01.09.2009

Staatsstreich gegen die Freiheit

Essay von Kai Rogusch

Die Große Koalition hat den Trend zur obrigkeitlichen Menschenverwaltung, der schon unter der rot-grünen Regierung eingeleitet wurde, weiter vorangetrieben. Eine verheerende Bilanz der Merkel-Regierung, die unsere freiheitliche Demokratie in eine kollektivistische „Notgemeinschaft“ verwandelt hat.

Die Bilanz der Großen Koalition liest sich wie eine Kampagne gegen die Freiheit. Ein neuartiger Kollektivismus ist zur Richtschnur der Politik geworden. Ihre Apparate und Gesetze lösen den freien Bürger zusehends in einer Art „Notgemeinschaft“ auf. Der Trend zur Regulation der Menschen bis in intimste Bereiche des privaten und zivilen Lebens hinein wurde schon unter der rot-grünen Regierung eingeleitet, doch seit 2005 hat er die bloße Vorstellung persönlicher wie gesellschaftlicher Freiheit mehr oder weniger erdrosselt.

Automatisch reagiert die Große Koalition inzwischen auf fast jede reale oder eingebildete Herausforderung mit dem Griff nach Verwaltungsinstrumenten, die die Bürger zu negativ besetzten Störfaktoren im Betrieb degradieren. Wir treten im politischen Diskurs heute in erster Linie als statistisch vermessene Gefahrenfaktoren auf – als zu fettleibige Konsumenten, als Umweltverschmutzer und Angehörige bildungsferner Milieus, als alkohol- und nikotinabhängige Bedroher der Volksgesundheit oder als mittels präventiver Überwachung zu kontrollierende Sicherheitsgefährder. Statt Politik als Mittel zur Mobilisierung gesellschaftlicher Potenziale zu begreifen, widmen sich die Politiker dem „Mikromanagement“ der Menschen und stimmen sie gleichzeitig auf eine lange Periode des Null- oder Miniwachstums ein. Kein Ehrgeiz treibt zu neuen Ufern, keine Eigeninitiative belebt das kreative Potenzial der Bürger zur Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft, und selbst das Vertrauen der Menschen in sich selbst als mündige Meisterer des eigenen Lebens wird systematisch untergraben. So treibt die Große Koalition den Trend zu einer Form obrigkeitlicher Menschenverwaltung voran, der unweigerlich auch die Demokratie jedes Sinngehalts entleert.

Diese Entwicklung konterkariert alles, was wir heute für eine Wiederbelebung unserer Gesellschaft dringend benötigen. Wir brauchen mehr denn je eine langfristige Organisation der Gesellschaft um eine durch einen gehörigen Machbarkeitsglauben unterfütterte Idee der Erneuerung. Wir brauchen Eliten, deren gutes Beispiel belebend auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlt. Wir brauchen demokratische Verfahren, die einen Wettbewerb um die besten Ideen ermöglichen. Wir brauchen Freiräume, ohne die die menschliche Kreativität erstickt. Doch von allem haben wir das genaue Gegenteil: Die Politik, die nicht mehr vom Menschen her denkt, sondern Bürokratien zum Organisationsselbstzweck verkommen lässt, verbreitet Kleinlichkeit, Missmut, Passivität, niedrige Erwartungen und ängstlichen Konformismus.

Dass die Freiheit heute unter Beschuss steht, erkennen inzwischen viele. Wolfgang Schäubles Sicherheitspolitik, das Demokratiedefizit der EU oder die schleichende Regulierung des Alltags durch Antirauchergesetze werden breit diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht bremst mit einer nicht abbrechenden Serie von Urteilen freiheitsbedrohliche Entwicklungen in der Gesetzgebung. Das alles ist gut, aber lange nicht genug. Es gilt, die Negierung humanistischer Freiheitsideale sehr viel grundsätzlicher als bislang zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung zu machen.

