24.05.2013

Porno: Kein kleines, schmutziges Geheimnis mehr

Essay von Frank Furedi

Pornographie ist in der Alltagswelt der westlichen Gesellschaft angelangt. Sexualität wird überall zur Schau gestellt. Der Soziologe Frank Furedi sieht in der Normalisierung des Porno-Gebrauchs einen ernsthaften Werteverfall, den man mit Zensur weder lösen kann noch sollte.

Im 19. und 20. Jahrhundert bestand Pornographie aus gedrucktem oder visuellem Material, das nur an den Rändern der Gesellschaft erhältlich war. Personen, die pornographische Literatur kauften, hätten sich geniert, wenn sie von anderen dabei gesehen worden wären. Anzügliche und obszöne Magazine wurden in braunen Umschlägen aufbewahrt; Pornos zu kaufen war ein kleines, schmutziges Geheimnis zwischen dem Verkäufer und dem Käufer.

Das war damals. Heute hat sich Pornographie zum Mainstream entwickelt. Sie ist so normal geworden, dass Leute offen über „ihre Pornos“ sprechen. Porno-Gespräche sind Teil der modernen Konversation.

Manche der heutigen Pornographie-Debatten sind lediglich Meinungsverschiedenheiten darüber, was „guten“, „gesunden“ oder „angemessenen“ Porno ausmacht. „Wir brauchen bessere Lesben-Szenen, keine, die offensichtlich an Männer adressiert sind, mit heterosexuellen Darstellerinnen, die leicht angeekelt schauen, wenn sie behutsam ihre falschen Nägel über die Brustimplantate gleiten lassen“, argumentiert ein Kommentator und begeisterter Porno-Kenner.

Natürlich hat sich die Normalisierung der Pornographie-Kultur nicht ohne Widerspruch eingeschlichen. Einige benutzen den Begriff „Pornofizierung“, um die Ausbreitung von selbstbewussten und eindeutigen Zurschaustellungen sexueller Themen und Aktivitäten zu beschreiben. Bereits vor einigen Monaten warnte die britische Abgeordnete Diane Abbot, die britische Kultur sei „zunehmend pornofiziert“‘ und schade jungen Menschen. Vor ein paar Wochen wurde dem Europäischen Parlament eine Eingabe vorgelegt, welche die EU mit einem geforderten „Verbot aller Formen der Pornographie in den Medien“ dazu aufrief, „konkrete Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen in der Werbung zu ergreifen“. Die Antwort der Parlamentarier ist typisch für den aktuellen Zeitgeist. Sie bestanden darauf, dass das vorgeschlagene Porno-Verbot fallen gelassen werden sollte, stimmten aber trotzdem dafür, die Darstellung von Frauen in den Medien einzuschränken. Mit anderen Worten: Pornos sind okay, aber die mediale Erniedrigung von Frauen ist es nicht. In dieser seltsam selektiven Einstellung zur Zensur offenbart die Bürokratie ihre Billigung dessen, dass Pornographie nun ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Lebensstils ist.

Die kulturelle Bedeutung von Pornographie

Historisch gesehen haben sich die Debatten über Pornographie auf ihre angeblichen Schäden und ihre moralische Korrumpierung der Gesellschaft konzentriert. Es gab auch Diskussionen über die genaue Bedeutung von Pornographie. Die Frage, was ein spezielles Bild oder eine literarische Passage pornographisch macht, war jahrelang eine Quelle des Disputes zwischen Künstlern und ihren moralistischen Kritikern.

Laut dem Oxford English Dictionary (OED) umfasst der Begriff Pornographie jede Form von gedrucktem oder bildlichem Material, das „eindeutige Beschreibung oder Darstellung von sexuellen Gegenständen oder Tätigkeiten in Literatur, Film, etc.“ aufweist, um bewusst erotische statt ästhetische Gefühle zu stimulieren. Diese Definition verbindet Pornographie mit Obszönität, welche das OED als „Wesenszug oder Eigenschaft der anstößigen Unanständigkeit, Lüsternheit“ definiert. Natürlich bieten Definitionen nur eine begrenzte Hilfe zur Lösung des Porno-Problems, weil die Vorstellung davon, was Lust und Lüsternheit ausmacht, bis zu einem gewissen Grad immer offen für Interpretationen ist. In der ganzen Geschichte sind bedeutende literarische und künstlerische Leistungen von Moralisten als pornographisch verdammt worden.

