11.04.2018

Orakel orakeln, Forscher warnen

Von Matthias Kraus

Titelbild

Foto: lukaszdylka via Pixabay / CC0

Seit Jahrzehnten sterben wir alle – durch Atomkrieg, Waldsterben, Bevölkerungswachstum, Klimawandel. Seltsamerweise ist die säkulare Apokalypse bisher ausgeblieben.

Als ich in den 1980ern Abi machte, war die große Frage: Wozu? Denn eines galt als gesetzt: Das neue Jahrtausend werden wir nicht mehr erleben. Okay, vielleicht ein paar Reiche. Fraglich nur, ob die wenigen Bonzen, die den wegen der Aufrüstungsspirale unausweichlich bevorstehenden Atomkrieg in ihren Privatbunkern überleben würden, zu beneiden wären. Fünf Jahre zuvor war ich noch zu jung, um die damals größte globale Gefahr zu begreifen: Die nächste Eiszeit, so warnten Forscher, könnte bevorstehen.

Mit der Adoleszenz kam das Waldsterben: Saurer Regen zerstörte den deutschen Wald, schon bald auch den in Österreich und der Schweiz. Die Uhr auf der 80-Pfennig-Sondermarke zeigte auf Drei vor Zwölf, darunter Baumskelette. Innenminister Zimmermann, CSU, schickte an alle deutschen Haushalte Päckchen mit Fichtensamen. Über solch zynischen Pseudoaktionismus konnten Naturschützer nur bitter lachen, denn was nützt schon ein neuer Baum, wenn der übersäuerte Waldboden ihm gar keine Chance geben kann. „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch“, hieß es. Die Franzosen belächelten unsere Panik als deutsch-romantische Hysterie, doch sie würden schon noch sehen: „Der Glaube, das Waldsterben in Frankreich verschone irgendeine Ecke des schönen Landes, ist eine Illusion“, stand im Spiegel. Es kam dann doch anders. Der Wald lebt, tot ist das Waldsterben. Für uns aber war nur die Apokalypse in Betracht gekommen, darunter machen wir Progressiven in Deutschland es nicht.

Wachstums- und Atombomben

Seit die NASA-Astronauten zum ersten Mal die Erde im schwarzen All farbfotografiert haben, ist uns hasenherziger denn je um unsere fragile, blaue, kostbare Kugel. Vor uns, so heißt es, befand sich die Natur in perfekter Balance. Dann kam der Mensch. Schon Thomas Malthus sah 1798 die menschliche Wachstumsbombe vor seinem geistigen Auge. Da wir uns vermehren würden wie Kaninchen, könnten die Ressourcen unmöglich im gleichen Tempo mithalten, berechnete er. Die Unglücksraben, die in eine bereits vollständig besetzte Welt hineingeboren würden, hätten deshalb leider kein Bleiberecht auf Erden; die malthusianische Katastrophe sei über kurz oder lang unvermeidlich. Mit fortschreitender Industrialisierung verschärften sich die gefühlten Bedingungen für den vorhergesagten Kollaps weiter: Ressourcenausbeutung, Umweltverschmutzung, Wettrüsten, Atommüll, Ozonloch, Artensterben, Erderwärmung, Genmanipulation. In ihrem 1968 erschienenen Buch „Die Bevölkerungsbombe“ beschrieben Anne und Paul Ehrlich, warum nach ihren Prognosen hunderte Millionen Menschen noch in den 1970er-Jahren verhungern würden und ein guter Teil des verbleibenden Rest vorsorglich zwangssterilisiert werden müsste.

„Die Rechten dagegen so: YOLO!“

1972 prognostizierte Dennis L. Meadows die Zukunft von Mutter Erde erstmals mit Hilfe von Modellberechnungen aus dem Computer. Der „Club of Rome“ fasste die Ergebnisse der Studie „Grenzen des Wachstums“ so zusammen: „Die Erde hat Krebs und dieser Krebs ist die Menschheit.“ Das war der endgültige Weckruf. Dass wir uns eher früher als später selbst abschaffen werden und Pflanz’ und Tier mit dazu, gilt bis heute als gesetzt, seit 45 Jahren ist es fünf, nein, zweieinhalb vor zwölf. In Jugendzimmern hingen Posters von Ché, auf Renault R4s klebte die von einem Filmregisseur ersonnene, angebliche Indianer-Weissagung der Cree: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann!“ Das Schlimme ist: Naturvölker haben immer Recht (waren allerdings auch keine Umweltengel).

Die Alten sahen das leider anders. Als 1986 Tschernobyl hochging, war für meinen CSU-wählenden Vater vor allem dieses klar: Die Russen sind technisch einfach nicht auf unserer Höhe. Der Gedanke, dass die Atomenergie (Euphemisten nennen sie Kernenergie) nicht so sicher sein könnte wie behauptet, kam ihm nicht in den Sinn. Papa und ich lebten bei gleicher Faktenlage in unterschiedlichen Realitäten. In einem Jugendblättchen spekulierte ich, „die BRD“ würde im Falle eines Störfalls im nahegelegenen KKW Grafenrheinfeld die Strahlenzombies keineswegs evakuieren, sondern vielmehr einkesseln, um den GAU zu vertuschen. Wahrscheinlich hatte mich der Verfassungsschutz schon längst im Visier. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Die paar Jahre bis zum thermonuklearen Ende? Geschenkt!

