01.03.2009

Der Asse-„Skandal“

Kommentar von Lutz Niemann

Manche Ereignisse sind keine wirklichen Skandale, aber sie werden zu solchen gemacht. In der deutschen Politik ist das mittlerweile fast Standard. Die Endlagerdebatte ist so ein Beispiel dafür. Von politischen Profilierungssehnsüchten auf Kosten der Bürger.

Durch ständige Wiederholung, Tag für Tag ein neues Mosaiksteinchen den „Enthüllungen“ hinzufügend, gelang es vergangenen Herbst wieder einmal, Tatsachen auf den Kopf zu stellen.1 Auslöser war Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD), der sich im September 2008 zur „ungelösten Endlagerfrage“2 äußerte und das Endlager Asse für schwach- und mittelaktive Stoffe aufs Korn nahm: größter GAU, unsicherste kerntechnische Anlage in Deutschland, Pannen, Schlamperei – so befand der große Meister. Die Medien taten das ihre, um die Botschaft zu verbreiten, und die Atomkraft erstrahlte erneut als gigantische Bedrohung – zur Freude von SPD und Grünen. Gabriels Attacke war jedoch alles andere als eine treffende Beschreibung der eigentlich wenig spektakulären Realität in der Asse.

Normalzustand

Einst war die Asse ein Bergwerk. Seit 1899 wurden dort Kalisalz und Steinsalz abgebaut. Nach Ende des Abbaus wurde es 1965 vom GSF-Forschungszentrum übernommen, um Forschungsarbeiten zur Endlagerung von radioaktiven Abfällen durchzuführen. Im Rahmen dieser Forschungen wurden in 10 Prozent der insgesamt 131 Abbaukammern Einlagerungen von 125.000 Gebinden mit schwach- und mittelaktiven Abfällen auf verschiedene Art und Weise vorgenommen. Seit 1995 werden die unterirdischen Hohlräume mit Rückstandssalzen aus anderen Salzbergwerken aufgefüllt, die bisher oberirdisch lagerten. Das Bergwerk wird seither geschlossen.3 In den Abbaukammern der Asse wurde auf einer Vielzahl von Sohlen so viel Salz wie möglich gewonnen. So ist ein Grubengebäude wie ein löchriger Schweizer Käse entstanden, mit Hohlräumen und dazwischen stehen gebliebenen Pfeilern, damit es stabil bleibt. Salz verhält sich aber bei dem Druck der darüber lagernden Deckschichten wie eine zähe plastische Masse, d.h., es verformt sich. Die Kammern werden, mit Geschwindigkeiten von wenigen Zentimetern pro Jahr, zusammengedrückt. Das ist ein normaler und damit auch erwarteter Vorgang. Daher senkt sich nun auch das Deckgebirge, d.h., an der Oberfläche senkt sich der Boden um etwa einen Zentimeter pro Jahr ab.4

Die Menschen im Ruhrgebiet und im Saarland kennen diese Erscheinungen. Natürlich ist die Beherrschung des Steinkohleabbaus eine geologische Herausforderung. Aber dass die ehemalige Salzgrube der Asse irgendwann brüchig wird und es zu Einstürzen kommen kann, wird von keinem Experten bestritten. Ebenso ist es ein ganz normaler Vorgang, dass in einen unterirdischen Hohlraum irgendwann Wasser eindringt: Wenn in der Tiefe Hohlräume gegraben werden, sickert von oben her Feuchtigkeit langsam hinein. Nur ist nie vorauszusehen, in welcher Zeit das geschieht. Es kann zehn Jahre dauern oder 100 Jahre oder 1000 Jahre oder noch länger. In der Asse war es vor 20 Jahren so weit: Seitdem dringt an einer Stelle mit gelöstem Salz gesättigtes Wasser (sogenannte „Sole“) von oben her in das Labyrinth der Kammern und Gänge ein. Es sind zwölf Kubikmeter pro Tag, was für eine Grube eine eher geringe Menge darstellt. Alle stillgelegten Bergwerke werden irgendwann „absaufen“, wenn man das Wasser nicht abpumpt; oder, wie bei der Asse, die Hohlräume auffüllt. Doch diese längst bekannten Gegebenheiten waren im letzten Herbst auf einmal Teil der Beanstandungen von Umweltminister Gabriel. Seine harten Anschuldigungen standen in allen Zeitungen. Die Verteidigung des beschuldigten Betreibers der Schachtanlage, des Helmholtz-Zentrums München, fand hingegen kaum ein Echo in Politik und Medien.

