01.04.2010

Das Märchen von der Asse

Essay von Hermann Hinsch

Eine Glosse von über die Angst vorm bösen Atom und die hirnrissige Idee, den Atommüll aus dem Bergwerk herauszuholen.

Das alte Salzbergwerk Asse mit dem vielen radioaktiven Müll darin ist äußerst gefährlich, das weiß man doch. Oder nicht? Deshalb soll es doch jetzt ausgeräumt werden! Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) hat das jedenfalls vorgeschlagen. Stattdessen soll der radioaktive Müll im Endlager Schacht Konrad untergebracht werden. Wenn über irgendwas geschrieben wird, was direkt oder indirekt mit Kernenergie zu tun hat, dann steht im Titel oft das Wort „Wahrheit“. „Die Wahrheit über die Atomkraftwerke“; „Die Wahrheit lässt sich nicht verheimlichen – Greenpeace, Nachrichten zum Thema Atomkraft“; „Tschernobyl – die Wahrheit“, etc. Aber der Text besteht dann aus lauter Märchen. Ich will es einmal umgekehrt machen: „Märchen“ im Titel und Tatsachen im Text. Ich habe in der Asse gearbeitet. Heute wird darüber so berichtet, als hätten wir da nur unverantwortlichen Mist gemacht. Ich fühle mich also beleidigt und werde versuchen, einiges klarzustellen.

Zunächst muss man das mit den Märchen verstehen. Wir kommen alle aus einer Märchenwelt. Kinder werden in eine merkwürdige virtuelle Welt hineingeboren, mit Weihnachtsmann und Osterhase, Hexen, Riesen, Zwergen, dem Grüffelo und anderen Fabelwesen. Tiere sprechen untereinander und mit Menschen in verständlichem Hochdeutsch. Manches lässt sich da ganz einfach erreichen, das Wünschen genügt; anderes geht gar nicht, und so wird der Wachtmeister Dimpfelmoser den Räuber Hotzenplotz niemals endgültig festnehmen können.

Warum das so ist? Darauf geben Märchen keine Antwort, jedenfalls keine zutreffende. Dabei fragen Kinder nach Ursachen, so meine dreijährige Enkeltochter im Zoo: „Opa, was ist das?“ „Weiß ich auch nicht, muss erst das Schild lesen. Also, es sind Zebus.“ „Warum denn?“ „Die Eltern werden schon Zebus gewesen sein, deshalb sind es wieder Zebus geworden.“ „Warum denn?“ „Weißt du, das ist so: Ist die Mama ein Mensch und der Papa auch ein Mensch, dann werden die Kinder Menschen; ist aber die Mama ein Zebu, und der Papa ein Zebu, dann werden die Kinder Zebus.“ „Warum denn?“ „Ja, das ist Genetik.“

Damit war sie erst einmal zufrieden. Hoffentlich wird sie ihr Leben lang Erklärungen fordern und nicht so werden wie die 15.000 Menschen, die im Februar 2009 bei Wolfenbüttel eine Lichterkette gegen radioaktiven Müll gebildet haben. Nicht einmal 800 haben die Informationsstelle Asse besucht. Informieren, warum denn? Radioaktivität ist gefährlich, das weiß doch jeder. Früher hätten sie da gestanden und gegen Hexen demonstriert. Wie schaffen es denn die Hexen, Menschen und Tiere krank zu machen? Dumme Frage, Hexen sind gefährlich, das ist doch klar.

Wir leben in einer einzigen Welt, in der alles miteinander zusammenhängt. Man macht immer einen Fehler, wenn man irgendwas, wie beispielsweise Risiken, für sich betrachtet und nicht vergleicht. Innerhalb der Märchenwelt gibt es keine Zusammenhänge. Rotkäppchen kam heil aus dem Wolfsmagen heraus; man fragt nicht, ob Ede Wolf auch solche Verdauungsstörungen hat, sodass ein von ihm gefressenes Schweinchen noch zu retten wäre. Mit Wölfen im Zoo hat das schon gar nichts mehr zu tun. Genau so meinen viele Leute, dass zwischen Strahlenwirkungen hier und dort keine Vergleiche möglich sind. Neben einem Kernkraftwerk im Flachland sollen Kinder krank werden; im Schwarzwald bei viel höherer Umgebungsstrahlung passiert das aber nicht? Na und? Hexen schlagen ebenfalls mal so zu und mal anders.

Eine Ärztin aus der Nuklearmedizin erzählte mir, dass die Patienten immer sofort einwilligen, wenn ihnen radioaktive Lösungen injiziert werden sollen. „Selbstverständlich, Frau Doktor, wo soll ich unterschreiben?“ Aber radioaktive Stoffe viele Kilometer vom Wohnort entfernt und viele Hundert Meter unter der Erde, das macht Angst. Es ist schon erstaunlich, mit wie wenig Überlegung man durchs Leben kommen kann. Ein Versicherungsunternehmen ist so jedenfalls nicht zu betreiben. Ich habe einmal eine Lebensversicherung abschließen wollen und musste da einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Nun war ich, wie der Fachausdruck lautet „beruflich strahlenexponiert“ und wusste nicht recht, ob ich bei der Frage „Üben Sie einen gefährlichen Beruf aus“ ein Kreuz machen sollte. „Nein“, sagte der Versicherungsvertreter, „das können Sie durchstreichen. Sie haben keinen gefährlichen Beruf. Nach unseren Statistiken gibt es da keine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit.“