Kollektivistische „Notgemeinschaft“ und Rationierung

Viele Politikfelder der Großen Koalition belegen den geschilderten Trend. Auffällig ist die Entwicklung eines neuartigen Kollektivismus. Er ist nicht, wie einst der Kommunismus, auf die Mobilisierung kollektiver Energien für den Aufbau einer neuen Gesellschaft gerichtet – und auch nicht auf die Realisierung von Konzepten für mehr Gerechtigkeit, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt oder wirtschaftliche Innovation. Dieser Kollektivismus gründet vielmehr schon im Ansatz auf dem Leitbild der nackten Gefahrenabwehr. Es entstehen „Gesundheitsfonds“, „Deutschlandfonds“ oder „Rettungsfonds“. In der Sicherheitspolitik macht sich die Idee von „Bürgeropfern“ breit, und in der Gesundheitspolitik rückt der Aspekt der präventiv zu sichernden „Volksgesundheit“ in den Vordergrund. In all diesen Bereichen macht sich die Bereitschaft bemerkbar, Individuen unter abstrakten „Allgemeinwohlbelangen“ zu subsumieren, die sich zentral auf die Abwehr vermeintlicher Gefahren reduzieren.

Sicherheitspolitik

Bevor dieser neue Kollektivismus in der Sicherheitspolitik Fuß fasste, begründete man Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte in erster Linie mit dem Schutz individueller Rechtsgüter. Die Schaffung eines „Grundrechts auf Sicherheit“ sollte den Ausbau staatlicher Überwachungsmaßnahmen legitimieren – aber unter der Maßgabe, dass der einzelne Bürger nicht frei leben könne, wenn er ständig damit rechnen müsse, Opfer einer Gewalttat zu werden. Bezugsgröße waren die individuellen Rechte potenzieller Opfer von Gewalt oder Kriminalität. Neuerdings verschiebt sich der Akzent der Sicherheitspolitik, denn mittlerweile gewinnen existenzielle Belange des „Staatsschutzes“ eine neue Bedeutung, und der Aspekt des „Bürgeropfers“ rückt ins Zentrum.

Das wird deutlich, wenn man sich die politische Diskussion über das schon zu Zeiten der rot-grünen Koalition verabschiedete und vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterte „Luftsicherheitsgesetz“ vergegenwärtigt. Es sollte den an einer möglichen terroristischen Aktion unbeteiligten Flugpassagier opfern, indem es sein Leben mit einer Vielzahl anderer Leben „verrechnete“. Das Bundesverfassungsgericht sah in diesem Gesetz einen fundamentalen Bruch mit dem obersten Wert des Grundgesetzes: der Menschenwürde. Das glücklicherweise gescheiterte Gesetz zeigte dennoch, wie der Rückbezug der Politik auf das Individuum aufgeweicht und stattdessen das Argument existenzieller Staatsschutzbelange in den Vordergrund gerückt wird, denen das Individuum sich zu fügen habe. Dieser Trend sollte durch das Luftsicherheitsgesetz verrechtlicht werden. Unterstützt wurde dieses Vorhaben durch scharfe Kritik aus akademischen und publizistischen Kreisen an den höchsten deutschen Richtern. Sie wurde von konservativen Staatsrechtlern wie Otto Depenheuer angefacht und zielte auf Unterstützung des innenpolitischen Konfrontationskurses von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gegen das Bundesverfassungsgericht. Unter Beschwörung eines latenten und dauerhaften Ausnahmezustandes im „Krieg gegen den Terror“ wurde eine „Notgemeinschaft“ konstruiert.

Weitere Gesetze wurden durch die Große Koalition, nachdem die rot-grüne sie erlassen hatte, implementiert. Sie sehen die tendenziell unterschiedslose Einbeziehung der Bürger in flächendeckende Sicherheitsnetze zum Zwecke der „Sicherheitsvorsorge“ vor. Denn auch die Vorratsdatenspeicherung bezieht jeden Bürger, unabhängig davon, ob er verdächtig ist oder nicht, in eine neue Art gesamtgesellschaftlicher Sicherheitsvorsorge ein. Jeder einzelne Bürger gibt nach dieser neuen Philosophie seine Kommunikationsverhaltensmuster preis, damit sie für künftige, noch nicht absehbare kriminalistische Rückverfolgungs- und Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung stehen.