Gefahr in Zahlen

Aber wie verhält es sich mit der Gefahr, die von den dort endgelagerten Stoffen ausgeht? Auch hieraus wurde nie ein Geheimnis gemacht. Die Fakten waren immer öffentlich zugänglich.5 Die Menge der heute in Asse gelagerten Radioaktivität (s. hierzu die Infobox) beträgt 3 mal 10 hoch 15 Becquerel [Bq]. Nach 140 Jahren, wenn das Nuklid mit der höchsten Aktivität zerfallen ist, werden es zwei bis drei Größenordnungen weniger sein, also weniger als 3 mal 10 hoch 13 Becquerel. Betrachtet man dazu die Mengen der endgelagerten Stoffe, so sind es im Wesentlichen je ca. 100 Tonnen Uran und Thorium sowie ca. 10 Kilogramm Plutonium (aus der Pilotwiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe). Alle Abfälle sind verteilt auf die 125.000 Fässer, in den Fässern wiederum eingegossen in Beton oder Bitumen. Zur Beantwortung der Frage nach dem Gefährdungspotenzial vergleichen wir die Situation mit der natürlich vorkommenden Radioaktivität der in der Natur überall vorhandenen radioaktiven Stoffe Uran, Thorium und Kalium-40. Wir wählen zum Vergleich das Deckgebirge über dem Salzstock mit der Tiefe 500 Meter und der Flächenausdehnung 1 Kilometer mal 1 Kilometer, wie in der Skizze dargestellt. In diesem halben Kubikkilometer [km3] der Erdkruste befinden sich rund 4000 Tonnen Uran (= 10 hoch 14 Bq), 12.000 Tonnen Thorium (= 5 mal 10 hoch 13 Bq) und 3500 Tonnen Kalium-40 (= 10 hoch 15 Bq), wenn man die Durchschnittskonzentrationen dieser Elemente in der Erdkruste zur Berechnung heranzieht.6

An anderer Stelle wird in der Fachliteratur die mittlere Aktivität von einem Kubikkilometer der Erdkruste mit 2,6 mal 10 hoch 15 Bq angegeben7, unsere einfache Abschätzung stimmt damit befriedigend überein. Man sehe und staune: Die endgelagerten Stoffe in der Tiefe werden also durch eine viel größere Menge von ebenfalls radioaktiven Stoffen im Deckgebirge überdeckt. Natürlich sind die endgelagerten Abfälle auf engerem Raum gelagert, und die Konzentrationen in der Tiefe sind sicherlich an vielen Stellen höher als die Konzentrationen der natürlichen Radioaktivität in der Erde. Warum aber sollten angesichts der viel größeren darüber lagernden Aktivität des natürlichen Gesteins gerade die Stoffe in der Tiefe eine Gefahr darstellen?

Illustration
[Die im Endlager Asse befindlichen Abfälle und Aktivitäten sind vernachlässigbar gegenüber den überall vorhandenen radioaktiven Stoffen bzw. deren Aktivitäten]

Strahlende Zeitbombe?

Viel wurde berichtet über die „radioaktive“ Lauge und „strahlendes“ Wasser in der Asse. Wie ist dieser Sachverhalt zu bewerten? In der von oben in das Grubengebäude einsickernden Sole wurde eine Urankonzentration von maximal 2 Mikrogramm pro Liter [µg/l = 10 hoch minus 6 Gramm/l] festgestellt. Das ist ganz normal, denn in jedem Wasser (Meerwasser, Grundwasser, Trinkwasser, Mineralwasser) ist immer Uran in Spuren enthalten.8 Ferner gab es an einzelnen Stellen des Grubengebäudes geringe Mengen Sole mit Cäsium-137 (Cs-137). Dieses Nuklid kam ursprünglich nicht in der Natur vor. Spuren davon wurden durch den Fallout der oberirdischen Kernwaffenversuche und durch den Unfall von Tschernobyl weltweit verteilt. An der Oberfläche in der Gegend der Asse beträgt dessen Konzentration etwa 50 Becquerel pro Kilogramm Gartenerde. In einem Kubikmeter Erdreich sind das ca. 100.000 Becquerel Cs-137. Das sind Zahlen, die zwar bei der unbedarften Lektüre Eindruck machen können, aber keinerlei Gefahr bedeuten.9 Cäsium ist ein Alkalimetall, daher ist es gut löslich in Wasser, kann im gelösten Zustand wandern und verschleppt werden (z.B. aus dem Verfüllmaterial der Hohlräume der Asse). In der Grube kann das in Wasser gelöste Cäsium aufkonzentriert werden, da es dort etwa 30 Grad Celsius warm und die Luft trocken ist. In Medienberichten wurde in der Regel die Konzentration des Cäsiums-137 in Bq/kg angegeben. Die Absolutzahlen jedoch fehlten.10 Man kann daher vermuten, dass die Mengen kleiner als ein Kilogramm waren, und man kann folgern: Wenn tief unten in der Grube in einer Pfütze Flüssigkeit am Boden sich Cäsium-137 angesammelt hat, wie es sich an der Oberfläche in drei Schubkarren voller Gartenerde befindet, dann ist dies ohne Belang. Schließlich wachsen oben in der Gartenerde unsere Radieschen und gelbe Rüben, die wir zu Recht unbesorgt genießen. 500 Meter unter der Erde können wir Cäsium-137 also beruhigt vergessen.