Nun, viele Menschen haben die Denkweisen der Märchenwelt in ihr Erwachsenenleben „hinübergerettet“. Es gibt aber noch einen Grund, dass Strahlenwirkungen, sagen wir mal, nicht ganz zutreffend beurteilt werden. Die Medien und die Politiker vermitteln uns ein schiefes Bild von den Risiken unseres Lebens. Erinnern Sie sich noch an BSE, den Rinderwahn? Es gab wenige Todesfälle in England und bei uns keinen einzigen. Da fahren die Leute Motorrad, rauchen, saufen, aber Rindfleisch essen? Viel zu gefährlich. Die Medien brachten den Glauben unters Volk, und der Staat gab Milliarden zur Bekämpfung dieses Nullrisikos aus. Man musste schließlich die Sorgen der Menschen ernst nehmen, nachdem man diese Sorgen künstlich erzeugt hatte.
Überhaupt die Medien: Über einen tödlichen Unfall auf einer Baustelle berichten nicht einmal die Lokalzeitungen. Ein Toter in einem Chemiewerk kann schon in die Tagesschau kommen. Vorfälle in kerntechnischen Anlagen werden immer groß herausgebracht, auch wenn niemand zu Schaden kam. Das ist wie in der Geschichte vom Grafen Bobby auf Löwenjagd: Der geistig etwas beschränkte Graf kommt aus Afrika zurück und wird gefragt, wie viele Löwen er denn erlegt hätte. Keinen, muss er zugeben. „Aber Herr Graf, dann hat sich die Safari ja gar nicht gelohnt!“ „Oh doch“, sagt Bobby, „denn bei Löwen ist keiner schon viel!“ Nun, und bei Geschädigten in kerntechnischen Anlagen ist keiner schon zu viel. Alternative Logik!

Oder es wird wirklich jemand verletzt, krank oder stirbt gar – dann muss es an der Kernkraft liegen. In diesem Zusammenhang sagte einmal der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Niedersächsischen Landtag: Wenn Sie unter einem Apfelbaum Äpfel finden, stammen die nun von dem Baum, oder hat sie gar jemand hingetragen?

Im Kernkraftwerk Krümmel brannte am 28. Juni 2007 ein Trafo. „Es hat an diesem Tag Verletzte gegeben“, behauptete die zuständige Ministerin Gitta Trauernicht. Tatsächlich, das war nicht gelogen. Ein Schlosser hatte sich außerhalb der Reaktorhalle in den Finger geschnitten, ließ sich vom Sanitäter ein Pflaster auf den Finger kleben und ging wieder an seine Arbeit. Jemand anders wurde im Freien, aber innerhalb des Kraftwerksgeländes von einer Wespe gestochen. Das führte dann zu der Meldung: „Verletzte bei Störfall im Kernkraftwerk.“

Sie haben jetzt sicher den Eindruck, dass ich nicht gegen Kernkraftwerke bin. Ganz recht, so ist es. Aber mit der entsprechenden Industrie habe ich nichts zu tun, und gelegentlich ärgere ich mich über deren Öffentlichkeitsarbeit. Man stimmt dort in die allgemeine Kritik an der Asse ein. Weiß der Geier, aus welchen taktischen Gründen sie das tun. So hat in der Zeitschrift für Kerntechnik jemand unter dem Titel „Mehr Ehrlichkeit in der Energiediskussion“ die Vorgänge in der Asse als „skandalös“ bezeichnet. Wie kann die Einlagerung einer Aktivitätsmenge, die geringer ist als der Inhalt einer einzigen Kokille mit hochaktivem Abfall aus einer Wiederaufarbeitungsanlage, in Tiefen von 500 bis 800 Meter skandalös sein, wenn man sonst in der Welt Tiefen von weniger als 50 Meter für völlig ausreichend hält? Das muss der Autor doch wissen, und so ist das Wort „Ehrlichkeit“ im Titel ziemlich unpassend.

Vielleicht sind sie Kernkraftgegner und wollen das auch bleiben. Meinetwegen, ich möchte informieren, nicht missionieren. Zum Thema Strahlenwirkungen habe ich oft Kurse abgehalten, und unter den Kursteilnehmern waren hin und wieder richtig engagierte Kernkraftgegner. Ich habe mich da schon gefragt, was wird, wenn ich einen überzeugen kann, dass alles, was er bisher auf diesem Gebiet geglaubt hat, nur kalter Kaffee ist. Er verliert seine Freunde. Die Castor-Demo in Gorleben, bisher der Höhepunkt des Jahres, macht keinen Spaß mehr. Sein Leben hatte einen Sinn; er glaubte, die Welt vor dem Atomtod zu retten. Und das soll alles weg sein? Wer könnte das verantworten? Auch ein Aberglaube kann manchem einen Halt im Leben geben. Also, wenn Sie bei Ihrem Strahlenglauben bleiben wollen, fassen Sie meine Ausführungen als einen Ausflug in eine für Sie fremde Welt auf, was doch auch einmal interessant sein kann.

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