Gesundheits- und Wirtschaftspolitik

Auch in der Gesundheits- und Wirtschaftspolitik gewinnt ein kollektivistischer Trend zur vorsorgenden Verwaltung der individuellen sozialen Akteure im Dienste eines verschwommenen Gemeinwohlbegriffs an Fahrt. In der Gesundheitspolitik unter Ministerin Ulla Schmidt (SPD) ist mit dem „Gesundheitsfond“ ein bürokratisches, zentralistisches und rationierendes System eingeführt worden, mit dem das Gesundheitswesen weiter in Richtung einer Planwirtschaft gedrängt wird. Doch der Trend lässt sich auch am Beispiel der Anti-Raucher-Gesetzgebung unschwer festmachen. Dass seit einiger Zeit unter Androhung von Geldstrafen das individuelle Laster des Rauchens verboten wird, lässt sich zwar vordergründig mit dem „Schutz der Nichtraucher“ rechtfertigen, die sich ihrerseits in ihrer individuellen Freiheit und Gesundheit beeinträchtigt sehen. Doch in Wahrheit geht es der Gesundheitspolitik nicht um den Nichtraucherschutz an sich, sondern um die schädlichen Wirkungen des Rauchens allgemein. Die abstrakteren Rechtfertigungsmuster handeln von statistischen Zielen einer „deutlich geringeren Krebsquote“. Die neue Stoßrichtung der Gesundheitspolitik wird überdies offenbar, wenn man den „nationalen Aktionsplan“ der Bundesregierung anschaut, mit dem ausdrücklich angestrebt wird, „die Ernährung und das Bewegungsverhalten der Deutschen bis 2020 nachhaltig zu verbessern“ und den „Trend zum Übergewicht bei Kindern zu stoppen“. Hier rückt der am Einzelnen orientierte Gesundheitsschutz an den Rand zugunsten einer an „Zehnjahresplänen“ orientierten „Volksgesundheit“.

In der Wirtschaftspolitik, die bislang noch am längsten am Ideal der freien Entfaltung der Akteure am Markt orientiert war, entwickeln wir uns ebenfalls in Richtung einer Art sozialer „Notgemeinschaft“. Unter dem Eindruck eines durch die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise genährten Fatalismus schwinden die Erwartungen an Wachstum und Innovation deutlich. Nicht nur Großbanken, auch gestandene Großunternehmer und Milliardäre suchen Schutz unter staatlichen Rettungsschirmen. „Deutschlandsfonds“ oder „Rettungsfonds“ sollen strauchelnden Unternehmen und Banken vorübergehend Halt geben, ohne dass man zu sagen wüsste, wie sich – oder wer – dann die dringend erforderliche Schaffens- und Erneuerungskraft in Zukunft noch entfalten soll. Was sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass die Freiheit der individuellen Lebensplanung breiter Bevölkerungsschichten auf dem Prüfstand steht, wenn die Wirtschaft schrumpft und die von führenden Intellektuellen wie Meinhard Miegel oder Ulrich Beck in Aussicht gestellte Perspektive eines Null- oder Miniwachstums zur stillschweigenden Prämisse politischer Entscheidungen wird.

Klima-, Umwelt, und Europapolitik: Institutionalisierung der Ohnmacht

Wir beobachten auf der Ebene der Politik eine wachsende Tendenz zur Auslagerung politischer Entscheidungen und eine entsprechende Diffusion politischer Macht. Die Europapolitik ist dafür in besonderem Maße symptomatisch. Die Europäische Union entwickelt sich zu einem selbstbezüglichen Machtgefüge, das keinem demokratischen Souverän mehr Rechenschaft schuldet. Die souveräne Macht der Gesetzgebung, die der ursprünglichen Idee des demokratischen Parlamentarismus zufolge im Parlament gebündelt sein soll, das dem Staatsvolk gegenüber unmittelbar verpflichtet ist, wird in der Europäischen Union in einem komplizierten Arrangement zwischen den EU-Organen „Rat“, „Kommission“ und „Parlament“ aufgeteilt. Politische Entscheidungsabläufe sind so arrangiert, dass sie sich vom kollektiven Willen des demokratischen Souveräns ablösen und verselbstständigen.