In der Asse wurden Carnallit (das Kalisalz mit der Formel KCl x MgCl2 x 6H2O) und Steinsalz (NaCl) gefördert. Nun besitzt Kalium mit K-40 ein radioaktives Nuklid, das einen großen Teil der natürlichen Radioaktivität der Erde und damit auch des Menschen ausmacht. Kalium brauchen die Pflanzen zum Wachsen, Kalium ist für jedes Lebewesen notwendig. Selbstverständlich nehmen auch wir mit dem Kalium jeden Tag radioaktives Material zu uns. Die Rechnung ergibt für einen Kubikkilometer Carnallit die Aktivität von 4 mal 10 hoch 15 Becquerel. Unter der Annahme, dass aus den unterirdischen Hohlräumen der Asse von 3,3 Mio. Kubikmeter gleichviel Carnallit wie Steinsalz gefördert wurde, folgt, dass von dort unten 7 mal 10 hoch 12 Becquerel an die Erdoberfläche befördert worden sind. In den letzten Jahren wurde dort unten wieder Radioaktivität eingelagert, nur in Form anderer Nuklide. Und natürlich gibt es auch heute Kalibergwerke in Deutschland, in denen nach „radioaktivem Kalium“ gegraben wird. Die Kali+Salz AG fördert jährlich etwa 6 mal 10 hoch 12 Becquerel an die Erdoberfläche. Davon gelangen 2 bis 3 mal 10 hoch 12 Becquerel als Dünger auf deutsche landwirtschaftliche Flächen, damit die Pflanzen kraftvoll und gesund wachsen.11 Und anschließend dienen die Pflanzen der Ernährung von Mensch und Tier. Mit Speisen und Getränken werden von den Menschen in unserem Lande jährlich rund 2,6 mal 10 hoch 12 Becquerel konsumiert.12 Unser „Verzehr“ von Radioaktivität ist ein ganz natürlicher Vorgang, der zum normalen Leben gehört.

Chaotische Zustände?

Bilder sind in ein beliebtes Mittel der Meinungsbildung und -mache. Abstrakte Dinge werden anschaulich, und sie berühren den Menschen emotional. So tauchte in der Kampagne um die Asse immer wieder ein ganz bestimmtes Bild auf: Ein Lader kippt scheinbar achtlos Fässer ab, die durcheinanderfliegen und ungeordnet und möglicherweise sogar beschädigt zum Liegen kommen. Es handelt sich um ein Bild aus dem Archiv, das sich in vielerlei Informationsbroschüren findet – die älteste, die ich fand, stammt aus dem Jahre 1985. Daneben sind in besagten Infomaterialien aber auch andere Aufnahmen zu finden, nämlich sorgfältig in Reih und Glied gestapelte Fässer. Die Skandalisierung der Asse durch Umweltminister Gabriel sollte dem Bürger allerdings Schlamperei mit potenziell katastrophalen Folgen vor Augen führen. Und das gelingt nun einmal am besten mit dem erstgenannten Bildmaterial. Viele Menschen waren ob der Fotos über die vermeintlich unverantwortliche Lagerpraxis empört. Doch der im Bild transportierte Eindruck entspricht nicht der Realität. Die sorgsam gestapelten Fässer mit Hohlräumen dazwischen werden irgendwann vom sich absenkenden Gebirge zerdrückt werden, weil dort die Hohlräume nicht verfüllt werden. Das ist den Betreibern seit jeher bewusst. Die auf einer schrägen Rampe abgekippten Fässer wurden deshalb anschließend mit fein gemahlenem Salzmaterial bedeckt, das sich verfestigt und die Fässer wie in Beton einbettet – für die Ewigkeit. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Einbaumethoden, wobei diejenige mit den abgekippten Fässern zwar den schlechteren Eindruck macht, aber zum besseren Resultat führt.

