26.08.2021
Plädoyer für einen bürgerlich-freiheitlichen Aufbruch
Von Wolfgang Kaiser
Für viele bürgerlich-konservative und liberale Wähler sind Unionsparteien, AfD und FDP nicht mehr wählbar. Im Parteiensystem fehlt ein chancenreiches Angebot für sie.
Man braucht keine allzu tiefgreifende politische Bildung, um die anhaltende Misere im bürgerlichen Lager zu erkennen: Die Unionsparteien, einst Hort bürgerlich-liberal-konservativer Werte und Positionen, haben sich im Zuge einer jahrelangen Linksverschiebung inhaltlich, personell und in vielerlei Hinsicht auch moralisch entkernt. Der Niedergang der Unionsparteien ist spürbar und messbar, nicht nur in Form von Wahl- und Umfrageergebnissen, sondern auch im Schwund ihrer Mitgliederbasis. Diesen mit allgemeinem politischem Desinteresse zu begründen, springt zu kurz: Seit 1999 hat die CDU weit über ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Ihre Zahl sank bis Ende 2020 von einstmals knapp 640.000 auf unter 400.000 (laut eigener Auskunft der Partei 1). Dagegen konnten die Grünen allein von 2018 bis Ende 2020 ca. 42.000 neue Mitglieder hinzugewinnen.
Die Erosion der Union ist strukturell und tiefgreifend. Zahlreiche, eher konservativ geprägte Mitglieder, von denen viele die CDU und CSU über Jahre, teilweise Jahrzehnte, getragen haben – viele als Funktions- und Mandatsträger auf Orts- und Kreisverbandsebene –, wenden sich ab, weil sie den Kurs der Parteiführung nicht mehr mittragen. Der Parteitag der CDU im Januar 2021 mit der Wahl Armin Laschets zum Parteivorsitzenden und seine anschließende Kür zum Kanzlerkandidaten haben zumindest den konservativen Anteil der Parteibasis düpiert und frustriert. Die Entfremdung zwischen Parteiführung und Basis reicht aber tiefer, und man muss mindestens bis ins Jahr 2015 zurückgehen, um ihre Wurzeln zu suchen.
Die Parteiführung reagiert auf diese Entwicklung bis heute mit Ignoranz, Schweigen und Schönfärben. Tarnen und Täuschen ist aber kein Ersatz für das Unvermögen und den Unwillen, den Konservativen ein politisches Angebot zu machen. Damit scheint der weitere Niedergang der Unionsparteien vorgezeichnet. Um es mit den Worten des Politikwissenschaftlers Werner Patzelt zu sagen: „Die CDU der Zukunft wird konservativ sein, oder sie wird nicht sein“. 2
Von FDP bis LKR – viele Akteure, wenig Wirkung
Aber auch außerhalb der Unionsparteien sieht es für liberal-konservative, bürgerlich denkende Wähler mau aus: Die FDP ist – wenn überhaupt – nur noch als Zwei-Mann-Partei wahrnehmbar. Und auch sie hat sich allem Anschein nach inhaltlich dem linken Zeitgeist weitgehend unterworfen. Marktliberales, freiheitliches oder gar liberal-konservatives Gedankengut kann oder will außer Lindner und Kubicki niemand mehr so recht engagiert vertreten. Die freiheitliche Stimme der Eigenverantwortung, die die FDP stets verkörperte – sie ist leise und dünn geworden. Das, was von ihr übrig ist, wird kaum ausreichen, um bürgerlichen Ansichten hinreichend Stimme und Gehör zu verschaffen.
„Die WerteUnion wirkt aber – bislang eher wenig erfolgreich – nur nach innen, in die Unionsparteien hinein."
