29.06.2012

Auf in die ewige Kindheit

Analyse von Christoph Lövenich

Wie der paternalistische Staat Jugendliche daran hindert, Erwachsen zu werden. Die Jugendschutzgesetzgebung konserviert das Kindsein und untergräbt gleichzeitig die Autorität der Erwachsenen

Wenn in den Medien die Sprache auf Jugendliche kommt, ist oft von Verwahrlosung, Kriminalität und vermeintlichen Exzessen die Rede. Empörung über die „verdorbene Jugend“ ist nicht neu, sondern begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden. Derzeit werden gerne sensationsheischende Zerrbilder von gewalttätigen Killerspielern und pornosüchtigen „Komasäufern“ gezeichnet. Der Überprüfung halten solche Vorurteile kaum stand, ist doch der angebliche Zusammenhang von Computerspielkonsum und persönlicher Gewaltausübung mehr als zweifelhaft [1], geht die genossene Menge alkoholischer Getränke schon seit langem zurück [2] und führt die Beschäftigung mit Interneterotik nicht etwa zu einem Anstieg von Teenager-Schwangerschaften [3]. Solange aber das Gefühl bleibt, bei Jugendlichen sei etwas außer Kontrolle, was kontrolliert gehört, besteht ein Nährboden für eine spezifische Art von Regulierung.

Denn neben Klima- und Gesundheitsschutz rangiert der Jugendschutz ganz oben auf der Hitliste der Begründungen für neue Verbote und Kampagnen. 16- und 17-Jährigen dürfen keine Tabakwaren mehr verkauft werden, dafür aber können sie sich als behördliche Lockvögel beim Schnapstestkauf benutzen lassen. „17 Jahr’, blondes Haar“ ist noch erlaubt, mit dem gebräunten Teint sieht es dagegen schon anders aus, seit bundesgesetzlich Jugendlichen die Sonnenstudio-Nutzung verboten wurde. [4] Fraglich, ob bald auch der Strandbesuch als vermeidbare Hautkrebsquelle eingestuft wird. Vor gut einem Jahr scheiterte in letzter Minute vorläufig ein Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der von allen Websitebetreibern eine Alterskennzeichnung oder Ähnliches verlangt hätte. [5]

Jugend in der Öffentlichkeit

Das prominenteste diesbezügliche Regelwerk, das Jugendschutzgesetz (JuSchG), besteht aus den zwei Hauptthemen „Öffentlichkeit“ und „Medien“. Unter den ersten Begriff werden Gaststätten, Tanzveranstaltungen, Glücksspiel, Alkohol und Tabak gefasst, wo offenbar gefährliche Verlockungen und sittliche Bedrohungen für ungefestigte Jungspunde drohen, ganz wie aus dem Lehrbuch der puritanischen Halskrausen. Die Anhebung der Altersgrenze für den Verkauf von Tabakwaren an Jugendliche und das Rauchen in der Öffentlichkeit von 16 auf 18 Jahre erfolgte 2007 nicht zum ersten Mal, schon 1943 gehörte diese Maßnahme zum Antitabakrepertoire der Nazis. Die private Umgebung bleibt dabei außen vor, daher besteht kein totales Tabakkonsumverbot für Minderjährige. Für Bier und Wein liegt nach wie vor eine Abgabealtersgrenze bei 16, aber selbst im deutschen Lande der Trinkkultur wollen Bevormunder daran rütteln. Dabei lernt man den Umgang mit Genussmitteln doch nur, wenn man rechtzeitig maßvoll an sie herangeführt wird. Gewisse Exzesse junger Leute in den diesbezüglich verklemmten USA bieten ein leuchtendes Gegenbeispiel. Ferner gibt man sich im JuSchG detailliert mit Zeiten ab, wann Menschen welchen Alters eine Gaststätte zu verlassen haben, während die Deadline für ihre Rückkehr nach Hause Sache (und mit zunehmendem Alter Verhandlungssache) der Eltern sein sollte. Übrigens will man nicht nur der Jugend das Erwachsenwerden vorenthalten, Erwachsene selbst sollen im Sinne einer „Vorbildfunktion“ ebenfalls Enthaltsamkeit üben.

