02.10.2024

Populismus? Ja, bitte!

Von Matthias Heitmann

Titelbild

Foto: Sven Teschke via WikiCommons / CC BY-SA 3.0

Dass bei den ostdeutschen Landtagsahlen neben der AfD auch das BSW reüssieren konnte, gibt dem parteiförmigen Populismus in Deutschland ein differenzierteres Erscheinungsbild.

Der Ablauf der medialen Wahlnachlese war eigentlich wie immer. In zahlreichen Schaubildern, Säulen- und Kuchendiagrammen sowie den üblichen Gesprächsrunden wurden die Ergebnisse in Thüringen, Sachsen und Brandenburg direkt in das klassische Links-rechts-Schema übertragen und in Rechenspielen über mögliche Regierungskonstellationen zerhäckselt. Ganz so, als wolle man die folgenschweren und weit über die drei ostdeutschen Bundesländer hinausgehenden Entwicklungen, die sich in den Wahlergebnissen offenbarten, nicht sehen oder im kleinteiligen Informations- und oberflächlichen Zahlenwust verbergen.

Tatsächlich haben die ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst 2024 die politischen Weichen für das ganze Land neu gestellt. Bislang galt die offizielle politische Verortung des „Populismus in Deutschland“ als unstrittig: Er stand eindeutig rechts außen und gruppierte sich vorrangig um die AfD. „Populismus“ wurde mitunter gar als deckungsgleich mit „Rechtsradikalismus“ interpretiert, der sich nur als „Politikverdrossenheit zum Wählen“ tarnt. Inzwischen fällt es jedoch schwer, dieser seit Jahren gepredigten Sichtweise noch Glauben zu schenken.

Mit dem Erscheinen des Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) auf der politischen Bühne hat das Lager der sogenannten „Populisten“ nunmehr zwei Pole. Und entgegen den Hoffnungen der etablierten Parteien jagten sie sich nicht gegenseitig die Stimmen ab. Beide waren die eindeutigen Wahlgewinner der Urnengänge. Zusammen vereinten sie mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich.

Aber ist es gerechtfertigt, AfD und BSW überhaupt als ein gemeinsames Lager „populistischer Parteien“ zu beschreiben? Glaubt man den Aussagen ihrer Protagonisten, wähnen sich beide an unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums. Das BSW sieht sich als Antipode zur AfD. Es positioniert sich überdies mit den etablierten Parteien als Brandmauer gegen die AfD. Ob dieser Schritt von den Sympathisanten des BSW goutiert wird, ist noch unklar. So klar sich die Vertreter auch von der AfD abgrenzen, auf der Ebene der Wähler und ihrer Motivationen gibt es durchaus inhaltliche Überschneidungen.

„Tatsächlich ist hier für jeden etwas dabei – und das in Ost und West.“

Die Deutschalternativen konzentrieren sich traditionell auf als „rechts" geltende Themenbereiche. Sie wenden sich gegen eine als wahllos empfundene Entgrenzung und die vermeintlich herbeigeführte Auflösung des deutschen Nationalstaates. Sie thematisieren eine gesellschaftliche Überforderung durch Überfremdung. Sie äußern den Wunsch, nationale Souveränität, rechtliche Gewissheiten und kulturelle Normalität vor dem Untergang zu retten. Obwohl dies die Kernthemen der AfD sind, setzt das Bündnis Sarah Wagenknecht hier ebenfalls an, wenngleich auch weniger verbalradikal.

Das BSW greift in der öffentlichen Wahrnehmung eher linke Standpunkte und Emotionen auf. Es stellt die Kriegsgefahr im Zusammenhang mit der Ukraine in den Vordergrund. Das tut die AfD aus einer „rechteren" Perspektive allerdings auch. Das BSW unterscheidet sich dann deutlicher von der AfD, wenn es klassisch „linke“ Themen wie ökonomische Ungleichheit und Vermögenskonzentration problematisiert. Allein dieses Themenspektrum macht deutlich, dass Verortungen des Populismus als „rechtsradikal“ und „nazistisch“ allzu pauschal sind. Tatsächlich ist hier für jeden etwas dabei – und das in Ost und West.

Beide Gruppierungen behaupten zudem, sich auch kulturell und stilistisch vom elitären Berliner Politikbetrieb zu distanzieren. Sie präsentieren sich als Fürsprecher der kleinen Leute. Angesichts der traditionell schwachen Verankerung der Etablierten in Ostdeutschland sind Fähigkeit und Wille, die Sorgen und Nöte der Menschen dort direkt aufzugreifen, tatsächlich ein Merkmal dieser beiden Parteien.

Übereinstimmungen gibt es auch in der betonten Ablehnung des von oben herab regierenden ‚wohlmeinenden‘ Regulierungs- und Umerziehungsstaates. Dieser Ansatz trifft besonders bei Ostdeutschen, die die DDR noch erlebt haben, einen Nerv. Insgesamt ist in Ostdeutschland die fortschreitende Entfremdung von den immer noch als „Westimporte“ empfundenen etablierten Parteien sowie das Gefühl, auch fast 35 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch nicht als gleichberechtigte Bundesbürger leben zu können, mit Händen zu greifen.

„Die Aufspaltung in zwei sich spinnefeind gegenüberstehende Parteien macht ‚den Populismus‘ mithilfe alter Links-rechts-Rhetorik weniger greifbar.“

Was ostdeutsche Wähler von AfD und BSW zudem eint, ist ein grundlegendes Gefühl des persönlichen Bedrohtseins. Man sieht sich einer handfesten Bedrohung durch Deindustrialisierung, durch Migrationsströme sowie durch Kriminalität und Krieg ausgesetzt. Beide Parteien eint die Wahrnehmung, dass aufgrund der Abgehobenheit des Politikbetriebs diese Entwicklungen ungehindert in eine immer unkontrolliertere und ausweglosere Spirale münden. Beide Parteien warnen vor einer Entwicklung, in der die Menschen ihre wirtschaftliche und gar physische Existenz, ihre Heimat und Selbstbestimmung vollends verlieren könnten.

