09.07.2012

Olympiade der Miesmacher

Analyse von Tim Black

Im Vorfeld der Olympischen Spiele in London überbieten sich Politiker, Bürokraten und Experten mit Angstszenarien. Anstatt sich einfach auf die Spiele zu freuen, diskutiert Großbritannien die Gefahr von möglichen Terroranschlägen, Verkehrschaos oder Grippeepidemien.

Man sollte meinen, dass die Olympischen Spiele ein Grund zum Feiern sind: Für viele Kommentatoren sind sie ganz einfach nur das „größte Sportspektakel der Welt“ und in Anbetracht des Ereignisses sind solche Superlative auch völlig gerechtfertigt. Für zwei Wochen im Juli wird London die Ehre zuteil, die besten Athleten der Welt bei ihrem Streben nach Höhe, Schnelle und Stärke beherbergen zu dürfen. Eigentlich kann man sich nur weniges ausmalen, was noch fesselnder und erhebender sein könnte.

Doch für britische Politiker und Bürokraten – nicht zu vergessen die hauptberuflichen Experten, die immer ein Angstszenario in petto haben – sind die Olympischen Spiele nichts, was man einfach nur genießen, geschweige denn feiern kann. Stattdessen wurde uns „London 2012“ als eine Ansammlung möglicher Bedrohungsszenarien präsentiert, die in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, die Spiele als das Schlimmste in der schlimmstmöglichen aller Welten darzustellen: Terroranschläge, Grippepandemien, Zusammenbruch der Infrastruktur und so weiter und so fort. Es gibt keine Angst, die nicht bedient wird. Obwohl sich diese Vorahnungen auf sachlicher Ebene unterscheiden, ist das Ergebnis das gleiche: Was ein Festival des Sports sein sollte, hat sich in einen Gegenstand für offizielle, staatlich gesteuerte Angst verwandelt.

Nehmen wir das Beispiel der möglicherweise durch Olympia verursachten Verkehrsprobleme. Angesichts der endlosen und besorgniserregenden Ankündigungen könnte man meinen, dass „London 2012“ nur das verrückte Branding für Bauarbeiten überall in der Stadt sei. Unter Berufung auf ein „Pendlerchaos“ versuchten die städtischen Verkehrsbetriebe „Transport for London“ (TfL), das Organisationskomitee der olympischen Spiele, LOCG, dazu zu bewegen, die Anzahl der Zuschauer für ein Reitsportevent auf 25.000 zu begrenzen. Der Nationale Gesundheitsdienst vermutete, dass die exklusive Zuteilung von Fahrspuren an eingeschriebene „Olympia-VIPs“ zum Tod von im Stau steckenden Notfallambulanz-Patienten führen könnte. Sogar der Premierminister wurde in diesen Fall involviert. Die Bürokratie ist sich tatsächlich so sicher, dass die Londoner Infrastruktur nicht in der Lage ist, den Verkehr der Olympischen Spiele zu verkraften, dass laut London Times zehntausende Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst dazu angehalten werden, während der Sommermonate möglichst „von zu Hause“ aus zu arbeiten. Natürlich könnte der öffentliche Nahverkehr Londons dringend eine Renovierung vertragen, aber die Olympischen Spiele für die infrastrukturelle Misere verantwortlich zu machen, ist ungefähr das gleiche, wie Urlauber zu beschuldigen, sie hätten die Flugverspätungen verursacht.

Die Sorgen und Warnungen vor verstopften U-Bahnen und Staus erscheinen, neben den offiziellen Schreckensprophezeiungen über bevorstehenden Terror und Seuchen, sogar als verhältnismäßig vernünftig. In diesen furchteinflößenden Visionen ist bereits die bloße Tatsache, dass sich eine große Menge Menschen in London versammeln wird, um eine großes Sportspektakel zu genießen, ein Grund zu größter Sorge. Denn jeder Mensch wird hier nicht nur als einfacher Sportfan gesehen, sondern – wie es scheint – auch als potentielle Bedrohung, als mögliche Massenvernichtungswaffe oder als Infektionsherd, je nachdem, welchem Angstunternehmer man folgen möchte.