Die AfD, einst als Hoffnungsträgerin im bürgerlichen Lager gestartet, driftet weiter ab von einem Kurs, den man noch als bürgerlich-gemäßigt bezeichnen könnte. Für uns Bürgerliche sind zu viele ihrer Würdenträger nicht tragbar, sind die Bemühungen, sich von ihren radikalen und demokratiefernen Anteilen zu befreien, zu wenig glaubwürdig, zu wenig energisch. Man darf sicher der Ansicht sein, dass das pauschale Framing und Bashing des etablierten Politik- und Medienbetriebes die AfD und auch ihre Wählerschaft unzulässig dämonisiert – womit es ihrer Radikalisierung letztlich weiter Vorschub leistet, Stichwort „Wagenburg-Effekt“. Aber auch dann wird man sich als gemäßigt-bürgerlich denkender Wähler mit Grausen von den sektiererischen Bildern und Äußerungen abwenden, mit denen AfD-Vertreter immer wieder gegen die „Altparteien“ und unsere Parteiendemokratie mobil machen. Die gemäßigten und auch vernünftigen Kräfte in der AfD, sie haben es bis heute nicht geschafft, den radikalen Ballast der Partei und dessen demokratieferne Attitüde endlich loszuwerden. Wie Werner Patzelt konstatierte: „Auch für die AfD gilt: Wer nicht hören will, wird fühlen!“ 3.
Wen gibt es noch im bürgerlichen Lager? Die WerteUnion (WU) sieht sich nach der Wahl des Wirtschaftswissenschaftlers Max Otte zum neuen Bundesvorsitzenden heftiger Kritik von innen und außen ausgesetzt. Manche reden schon der Spaltung das Wort und betreiben damit letztlich das Geschäft der politischen Linken. Ohnehin wirkt die WU aber – bislang eher wenig erfolgreich – nur nach innen, in die Unionsparteien hinein. Als nicht einmal offiziell anerkannte Vereinigung innerhalb von CDU und CSU steht sie auch nicht zur Wahl. Und da sich kaum ein Mandatsträger oder Kandidat offen zur WU bekennt, bleibt ihr Einfluss auf die Linie der Parteiführung bislang marginal.
Die LKR (die „Liberal-Konservativen Reformer“ – allein das Akronym wird für viele erklärungsbedürftig sein) mühen sich redlich. Dort kann man als politisch einigermaßen objektiver Beobachter Aufbruchsstimmung, Engagement und vernünftige Programmatik verzeichnen. Dennoch kämpfen ihre Anhänger gegen ihre Unbekanntheit und die Stigmatisierung als politisch (noch) bedeutungslose Kraft. Letzteres gilt freilich für jede im Aufbau befindliche Partei oder Bewegung, zumindest in deren Anfangsstadium – das Wahljahr 2021 wird es weisen, ob das Frustrationspotenzial im bürgerlichen Lager den LKR zumindest einen Achtungserfolg beschert. Aber die Hürde, den LKR die Stimme zu schenken und sie damit wahrscheinlich zu verschenken, wird für viele zu groß sein. Vielleicht gelingt es den LKR, vor allem das große Potenzial bürgerlicher Nichtwähler zu erschließen.
Vakuum im Parteiensystem
Mit seiner Überschrift „Der verlorene Kulturkampf“ 4 brachte es Ulf Poschardt kürzlich in der Welt also auf den Punkt: Die Linke dominiert das Parteienspektrum, von ganz links bis zur Mitte, also auch über die Grenze des eigenen Lagers hinaus. Sie dominiert die Themen, definiert die Grenzen des „Sagbaren“, und sie dominiert auch die Umfrageergebnisse. Sie hat es geschafft, die Lufthoheit im politischen Raum zu erringen. Selbst eine schwarz-grüne Regierung ließe auch keine an der reinen Vernunft orientierte Politik erwarten, sondern vor allem Klima-Populismus und paternalistische Verbotspolitik. Zu glauben, dass die Union, ob als Junior- oder Seniorpartner der Grünen, sich dieser generellen Linie energisch entgegenstellen werde, ist nach allem, was man von Angela Merkel, Armin Laschet, Markus Söder und allen anderen führenden Parteifunktionären beobachten kann, nur eines: naiv.
Der Frust unter Bürgerlich-Liberal-Konservativen ist entsprechend groß: Wen soll man heute noch guten Gewissens wählen? Allein die Äußerungen in den sozialen Medien zeigen vielfach den Frust über das politische Vakuum, das im deutschen Parteienspektrum klafft. Es erstreckt sich von CDU/CSU und FDP auf der einen bis hin zur AfD auf der anderen Seite. Und mit der anhaltenden Drift der Union nach links und der AfD nach rechts wird es von Tag zu Tag größer. Nie war die Orientierungslosigkeit im bürgerlichen Lager so groß wie im Wahljahr 2021. Und das Fehlen von wählbaren und vor allem erfolgsfähigen Alternativen hat großes Potenzial, die Politikverdrossenheit (die sehr häufig eher eine Politikerverdrossenheit ist) im bürgerlichen Lager weiter zu erhöhen. Mit der Prognose, dass der Anteil an Nicht- und reinen Protestwählern bei der Bundestagswahl weiter wachsen wird, dürfte man kein großes Risiko eingehen.