Dieser Wahrnehmung können die etablierten Parteien wie die Bündnisgrünen, die viele Jahre mit ökologisch geprägter Angstpolitik gute Wahlergebnisse eingefahren haben, bislang wenig bis nichts entgegensetzen. Dabei ist ein Großteil der von AfD und BSW vertretenen Aussagen weder neu noch besonders extrem. Auch die Tatsache, dass Wählerzustimmung durch das Schüren von Ängsten mobilisiert werden soll, ist weder populistisch noch rechts – tatsächlich unterscheiden sich die populistischen Parteien lediglich durch die Auswahl der genutzten Ängste von ihren Wettbewerbern.

Es ist viel mehr ihr Effekt auf die parteipolitische Landschaft, der populistische Parteien als Problem dastehen lässt: Allein dadurch, dass sie das Meinungs- und Mehrheitsmonopol der etablierten Parteien infrage stellen, werden sie zu Objekten wüster Anfeindungen und zur populistischen „Gefahr“. Ihre Wahlerfolge gelten als Auslöser des politischen Bebens, dessen Erschütterungen die Berliner Politblase zum Zittern und sogar schon erste politische Führungsköpfe zum Rollen brachten.

Es sind jedoch nicht allein die in Ostdeutschland zunehmenden Schwierigkeiten, ohne AfD und BSW mehrheitsfähige Regierungen auf Landesebene zu bilden, die das politische Beben ausmachen. Das sind nur die Auswirkungen an der Oberfläche. Die Ursachen für die Erschütterungen liegen viel tiefer: Die Aufspaltung in zwei sich spinnefeind gegenüberstehende Parteien macht „den Populismus“ mithilfe alter Links-rechts-Rhetorik weniger greifbar.

„Die Menschen dürsten so sehr nach Veränderungen, dass sie selbst eine mehr oder minder gewendete Altstalinistin wie Sarah Wagenknecht mit ihrer Truppe mitten hinein in die Parteienlandschaft votieren.“

Der etablierten Politik ist die Klarheit, mit der sie sich selbst vom Populismus notdürftig abzugrenzen versuchte, endgültig abhandengekommen. Mit den Erfolgen des BSW ist Populismus nicht mehr „rechtsradikal", sondern auch in Teilen links. Er sitzt nun nicht mehr nur hin und wieder als randständiger Paria in Talkshows. In der Person von Sarah Wagenknecht steht er nun in Politikerrankings erstaunlich weit oben. Und in Gestalt des BSW rückt er plötzlich auch an die Verhandlungstische der Macht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viel von der beschworenen Volksnähe und der Distanz zum etablierten Politikbetrieb in Rekordzeit verloren gehen wird. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Die politischen Positionen des BSW gaben schon seit Gründung vor wenigen Monaten ohnehin kaum Anlass, auf einen durch das Bündnis selbst herbeigeführten Politikwechsel zu hoffen.

Hoffnung macht etwas anderes: nämlich die Tatsache, dass die Menschen – im Gegensatz zur etablierten Politik – offen für Veränderungen und Experimente sind. Mehr noch: Sie dürsten so sehr nach Veränderungen, dass sie selbst eine mehr oder minder gewendete Altstalinistin wie Sarah Wagenknecht mit ihrer Truppe aus dem Nichts mitten hinein in die Parteienlandschaft votieren. Viele Menschen in Ostdeutschland nutzen die Gelegenheit, ihre Ablehnung der Etablierten auszudrücken, ohne dabei der AfD ihre Stimme geben zu müssen.

Sie haben durch die Wahl dieses nur schemenhaft bekannten Konstrukts namens BSW eine Tür zu einem Raum geöffnet, der nicht mehr in eine Sackgasse führt. Es zeigt sich: Der Populismus ist mehr als eine rechtsradikale Sickergrube. Im Gegensatz zur Berliner Politblase, die immer mehr einem Ideologien-Friedhof ähnelt, können hier sehr wohl neue Formationen entstehen und damit auch neue Spannungsfelder, neue Debatten und neue Visionen. Denn auch die etablierten Parteien werden auf diese Herausforderung reagieren müssen. Wie schwer ihnen das fällt, zeigt sich bereits.

Die vor uns liegende Aufgabe ist groß und ambitioniert: Bei aller nötigen Begrenzung und Reparatur der Schäden, die durch die etablierte Politik drohen und bereits verursacht wurden, liegt es an uns allen, nicht nur in einer Abwehrhaltung zu verharren, sondern überhaupt erst einmal Ansätze einer positiven Zukunftsvision zu entwickeln und damit in die Offensive zu gehen. Dies von AfD und BSW zu erwarten, wäre indes zu viel verlangt. Von CDUCSUSPDFDPB90 erst recht.

Das Gedankenexperiment sei erlaubt: Man stelle sich vor, es gäbe populistisch orientierte Parteien, die tatsächlich nicht nur mit Ängsten der Menschen Politik machen und Zuflucht in der Vergangenheit suchen, sondern mit gehaltvollen Ideen und Visionen um Stimmen kämpfen. Das wäre eine Form von Demokratie, wie sie wünschenswert ist. Neue und aus den Fesseln der Rückwärtsgewandtheit, Angstfixierung und Alternativlosigkeit befreite Denkansätze tun not. Um solche zu entwickeln, brauchen wir eine unbefangene Diskussionskultur und den Austausch mit normalen Menschen. Das ist populistisch? Gut, dann bin ich eben ein Populist.

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