Ende des Endlagers?

Wie wird es mit der Asse weitergehen? Die Zuständigkeiten wurden im Zuge der politischen Aufregung geändert. Der Betreiber der Asse handelte zuvor all die Jahre im Auftrag des Bundes, aber unter Aufsicht der jeweiligen niedersächsischen Landesregierung. Deren Ministerpräsident war übrigens vier Jahre lang Sigmar Gabriel, der aber damals offenbar nichts von den heute monierten und angeblich so „katastrophalen Zuständen“ bemerkte. Nun bestimmt wieder Gabriel, und das Bundesamt für Strahlenschutz überwacht die Anlage. Die Bundespolitik hat sich damit Einfluss gesichert – in jeder Hinsicht. Es gilt nun (500 Meter unter der Erdoberfläche) das sehr strenge Atomrecht. Das Bergrecht ist nicht mehr ausschlaggebend. Das bietet nicht zuletzt auch vielfältige Optionen, belanglose Ereignisse der Öffentlichkeit auch zukünftig mit knalligen Schlagzeilen zu präsentieren und die Endlagerung als ein ungelöstes Problem erscheinen zu lassen und weiter zu behindern. Angesichts der anstehenden Wahlkämpfe ist sogar zu vermuten, dass einige Fässer wieder an die Oberfläche geholt werden, um den Bürgern mit bunten Bildern die vermeintlich halsbrecherische „Gefährlichkeit“ der Atomkraft erneut zu demonstrieren. Und es kursieren bereits Zahlen für Zusatzkosten von 200 Millionen Euro. Die Bürger werden auch hierfür zahlen müssen, denn sie verlassen sich auf die zumindest bei dieser Frage eigentlich längst erodierte Redlichkeit der Obrigkeit. Für die Mitarbeiter der Asse hatte das politisch motivierte Eingreifen Gabriels erhebliche Folgen: Durch den Vorwurf der Inkompetenz und illegalen Verhaltens seitens des Bundesministers sind die Mitarbeiter Anfeindungen, Beschimpfungen, Schuldzuweisungen und Ausgrenzungen ausgesetzt, was sich bis hinein in ihre Familien auswirkt. Es gibt keinen Asse-Skandal – es ist aber ein Skandal, wie vollkommen natürliche Dinge aufgebauscht werden, nur um eine Politik zu untermauern, die Deutschland bald von einer sicheren und wirtschaftlichen Stromversorgung abschneiden wird.


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Radioaktivität
Wir benutzen den Begriff Radioaktivität – gemessen in Becquerel = Zahl der Zerfälle pro Sekunde – als Maß für ein Gefährdungspotenzial. Die radioaktiven Strahlen werden allerdings erst dann schädlich, wenn sie ein Lebewesen auch erreichen. Dazu ist, gerade bei Alpha-Strahlern wie Uran und Thorium, ein Verspeisen erforderlich, was durch die Lagerung unter Tage ausgeschlossen ist.


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Zahlen zur Radioaktivität
Mittlere Aktivität von 1 km³ der Erdkruste 2 x 10 hoch 15 Becquerel
Aktivität der 15 km tiefen Erdkruste unter Deutschland 1 x 10 hoch 22 Becquerel
Aktivität der 15 km tiefen Erdkruste der Erde 4 x 10 hoch 25 Becquerel
Bis 2000 angefallener hochaktiver Abfall aller deutschen Kernkraftwerke nach 500 Jahren Abklingzeit 3 x 10 hoch 16 Becquerel
Natürlicher Eintrag von Radon in die Lufthülle weltweit im Jahr 3 x 10 hoch 19 Becquerel
Aktivität aller Menschen auf der Erde 5 x 10 hoch 13 Becquerel
Aktivität von 1 km³ Carnallit 4 x 10 hoch 15 Becquerel
Aktivität in einem Kernkraftwerk in Betrieb ~ 10 hoch 21 Becquerel

1 Jahr nach Abschalten ~ 10 hoch 19 Becquerel
10 Jahre nach Abschalten ~ 10 hoch 18 Becquerel
100 Jahre nach Abschalten ~ 10 hoch 17 Becquerel
1000 Jahre nach Abschalten ~ 10 hoch 15 Becquerel

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