„In allen Politikfeldern besteht massiver und dringender Handlungsbedarf, um den schleichenden Abstieg Deutschlands zu bremsen."
Unbestreitbar: Die Herausforderungen, vor denen unser Land steht, sind enorm. In allen Politikfeldern besteht massiver und dringender Handlungsbedarf, um den schleichenden Abstieg Deutschlands zu bremsen. Die Pandemie ist nicht Auslöser, aber Katalysator dieser Probleme. Wie in einem Brennglas zeigt sie die Defizite im deutschen Regierungs- und Verwaltungshandeln auf. Allein der Nachholbedarf in Sachen Entbürokratisierung, Modernisierung, Deregulierung, Digitalisierung ist exorbitant. Wir sind so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir der Weltgemeinschaft kaum noch spürbare Lösungsbeiträge anbieten können – weder für die zahlreichen Konfliktherde in der Welt, die institutionelle Weiterentwicklung internationaler Bündnisse, das Problem von Flucht und Vertreibung noch für die Klimakrise. Deutschland sonnt sich im Glanz seiner jüngeren Vergangenheit und pflegt seine Befindlichkeiten. Wir gerieren uns als und gefallen uns in der Rolle des Hypermoralisten.
Man darf, man muss als Bürgerlicher angesichts der mannigfaltigen Defizite die Frage stellen: Bieten linksgrüne Ideologien und Zukunftsvorstellungen, wie sie heute den Mainstream in der Parteipolitik und den Medien prägen, wirklich eine Lösung für die anstehenden Fragen? Hat sich das Liberal-Konservative, das Bürgerliche in der deutschen Politik einfach überholt? Hat es seinen Mehrwert, und damit seinen Platz im politischen Spektrum verloren? Ich behaupte: nein, im Gegenteil.
Gegenpol zum Zeitgeist: das Bürgerlich-Konservative
Die Linke zeichnet sich dadurch aus, die Politik für Minderheiten und Randgruppen zum Maß aller Dinge zu erheben. Allzu oft konstruiert sie Scheinprobleme und will deren Symptome kurieren, ohne jedoch die wahren Ursachen anzugehen. Themen wie Gender, grassierender Gleichstellungswahn und die ständige, sachfremde und überzogene Perpetuierung der Rassismus-Problematik sind prominente Beispiele. Selbstverständlich ist der Schutz von Minderheiten und deren Interessen zentrales Element unseres freiheitlich-demokratischen Wertegerüstes. Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Eine Gesellschaft, die ihre Kernprobleme verdrängt und zugunsten eines überzogenen Minderheitenschutzes die Anliegen und Interessen der Mehrheit außer Acht lässt, entzieht sich ihre eigene Grundlage. Sie droht, ihre Zukunftsfähigkeit zu verlieren. Linke Politik vertritt nicht mehr die Interessen der stillen Mehrheit, die diese Gesellschaft trägt: Familien, Unternehmer, Angestellte, Selbständige, die Mittelschicht, der Mittelstand. Welche politische Kraft kann heute noch mit Fug und Recht behaupten, das zu tun?
Im modernen, zeitgemäßen Konservatismus findet man den Gegenpol. Zwar ist allein der Begriff „konservativ“, dank jahrelanger medialer und politischer Diffamierung, verbrämt, abgewertet und diskreditiert; die Begriffe „bürgerlich“ und „freiheitlich“ scheinen da weniger vorbelastet zu sein.
„Nicht der lauteste Schrei von Minderheiten oder Aktivisten darf politikbestimmend sein, sondern das, was aus der nüchternen, sachlichen Betrachtung heraus geboten erscheint."