Prinzipiell können literarische und künstlerische Arbeiten, die das ästhetische Empfinden aufrütteln wollen, durchaus lüsterne oder erniedrigende Szenen enthalten. Das, was eine bildliche Szene oder literarische Passage pornographisch macht, ist nicht ihr Inhalt, sondern ihre Bestrebung das Obszöne nur zum Selbstzweck darzustellen. Sie zeigt sexuelle Themen stets außerhalb des Kontextes. Anders als erotische Literatur oder Kunst, ist es der Auftrag des Pornos, Menschen anstößig abzubilden. Er zieht seine Kraft daraus, Sex bis zu einem Punkt zu objektivieren, an dem er von der alltäglichen Lebensrealität entkoppelt wird. Wie der verstorbene amerikanische Denker Christopher Lasch argumentierte, beschädigt Pornographie sogar unser Vorstellungsvermögen, „denn die Fantasie ist nicht mehr befreiend, wenn sie sich den durch die Erfahrungen in der realen Welt auferlegten Kontrollen entzieht“.

Faszinierend ist derzeit, dass die alte Debatte darüber, ob bestimmte Darstellungen pornographisch sind oder nicht, ihre Bedeutung verloren hat. Heute geben Pornographen selten vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Es gibt kaum Versuche, Obszönität als hohe oder erotische Kunst zu verpacken. Stattdessen beobachten wir die selbstbewusste Industrialisierung von Pornographie – einhergehend mit dem zunehmenden neuen Anspruch, dass Porno zum Wohlbefinden der Gesellschaft beiträgt. Man braucht Bücher, die dem sexuellen Voyeurismus gewidmet sind, nicht mehr als Literatur auszugeben, wenn die Verleger ohne weiteres bereit sind, sie als „mummy porn“ zu vermarkten.

„Sex ist zu einem Problem der öffentlichen Gesundheit geworden.“

Pornographie ist zu einem kulturellen, sogar gesellschaftlich anerkannten Fetisch geworden, und liegt auf der Linie der heute allgemeinen Tendenz zur Entwertung der Privatsphäre. Bereits seit einigen Jahrzehnten wird die Idee der Transparenz über diejenige der Privatheit gestellt. Die gegenwärtige Gesellschaft ist gegenüber dem Privatleben und der Intimität zunehmend misstrauisch. Alles, was hinter verschlossenen Türen geschieht, wird als Auftakt für Missbrauch oder häusliche Gewalt betrachtet. Die Sehnsucht nach Intimität wird als gefährliches Verlangen dargestellt, sich selbst im anderen zu verlieren. Die Liebe wird häufig nur noch unter Risikogesichtspunkten beschrieben. Diese Stigmatisierung von privaten Beziehungen geht einher mit unablässigen Versuchen, Sex in die Öffentlichkeit zu drängen. Es besteht eine Dynamik, die darauf drängt, den Sexbereich zu „normalisieren“, zu routinisieren und zu entmystifizieren. Sexualpädagogen, Kummerkastentanten, TV-Programme und Pop-Musik warnen die Leute unablässig vor zu hohen Erwartungen an sexuelle Beziehungen. Sex gilt als Problem, das hilfreichen Rat oder Expertenunterstützung benötigt. Mit anderen Worten: Sex ist zu einem außerordentlichen Problem der öffentlichen Gesundheit geworden.

Die Pop-Kultur feiert das voyeuristische Verhalten. Sie verlangt, dass wir in der Öffentlichkeit über unsere Gefühle sprechen und ermutigt uns „tapfer“ zu sein und unsere Sehnsüchte einem Massenpublikum zu enthüllen. „Wie fühlst du dich?“, ist nun die einzige Frage, die in Reality-Shows von Bedeutung ist, wo man desto angesehener ist, je mehr man von sich preisgibt.