Die Klima- und Umweltpolitik wurde von der Großen Koalition unter „Klimakanzlerin“ Angela Merkel weiter vorangetrieben. Sie dokumentiert in Extremform, wie sich die Gesellschaft neu um ein eigentümliches Konzept menschlicher Ohnmacht organisiert. Inzwischen beziehen sich weite Teile der Gesellschafts-, Wirtschafts-, Energie- und selbst der Weltpolitik auf das Dogma der Endlichkeit der Naturressourcen und des Energiesparens als Antwort auf den Klimawandel. Hier wird das Vertrauen, durch neue Erfindungen neue Energiequellen zu erschließen, durch die Ideologie vorgegebener „Grenzen“ decouragiert; und dann errichtet man auch noch einen bürokratisch überaus machtvollen Apparat, der den „ökologischen Fußabdruck“ des Menschen reduzieren soll. Es ist eine Politik der institutionalisierten Selbstaufgabe von Humanität. Einerseits schreibt man Menschen geradezu apokalyptisches Zerstörungspotenzial zu. Und gleichzeitig unterbindet man die Perspektive einer positiven Gestaltung meteorologischer Gegebenheiten, weil eine solche Vorstellung nur menschlicher „Hybris“ entspringe. Machtvolle Staatsapparate dienen inzwischen primär dem Zweck, menschliches Handeln einzudämmen. So widmet sich die Europäische Union kleinlichen Rauchverboten oder der Abschaffung „energieintensiver“ Glühbirnen. Diese Regulation banalster individueller Lebensäußerungen legt sich wie eine bleierne Last über das Leben im Großen wie im Kleinen.

Familienpolitik: Mikromanagement statt Demokratie

Politik sollte eigentlich der Kontrolle und Gestaltung gesellschaftlicher (und auch natürlicher) Prozesse dienen, deren Beherrschung dem Bürger in seiner Eigenschaft als Einzelperson nicht möglich ist. Das erweitert menschliche Freiheit, und das kreative Potenzial der Einzelnen kann sich dann auf höherer gemeinschaftlicher Ebene potenzieren. Wenn sich Bürger zu einem kollektiven Verband zusammenschließen, der demokratischen Prinzipien gehorcht, können sie gesellschaftliche und ökonomische Unwägbarkeiten kontrollieren, die ihnen sonst vorgegeben wären. Auch heute, im Zuge einer undurchschaubar erscheinenden Wirtschafts- und Finanzkrise, sind wir mit Verwerfungen konfrontiert, die der dringenden und demokratisch gut vermittelten Gestaltung bedürfen.

Stattdessen stehen wird vor paradoxen Verwicklungen. Einerseits ist uns die Politik der Apparate so fremd geworden, dass die Kluft zwischen Bürgern und Politikern zum Dauerthema avanciert ist. Anderseits rückt uns eine Politik, die sich dem „Mikromanagement“ des persönlichen Lebens widmet, immer mehr auf den Leib. Die Familienpolitik Ursula von der Leyens ist exemplarisch für diese konfusen Trends. So will die Familienministerin staatliche „Anreize“ für die Erzeugung des „geeigneten“ Nachwuchses schaffen. Gleichzeitig werden im intimsten Bereich des familiären und nachbarschaftlichen Zusammenlebens staatliche „Frühwarnsysteme“ installiert. So soll ein obligatorisches, flächendeckendes Netz von Vorsorgeuntersuchungen möglichst früh Anzeichen elterlicher Vernachlässigung aufspüren.

Dass Politik der Erweiterung persönlicher Freiheit dienen soll und nicht ihrer Beschränkung, gerät angesichts dieser Fixierung der Politik auf das Verwalten sozialer „Devianz“ – unter laufender Ausweitung dieses Begriffs – zunehmend in Vergessenheit. Die private Lebenssphäre wird nicht nur zum öffentlichen Interventionsfeld, auch populäre Fernsehsendungen wie „Super Nanny“ üben die permanente externe Verwaltung persönlicher Ratlosigkeit ohnmächtiger Opferfiguren ein. Aber selbst die Eliten vermitteln immer häufiger den Eindruck eigener Belanglosigkeit. Sie bezeichnen sich oft als bloße Rädchen im System und vermitteln nur selten den Eindruck, selbst als Verantwortungsträger für die Neubelebung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wirken zu wollen.

Standardisierung durch Bildungs- und Antidiskriminierungspolitik Die Standardisierung gesellschaftlicher Prozesse ist ein weiteres Hindernis für die dringend benötigte Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft. Es sind Organisationsformen entstanden, die dem spontanen und freien Handeln schon im Ansatz die Luft abschnüren und unerwartete Entdeckungen und Innovationen enorm erschweren. Fantasie und Kreativität können in einem System, das selbst in Wissenschaft und Bildung vorgefertigte Ergebnisse verlangt, niemals gedeihen. Auf dem Gebiet der Hochschulpolitik unterliegt unter dem Stichwort „Bologna-Prozess“ das Studentenleben, einst Inbegriff spontaner Experimentierfreude junger Erwachsener, einem Grad an Verschulung und Bürokratisierung, der nicht nur Studenten unter ständigen Konformitätsdruck setzt, sondern auch Wissenschaftler zur Rechtfertigung gegenüber externen Vorgaben nötigt.