Konservativ sein bedeutet zunächst einmal Verzicht auf Ideologie und Dogmen. Das Konservative stützt sich auf das christliche Menschenbild von Freiheit, Nächstenliebe und Eigenverantwortung für sich selbst und alle anderen Gemeinschaftsmitglieder. Daraus erwächst die Wertschätzung für Dritte, gerade auch über Lagergrenzen hinweg. Deswegen wird ein wahrer Konservativer niemals Nationalist sein oder Antisemit oder gar Rassist. Konservative stellen die reine, bürgerliche Vernunft in den Vordergrund.
Für uns Konservative gilt: Nicht der lauteste Schrei von Minderheiten oder Aktivisten darf politikbestimmend sein, sondern das, was aus der nüchternen, sachlichen Betrachtung heraus geboten erscheint. Nicht der aus tagespolitischen und wahltaktischen Erwägungen heraus entstehende Aktionismus darf politisches Handeln prägen, sondern nachhaltige, sachorientierte, ruhige, aber dennoch energische Führung. Nicht der unter etablierten Politikern aller Couleur immer weiter zunehmende Hang zur Selbstinszenierung und Vermarktung ihrer eigenen Person ist Gradmesser für politischen Erfolg, sondern tatsächliche, wo möglich messbare politische Leistungen und Fortschritte.
Das Konservative ist daher auch kein Markenzeichen einer bestimmten Partei. In jeder etablierten Partei finden sich Konservative, wenn auch oftmals eher als Spurenelemente: Die Union hat nach wie vor Menschen wie Hans-Georg Maaßen, Arnold Vaatz, Peter Gauweiler – und sicher viele aktive Mandats- und Funktionsträger, von denen sich aber nur wenige offen zu einer konservativen Grundhaltung bekennen.
Die SPD hat sich zwar ihres kritischen, konservativen Kopfes Thilo Sarrazin erfolgreich entledigt. Der weise Klaus von Dohnanyi würde sich jedoch wohl selbst deutlich eher als konservativ denn als links bezeichnen, und auch ein Sigmar Gabriel zählt zu den konservativen Querdenkern seiner Partei, allein schon, weil er sich nicht scheut, auch gegen den Mainstream die Dinge klar beim Namen zu nennen.
„Dass gerade in Deutschland, 30 Jahre nach dem Ende der DDR, sozialistische Ansätze eine Renaissance feiern, lässt einen als Bürgerlichen staunend und auch frustriert zurück."
Die Grünen haben Boris Palmer und Winfried Kretschmann, und sogar die Linke kann sich mit Sahra Wagenknecht bereichern. Bezeichnenderweise stehen alle diese Personen – sicher stellvertretend für viele weniger bekannte – in ihrem jeweiligen politischen Umfeld unter Druck, denn die linke Cancel Culture ist auf dem Vormarsch und vergiftet den Diskurs.
Persönlich glaube ich nicht, dass die gesellschaftlichen Vorstellungen der Linken dem Land und den Menschen wirklich eine zukunftsfähige Perspektive geben. Sie erscheinen mir eher rückwärtsgewandt, weil sie – entgegen ihrer Selbstvermarktung als „progressiv“ – auf eine gesellschaftliche Vorstellung abzielen, die sich in der Geschichte noch nie und nirgendwo bewährt hat. Sozialistische Gesellschaftsmodelle haben nie Wohlstand für die breite Gesellschaft erzeugt, sondern immer nur für die jeweilige Elite. Was mit sozialistischen Denk- und Gesellschaftsmustern oft einhergeht, bis in die heutige Zeit, sind staatliche Repression, Mangelverwaltung, Verlust der individuellen Freiheiten, Raubbau an Natur und Umwelt. Dass gerade in Deutschland, 30 Jahre nach dem Ende der DDR, sozialistische Ansätze eine Renaissance feiern, lässt einen als Bürgerlichen staunend und auch frustriert zurück.
Nicht aus ideologischer Verblendung und Verbohrtheit heraus erwachsen tragfähige Lösungen für ein Land und seine Bürger, sondern nur aus der reinen Vernunft. Wo diese im etablierten Politikbetrieb keine Fürsprecher mehr haben, ist es Zeit für einen neuen, bürgerlich-freiheitlichen Aufbruch. Und wir, die normalen, durchschnittlichen Bürger sind es, die diesen gestalten müssen. Den Mut, sich damit dem linken Mainstream entgegenzustellen, sollten wir alle, die wir unser Land lieben und unsere Mitmenschen wertschätzen, aufbringen.