung keinen Widerspruch mehr zwischen dem ursprünglichen stringent-ökonomischen Denken (Kapitalmarkt, Aktionäre, Gewinnstreben) und den neuen Anforderungen (public value, licence to operate, mehrwertiger Kapitalismus). Der erweiterte Unternehmerbegriff ist als Ideal ein Ziel unseres Strebens und zugleich Instrument unseres Ziels. Als „pragmatische Generation“ verfolgen wir diese idealistische Vision, weil wir wie Herrhausen glauben: „Die Menschheit entwickelt sich aufwärts.“

Wir können uns vorstellen, dass unsere Ideen Unternehmensführungen irritieren, doch wir sind überzeugt, dass die Sorge vor der Öffnung zwar nachvollziehbar, aber mittelfristig unbegründet ist. Wahre Führung unterscheidet sich von verwaltendem Optimieren eben in der Strahlkraft über die klassischen Grenzen hinaus und ist von dem Denken beseelt, Großes erreichen zu können. Pioniergeist ist heute wichtiger denn je. Pionierunternehmen in unserem Sinn übernehmen aufgrund ihrer aufgeklärten Leistungsstärke eine souveräne Führungsrolle in einer Meritokratie der Ideen. Echte Akzeptanz wird erreicht durch die im Austausch entstehende Einsicht in die Absicht, da so unternehmerisches Handeln von den anderen Akteuren verstanden wird. Um es mit Alfred Herrhausen zu sagen: „Wir müssen das, was wir denken, sagen. Wir müssen das, was wir sagen, tun. Wir müssen das, was wir tun, dann auch sein.“

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