Auch die Antidiskriminierungspolitik der Europäischen Union, die nationale Parlamente willfährig in nationale Gesetze „umsetzen“, veranschaulicht den Trend zur Unterbindung subjektiver Entscheidungsfreiheit. Kern der Antidiskriminierungsgesetze ist die juristisch mit Strafandrohungen bewehrte und durch Beweislastverlagerungen beförderte Gewährleistung „neutraler“ Entscheidungsverfahren bei der Auswahl von Vertragspartnern auf den Gebieten des Arbeitsrechts und in der Sphäre des Wirtschaftsverkehrs. Damit sollen subjektive und „unvernünftig“ erscheinende Motive bei der Bevorzugung oder Benachteiligung potenzieller Vertragspartner in einer wirtschaftlichen Betätigung, die dem öffentlichen Leben zugerechnet wird, ausgeschlossen werden. Im Ergebnis befördert diese Entwicklung den schon vorhandenen Trend einer Auslagerung des firmeninternen Verfahrens der Auswahl von Bewerbern an externe „Assessment Center“. Eine Auswahl von Bewerbern aufgrund von Sympathien kann juristisch gefährlich werden, wenn sie nicht durch allgemein anerkannte Referenzen, wie etwa Zeugnisse oder sonstige Zertifikate, unterfüttert ist. Bewerbungsgespräche werden stereotyp, da unbedachte Anmerkungen etwa von der Art, wie jung man doch für sein Alter aussehe, mögliche und Erfolg versprechende Anlässe für Diskriminierungsverfahren bieten. Verstärkte Dokumentationserfordernisse wie etwa die Aufzeichnung von Bewerbungsgesprächen oder die verlängerte Aufbewahrung von Bewerbungsunterlagen treten hinzu. 

Notwendige Gegenwehr gegen antihumane Trends

Als Fazit zur Großen Koalition kann man also nur festhalten: Wie zuvor schon unter Rot-Grün hat sich der Staat nun noch flächendeckender gesellschaftlicher Gebiete bemächtigt, die Menschen früher einmal eigenständig regelten. Der Staat ist inzwischen viel zu tief in die sozialen wie wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen eingedrungen. Er droht, damit die Selbstständigkeit, Kreativität und den persönlichen Ehrgeiz zu ersticken, auf die wir heute in besonderem Maße angewiesen sind. Er muss sich auf ein vernünftiges Maß zurückschrauben und den Menschen wieder mehr Raum für eigenständiges Handeln öffnen. Die Demontage individueller Freiheit ist unter der Großen Koalition, nachdem sie zuvor in der rot-grünen Ära in Gang gesetzt wurde, für viele so offenkundig geworden, dass sie inzwischen Gegenstand eines durchaus kritischen Diskurses geworden ist. Bekannte Intellektuelle haben die freiheitsbedrohlichen Tendenzen der Gegenwart längst in ihr Repertoire aufgenommen. Die Schriftstellerin Juli Zeh behandelt in ihrem Buch Corpus Delicti eine zukünftige Gesundheitsdiktatur. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm befürchtet die Aushöhlung der Verfassung durch eine zu starke Orientierung der Gesellschaft an der „Gefahrenvorsorge“. Der Philosoph Peter Sloterdijk meint, aus Bürgern seien „Sicherheitsuntertanen“ geworden, die in einer „sekuritären Gesellschaft“ lebten.
Das Problem ist, dass sich diese kritischen Einwände in einer Zeit, in der sich eine Ideologie der Begrenztheit menschlicher Handlungsoptionen so zementiert hat und täglich weiter zementiert, schnell abnutzen können. Den geschilderten antihumanen Tendenzen muss daher entschiedener und auf breiterer Front begegnet werden. Das muss die zentrale Debatte der nächsten Zeit werden, damit wir Wege aus der Stagnation erkunden und unsere Freiheit behaupten können.

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