Die Rechten dagegen so: YOLO! Die Russen haben Atombomben? Wir rüsten so lange wett, bis die Bolschewisten bankrott sind! Die Ölreserven gehen zur Neige? Egal, ein neuer Zweitwagen muss her! Bei uns gehen irgendwann die Lichter aus? Mit Kernkraft in eine strahlende Zukunft! Der Ozean schluckt die Malediven? Nächstes Jahr fliegen wir nach Dubai! Warum sind die Konservativen so ignorant? So spaßorientiert? Sie kennen doch die gleichen Fakten wie wir Progressiven und tragen das Bewahrende sogar im Namen. Entweder sind diese Spießer egomane Zyniker oder aber in ihrer Realität steht ein menschengemachter Weltuntergang schlichtweg nicht bevor. Lesen die denn keine Zeitung?

Faktencheck

Okay, machen wir einen Faktencheck. Mal sehen, was aus den Prognosen der letzten 40 Jahre geworden ist.

„Mangels zunehmender Hitze wurde die ‚Erderwärmung‘ deshalb umbenannt in ‚Klimawandel‘.“

Erstaunlich. Und die Zukunft?

  • Der Meeresspiegel steigt seit 1840 sehr langsam an, um etwa 15 Zentimeter im Jahrhundert. Wir werden auf absehbare Zeit nicht untergehen. In den letzten 30 Jahren haben wir sogar 33.700 Quadratkilometer neues Land gewonnen.
  • Die von der UN für 2010 vorhergesagten 50 Millionen Klimaflüchtlinge blieben alle zuhause – bis auf einen, doch den hat Neuseeland wieder auf seine Heimatinsel zurückgeschickt, wo er sicher und trockenen Fußes lebt. (Dafür werden jetzt bis zu 2 Milliarden im Jahr 2100 erwartet. Ob diese Prognose zutrifft, werden wir und unsere Kinder nicht mehr herausfinden.)
  • Die Erwärmung der Erde seit 1880, also nach dem Ende der sogenannten kleinen Eiszeit, um insgesamt 0,85 Grad Celsius hat 2002 (manche sagen, bereits 1998) eine Pause eingelegt, die mindestens bis 2012 anhielt (manche sagen, bis heute), obwohl wir in diesem Zeitraum mehr als ein Drittel sämtlicher jemals von Menschen verursachten CO2-Emissionen in die Atmosphäre geblasen haben. Mangels zunehmender Hitze wurde die „Erderwärmung“ deshalb umbenannt in „Klimawandel“ (ein Begriff ohne große Bedeutung, denn der Wandel ist eine dem Klima dieses Planeten seit je her innewohnende Qualität).
  • Wenn wir wirklich am Anfang des sechsten großen Artensterbens stünden, könnten wir uns weitere Mühen sparen, denn einmal in Gang gesetzt, wäre es nicht mehr zu stoppen und wir so gut wie tot. Sind wir aber nicht. Seit dem Jahr 1600 bis heute sind 486 Tier- und 600 Pflanzenarten den Weg des Dodo gegangen, berichtet das World Conservation Monitoring Centre der UN. Meist geschieht das auf abgelegenen Inseln mit vom Rest der Welt losgelösten Biotopen, alles ohne Einfluss auf das viel komplexere kontinentale Gleichgewicht. Hingegen werden jedes Jahr etwa 18.000 neue Spezies entdeckt. Als „Lonesome George“ 2012 als letzter seiner Art medial begleitet von uns gegangen ist, zuckten Ökologen nur mit den Schultern. Es gibt dort zehn weitere Unterarten von Galapagos-Riesenschildkröten und deren Population ist seit 40 Jahren um über 600 Prozent angewachsen.

Haben die Reaktionäre womöglich Recht und das Ende der Welt „as we know it“ bleibt aus? Politiker und andere Laien streiten regelmäßig und säuberlich in Lager aufteilt darüber, ob das, wovor jeweils „Forscher warnen“, sofortigen Handlungs- und Finanzierungsbedarf nach sich zieht oder nicht. Weshalb überhaupt sind die Antworten auf diese wissenschaftlichen Fragen so trennscharf durch politische Zugehörigkeit vorgegeben? Vielleicht deshalb: Konservative sind oft Humanisten im Sinne der alttestamentarischen Weisung „Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ Derart unmissverständlich instruiert bauen sie sich bedenkenlos die Welt, wie sie ihnen gefällt. Sie glauben, der Erfolg gebe ihnen Recht, denn diese ihre pragmatisch-invasive Strategie hat letztlich unsere klimatisierten Appartements, unsere lieblichen Kulturlandschaften und dazu MacBooks, Kernspintomographen und Patagonia-Outdoor-Jacken hervorgebracht.