Jugend und Medien

Reife erlangt man nach dem Jugendschutzgesetz offenbar nicht, indem man sich mit der Welt um sich herum auseinandersetzt, sondern indem man in Watte gepackt wird und einem die Augen zugehalten werden. Den Erziehungsberechtigten traut der Staat hierbei keine Verantwortung zu, sondern er reißt diese hohe Aufgabe an sich. So funktioniert der Medienbereich im JuSchG. Sogenannte jugendgefährdende Medien – Schriften, Filme, Computerspiele – landen auf dem Index und aus Sorge vor allzu vielen schädlichen Informationen wird teilweise sogar geheim gehalten, welche dies sind (oder nach Überprüfung nicht mehr sind). Durch starke Werberestriktionen entsteht die absurde Situation, dass ab 18, also für Volljährige, freigegebene Werke im Namen des Jugendschutzes vielfach geschnitten und weichgespült werden müssen, um sie angemessen anpreisen zu dürfen. Die faktische Wirkung, die man z.B. bei der TV-Ausstrahlung in Form von verstümmelten Filmen zu spüren bekommt, ist also Zensur. Als oberste Zensurbehörde fungiert dabei die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in Bonn, deren Arbeitsschwerpunkt heute weniger in der Begutachtung von abgebildeten Nackedeis liegt, sondern eher aus rechtsextremen Musikstücken, Zombie- und Splatterfilmen sowie Computerspielen besteht. Neben Regierungsvertretern fällen die Entscheidungen dort u.a. Religionsvertreter und diverse Lobbyisten. Bei den Filmen sei auf das bizarre Beispiel der „Nacht der lebenden Toten“ vom Urvater des sozialkritischen Zombiefilms George Romero verwiesen, ein Kultfilmklassiker, den die Bundesprüfstelle 2009, Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, in einer (fast identischen) Fassung indizierte. [6] Im Hinblick auf rechtsextremes Liedgut muss angemerkt werden, dass neben der fraglichen Legitimität von Freiheitseinschränkungen durch den „wehrhaften Staat“ hier gerade der Reiz des Verbotenen wirkt und Märtyrer(-Songs) geschaffen werden. Der süße Geschmack der verbotenen Frucht macht sich aber überall im Jugendschutz bemerkbar. In einem seiner seltenen lichten Momente hat der Gesetzgeber untersagt, dass die „Liste der jugendgefährdenden Medien […] zum Zweck der geschäftlichen Werbung abgedruckt oder veröffentlicht“ wird (§ 15 Abs. 4 JuSchG). Offenbar weiß man ganz genau, dass solche Zensurmaßnahmen oft genug das Gegenteil erreichen. Es liegt nahe, dass die deutsche Kürzungs- und Verbotspraxis mit dafür verantwortlich ist, dass sich viele Jugendliche und Erwachsene bestimmte Medien – unzensiert – aus dem Internet beschaffen.