Durch die ständige Forderung nach Enthüllung wird die Vertrautheit aller Bedeutung entleert. Wenn ganz private Gedanken, die früher nur einem Vertrauten preisgegeben wurden, einem Massenpublikum mitgeteilt werden, dann führt das zur Erosion der zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch der Sex verändert sich dramatisch, wenn er zum öffentlichen Spektakel wird. Nur in der Privatsphäre ist es möglich, Liebe zu machen, in der Öffentlichkeit wird Sex lediglich zum physischen Geschlechtsakt. Paradoxerweise wird Sex umso geschlechtsloser, je mehr er in ein öffentliches Spektakel verwandelt wird. Sexuelles Verlangen, eine sehr menschliche Eigenschaft, wird so zu einem schlichten Bedürfnis nach physischer Erleichterung. So gesehen bringt Pornographie dann vor allem den Vorteil, dass sie es erlaubt, sich außerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen physische Erleichterung zu verschaffen.

Sollten Pornos also zensiert werden?

Diejenigen, die darauf bestehen, dass Pornos zensiert oder reguliert werden sollten, behaupten, dass sie Kinder sexualisieren und unmoralisches Verhalten fördern. Andere sind bereit, „gesunde“ Erwachsenen-Pornos zu akzeptieren, wollen aber solche Pornos verbieten, die Frauen erniedrigen oder sexuelle Gewalt zelebrieren. Manche fühlen sich mit allen Sorten von Obszönität wohl, sind aber für die Kriminalisierung von Kinder-Pornographie.

Als jemand, der die Rede- und der Meinungsfreiheit ernst nimmt, lehne ich jede Form von Zensur ab – einschließlich des obszönen Materials. Es ist ein grundlegendes Recht, einen Zugang zu Ideen und Informationen zu haben, ungeachtet ihres sozialen oder moralischen Wertes. Diejenigen, die, wie ich, daran glauben, dass die Welt ohne Porno-Industrie ein besserer Ort wäre, sollten dem durch die Veränderung einer Kultur entgegenwirken, die diese Entwicklungen fördert, nicht aber durch Zensur.

Die Kritiker des aktuellen Status der Pornografie konzentrieren sich jedoch leider fast ausschließlich auf den Einfluss von Pornos auf Kinder und Jugendliche. Vor einigen Wochen wurde auf der Konferenz der „Association of Teachers and Lecturers“ über den negativen Einfluss von Pornographie auf Schulkinder diskutiert. Es gibt kaum Zweifel daran, dass die Leichtigkeit, mit der Kinder Zugang zur Pornographie bekommen, problematisch ist. Eltern und Lehrer sollten unbedingt alles tun, um Pornographie aus dem Leben der Kinder herauszuhalten. Aber dieses Problem liegt nicht an der Kindheit, sondern an der Normalisierung von Pornographie in der Erwachsenenwelt.

In einer Welt, wo die Grenze zwischen Erwachsensein und Kindheit fließend ist, und in einer Kultur, die darauf drängt, alles zur Schau zu stellen, kann man Kinder nicht vollständig vor Obszönitäten schützen. Anstatt ineffektive technische Ideen vorzulegen, wie man den Zugang von Kindern zur Pornographie einschränkt, sollten die Erzieher lieber die Interessen und die Neugier ihrer Schüler an spannenden Ideen und Wissen stärken.

Nachdem die westliche Gesellschaft ein derartig starkes Bedürfnis nach Pornographie erschaffen hat, ist es natürlich nicht mehr möglich, diese zu zensieren. Die eindimensionale Betonung des Pornographie-Problems übersieht die heute eigentlich bestehende Krise. Es ist nicht der Untergang des Abendlandes, wenn junge Menschen auf obszöne Bilder starren. Wenn jedoch die Grenze, die die Privatsphäre von der öffentlichen Sphäre trennt, weiterhin erodiert, dann werden wir zunehmend einige unserer spezifisch menschlichen Eigenschaften verlieren. Das eigentliche Problem liegt dabei weniger in der Pornographie als in der Kultur, die die Menschen dazu ermutigt, die privaten Aspekte ihres Lebens zum öffentlichen Spektakel zu machen.

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