„Oft genug scheint eine weltliche Religion am Werk.“

Die meisten Progressiven hingegen sind Naturalisten, ganz im Sinne von Rousseau. Sie betrachten die Natur als das „von Natur aus“ Gute – Planet Earth First. Der industrialisierte Mensch jedoch ist denaturiert, verführt von einem perversen Wachstumsdogma. Um die Natur vor dieser malthusianischen Zeitbombe zu retten, gebieten es Moral und Intellekt, sich auf die Seite der Warner zu stellen. Unser angeborener Alarmismus verstärkt diesen Impuls: Die ständige Sorge ums prähistorische Überleben, die nicht nachlassende Wachsamkeit vor den tödlichen Gefahren einer gleichgültigen Natur und lauernder Räuber mit und ohne Säbelzähne gehört zu unser aller Urzeit-Psyche, ob nun progressiv oder nicht.

Erbsünde reloaded

Und heute? Die Aufklärung hat uns Abendländler von der Erbsünde erlöst. Über diesen Freispruch mag man sich freuen, aber das nach wie vor Schicksalhafte unseres Daseins steht nun plötzlich ohne Deutung da. Könnte es sein, dass insbesondere wir hier im Westen mit unserer protestantischen Schuldkultur diese Erklärungslücke füllen mit einer säkularen Version der Vertreibung aus dem Garten Eden? Nämlich diese: Wir verraten unser irdisches Paradies mit ebenjenem zügellosen Wachstum, das angeblich eine göttliche Order war. Die gerechte Strafe dafür wird uns logischerweise nicht aus dem Himmel ereilen, sondern direkt von Gaia selbst verabreicht (wie einige meiner Freunde witzelnd zur Kenntnis nahmen, nachdem Hurricane Harvey 82 Texaner, folglich ölbohrende Rednecks, ersäuft hatte) – es sei denn, wir leisten Buße, sofort.

Seinerzeit waren Sintflut und Heuschreckenplagen die Strafe für unseren Hochmut, alsbald werden uns ansteigende Meere und Klimamücken hinfort raffen, so steht es täglich geschrieben. Doch blickt man zurück in die gute alte Zeit (wie Konservative es so gerne tun), zeigt sich ein Muster: Die Orakel, Weisen und Forscher stellen die Zukunft zuverlässig zu pessimistisch dar (was allerdings die Budgets ebenso zuverlässig erhöht). Sie sind halt auch nur Menschen, Ungewissheiten ziehen auch sie runter. Sicher, manchmal ist die Unkerei hilfreich. Die Einführung von Auto-Katalysatoren und von Filteranlagen für Kohlekraftwerke war besonders nach der Wiedervereinigung dringend nötig, hat die Luftqualität deutlich verbessert und – wer weiß – vielleicht sogar das so sicher geglaubte Waldsterben mit verhindert. Aber oft genug scheint eine weltliche Religion am Werk. Nichts weniger als die gesamte Menschheit soll missioniert werden, abzulassen von der sündigen Völlerei des Kapitals. Damit ein Glaubenssystem größere Kreise erreichen kann, braucht es neben der eigentlichen Heilslehre eine straffe Organisation und Kooperation mit den Mächtigen. Am deutlichsten zeigt sich das beim heißesten Thema, dem Klima.

In den Hauptrollen:

Schnittstelle zur weltlichen Macht: Weltklimarat (IPCC)
noch besser – Kirchenstaat: Jørgen Randers’ (Club of Rome) wohlwollende Klimadiktatur
Klerus: Greenpeace, World Wildlife Fund, Sierra Club usw.
Priester: Al Gore, March-for-Science-Wissenschaftler
Teufel: Die Industrie, der Kapitalismus, Du-weißt-schon-wer
Versuchung: CO2, Chlor, Atom, Gen
Erbsünde: Unser Konsum
Ächtung der Ungläubigen: Internet-Pranger, Holocaust-Vergleiche, Knast, und der alte Religionsklassiker – Todesstrafe
Schicksalhafte Zeitenwende: Jetzt handeln oder es ist für immer zu spät
Ewige Verdammnis: Wir werden von der Erde getilgt
Berufung: Nur wir können die Erde retten
Ablasshandel: CO2-Emissionsrechte, NGO-Spenden, 25 Prozent Strompreisabgabe
Paradies: Leben im Einklang mit der friedfertigen Natur

Und die Wissenschaft? Im Auftrag der guten Sache mit großzügigen Mitteln bedacht findet sie die richtigen Antworten auf vorgegebene Fragen. „The science is settled“ – an den wissenschaftlichen Ergebnissen gibt es nichts zu rütteln. Die Steintafeln sind gemeißelt. Und das ist nichts weniger als ein Wunder.

Dieser Text erscheint als Teil der Reihe „Losing my religion” von Matthias Kraus.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!