Freiwillige Selbstkontrolle

Bei der Altersfreigabe, auch mit Auswirkungen auf die oben angesprochenen Sendezeiten, mischt die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) mit. Gegründet wurde diese Zunftorganisation nach dem Vorbild des Hays Code in Hollywood, wo über Jahrzehnte nur zugelassen wurde, was bestimmten religiös-konservativen Moralvorschriften entsprach. Noch heute und vor dem anderen Hintergrund in Deutschland stellt sich die Frage, welche Werte die FSK vertritt. Im vergangenen Jahr hielt sie etwa einen Film über Homosexualität und Transgender für ungeeignet für die Altersgruppe der 12–15-Jährigen und musste sich dementsprechend den Vorwurf der Homophobie gefallen lassen. [7] Überall lauert für Jugendschützer die „Verführung“ – Sex, Drugs and Rock’n’Roll. In der Gedankenwelt von Zensur und Verbot scheinen positive Ansätze über hilfreiche Medienangebote in der Phase der Identitätsfindung und -festigung keinen Platz zu haben. Nicht nur Jugendliche gelten in dieser Vorstellung als unmündige Kinder, auch die Eltern werden als unfähig übergangen. Genau sie sind es aber doch, die den Medienkonsum ihrer Kinder am besten in verantwortungsvolle Bahnen lenken können.
Da man ihnen aber offenbar nicht mehr zutraut, eigenverantwortliche Entscheidungen für sich und ihre Kinder zu treffen, greift man staatlicherseits auf das beliebte Mittel des Warnhinweises zurück. Seit 2003 verunstalten große Altersfreigaben-Hinweise die DVD- und Spieleverpackungen (deren Größe der Gesetzgeber in bester deutscher Präzision auf den Quadratmillimeter genau angegeben hat) und verunsichern damit viele Konsumenten, weil sie den Anschein erwecken, man könnte aus ihnen eine Wertung der inhaltlichen und formalen Qualität des jeweiligen Werkes ablesen. Als Eltern und Verbraucher gleichermaßen verunsicherte Erwachsene können jungen Leuten aber nicht hinreichend zur Orientierung dienen.

Kindheit statt Jugend

An den genannten Regulierungsbeispielen fällt auf, dass immer Verbote im Spiel sind, die im Ergebnis die Jugendlichen selbst an etwas hindern und ihnen Wahlmöglichkeiten nehmen sollen. Der Griff zur Bierflasche, zur Zigarette, zur DVD mit einem Horrorfilm oder zum Ego-Shooter-Computerspiel soll erschwert oder am liebsten verunmöglicht werden. Auch wenn Strafandrohungen gegen andere ausgesprochen werden, die Jugendlichen diese Dinge zur Verfügung stellen wollen, so will man offenbar den Jugendlichen vor sich selbst, vor seinen eigenen Entscheidungen „schützen“. Wir erleben keine offene Debatte darüber, wie mit speziellen Chancen und Risiken bei Heranwachsenden umgegangen werden kann. Stattdessen treten die Gegner der „Killerspiele“, des Sonnenbadens, des Rauchens oder des Trinkens auf und fordern, dass die Bekämpfung des jeweiligen ach so bösen Verhaltens für alle Altersgruppen, ganz besonders aber für Jugendliche, zu gelten habe. Die 14–17-Jährigen, um eine bundesgesetzlich definierte Altersspanne zugrunde zu legen, erleben so die volle Härte der Bevormundung, an ihnen soll gewissermaßen ein Exempel für die Einschränkung aller Bürger statuiert werden. Eigentlich sollte die Jugend eine Phase des Ausprobierens sein, bei dem man auch mal über die Stränge schlägt und seine Grenzen austestet. Durch fortschreitenden obrigkeitlichen „Jugendschutz“ aber wird den Jugendlichen die Unmündigkeit von Kleinkindern angedichtet, das Bild vom hilflosen Kind verlängert bis in ein Alter, in demmanch US-Amerikaner schon Soldat sein darf oder Casanova einst seine Promotion abschloss. Das US-Alkoholkonsumverbot für unter 21-Jährige und die „Challenge 25“ in Großbritannien (bei der jünger als 25 aussehende Kunden im Geschäft ihr Alter nachweisen müssen, um alkoholische Getränke zu erwerben) zeigt an, wohin die Reise geht. Der Mensch wird zum Mündel, vielleicht ein Leben lang. Dorian Gray würde heutzutage wohl seinen Spiegel zum Einkaufen schicken müssen.

Jugend und Sex

Ein erschreckendes Beispiel für die Abschaffung der Jugend zugunsten einer langen Kindheit findet sich im Sexualstrafrecht, genauer: bei dessen Novellierung 2007/08. Während vorher die Balance zwischen sexueller Freiheit Jugendlicher einerseits und der Bekämpfung von Missbrauch sowie Kinderschändung anderseits in Deutschland eine Zeit lang gegeben war, trat die EU auf den Plan und verlangte Anpassungen. Nicht etwa irgendwelche Missstände waren ausschlaggebend, auch keine Wünsche in der Bevölkerung, sondern man berief sich auf die UN-Kinderkonvention. Wie auf den Feldern der Gesundheits- und Umweltregulierung wurde hier über internationale und supranationale Organisationen künstlich Handlungsbedarf unterstellt. Nach den EU-Vorgaben über das Verbot von Sex mit Jugendlichen gegen „Entgelt“ wäre die Einladung einer 17-Jährigen oder eines 16-Jährigen ins Kino bereits zum strafbaren Versuch geworden, sexuelle Handlungen zu „kaufen“. Dank einer empörten Opposition aus FDP, Grünen und Linkspartei im Bundestag konnte dieser Auswuchs verhindert werden, der Jugendliche gleichermaßen zu kindlichen Opfern wie erwachsenen Tätern stilisiert hätte. [8]

Als Ergebnis der Gesetzesnovellierung blieb aber die Einführung des Begriffs der Jugendpornographie als Analogon zur Kinderpornographie. Damit wird fundamental Ungleiches gleichbehandelt, nämlich schändlicher Kindesmissbrauch einerseits und die selbstbestimmte Sexualität Jugendlicher andererseits. Wer mit 16 ein sexuell gefärbtes Foto von sich und/oder einem Partner mit seinen Facebook-Freunden teilt, kann schon als Straftäter verurteilt werden. Hier, aber erst recht für kommerzielle Erotik-Angebote, lauert zudem der Fallstrick der sogenannten Scheinminderjährigkeit. Schon der bloße Anschein, das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet zu haben, muss vermieden werden. Wehe, wenn ein 19-Jähriger Erotikdarsteller sich gut gehalten hat und wie 17½ ausschaut! Je nach rechtlicher Interpretation gefährdet eine solche Anschauung auch Sexszenen in Jugendfilmen. Einem unverkrampften, offenen Umfang mit Sexualität steht ein rigides Verständnis von Jugendpornographie jedenfalls im Wege.

Reaktionen Jugendlicher

Jugendliche selbst empfinden derartige Regulierungen zunehmend als weltfremd und stoßen – wenig überraschend – auf Mittel und Wege, diese zu umgehen: aus dem Ausland, etwa aus Österreich, beschaffte Computerspiele, jenseits verwertungsrechtlicher Vorgaben im Internet heruntergeladene Medien oder „wilde“ Partys draußen, wenn drinnen Rauchverbot herrscht. So untergräbt Autorität sich selbst. Der Wildwuchs an überzogenen und irregeleiteten Normen, denen junge Leute ausgesetzt sind, kann schlimmstenfalls das für das Zusammenleben wichtige Bewusstsein fundamentaler Normen überwuchern und die Glaubwürdigkeit von Erwachsenen überhaupt in ein schlechtes Licht rücken. Damit schüfe man die Probleme tatsächlich, die man bisher nur unterstellt.

Fazit

Anstelle einer vorurteilsfreien Debatte über Sinn und Unsinn von Jugendschutz, über tatsächliche Gefahren und adäquate Maßnahmen, pflegen Staat und Verbotsgruppen ein repressives, paternalistisches, rückwärtsgewandtes Verständnis von Jugendschutz, das Jugendliche in ihrer Entwicklung behindert und einschränkt, das sie selbst immer weniger ernst nehmen können und das die Vorstellungen von Freiheit und Mündigkeit in der gesamten Gesellschaft bedroht. Auch Erwachsene sind vielfach betroffen (z.B. als Fernsehzuschauer, „Vorbild“, 18-Jährige Geliebte eines/r-Minderjähriger), ganz besonders aber als Eltern, in deren Erziehungsrolle der Staat immer dreister hineinpfuscht, so dass sie diese nicht mehr mit der nötigen Autorität wahrnehmen können. Im Hinblick auf die neuesten Vorschriften und Regulierungspläne in diversen Bereichen muss ein Volljähriger außerdem zu dem Schluss kommen: Was man mit den Jugendlichen macht, das will man auch mir antun.
 

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