Die BBC zeigte Gesundheitsexperten, die davor warnten, dass Veranstaltungen wie die Olympiade in London eine Brutstätte von Krankheiten aus der ganzen Welt bilden könnten. Einem dieser Experten ging es eindeutig vor allem darum, bloß keine auch noch so diffuse Angst auszulassen, auch wenn diese gar nichts mehr mit den eigentlichen medizinischen Fragen zu tun hatte: „Massenveranstaltungen stehen in Zusammenhang mit Tod und Zerstörung – katastrophale Massenpaniken, einstürzende Veranstaltungsorte, Massengewalt und Schäden der politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur sind potenzielle Gefahren.“ Ein Expertenbericht jüngeren Datums behauptete, dass dank der Olympischen Spiele „in London die Gefahr einer Grippepandemie steigt, da pro Tag fast 800.000 weitere Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen werden, was ein idealer Nährboden für Viren ist.“

Natürlich gibt es keine greifbaren Beweise und auch keine eindeutigen und unmittelbaren Gefahren, die diese schrecklichen Ahnungen rechtfertigen würden. Es handelt sich fast ausschließlich um reine „Was-wäre-wenn“-Szenarien: Was ist, wenn das Stadion zusammenbricht, was ist, wenn ein böser, arzneimittelresistenter Virus aus einem Flugzeug fällt, was ist, wenn sich jemand dazu entscheidet, sich in die Luft zu sprengen? Dabei handelt es sich um eine Ableitung von Donald Rumsfelds berühmter Formel vom „unbekannten Unbekannten“, eine Gefahr, die ganz und gar nicht verifizierbar ist und selbst unmögliche Bedrohungen beinhaltet, gegen die es sich dann irgendwie zu wappnen gilt.

Nirgendwo wird dies deutlicher als bei der endlos wiedergekäuten Gefahr eines möglichen Terroranschlags während der Olympischen Spiele. Der Sicherheitsplan des Innenministeriums für die Spiele liest sich wie ein Drehbuch der Actionserie 24: „Neben den traditionellen Angriffsmethoden könnten Terroristen diesmal auch auf Cyberangriffe oder Anschläge mit chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Stoffen setzen. Als hochkarätige Veranstaltung sind die Spiele wahrscheinlich ein ansprechendes Ziel für Einzelpersonen oder terroristische Gruppen.“ Dann wird eine Liste von wahrscheinlichen Angriffszielen genannt: Massenveranstaltungen, wie Public-Viewing-Events, aber auch der alltägliche Verkehr mit der U-Bahn, werden als „sehr wahrscheinliche“ Ziele eingestuft. Das sind alles sehr nützliche und hilfreiche Ratschläge – für einen angehenden Attentäter.

Für die wechselnden Regierungen, die sich noch nie ganz klar darüber waren, was der eigentliche Sinn der Olympischen Spiele ist – der Sport nämlich! – hat die Lesart, die Spiele als Quelle existentieller Gefahren zu betrachten, eine sinnstiftende Funktion eingenommen. Indem er erst Ängste schürt, kann sich der Staat später als großer Gefahrenmanager aufspielen. Anfang dieses Jahres warnte die britische Innenministerin, Theresa Mai: „Wir stehen vor einer echten und dauerhaften Bedrohung durch den Terrorismus, und die Spiele als bedeutende Großveranstaltung werden ein Ziel für terroristische Gruppen sein. Unser Sicherheitsplan wurde deshalb auf Basis der Annahme entwickelt, dass die terroristische Bedrohung schwerwiegend ist.“ Im Februar wurden deshalb 2.500 Rettungskräfte und Sicherheitspersonal für ein öffentliches Manöver abgestellt, in dem die Reaktion auf ein Bombenattentat in einer U-Bahnstation geübt werden sollte. Für Sicherheitsminister James Brokenshire schienen diese schrecklichen Szenen ein großer PR-Erfolg gewesen zu sein: „Wir sind entschlossen, nichts dem Zufall überlassen, um sichere Spiele zu liefern, die London, Großbritannien und die ganze Welt genießen können“. Um wirklich sicherzugehen, dass die Olympischen Spiele auch wirklich sicher sind, begannen die Behörden sogar, Raketenwerfer auf dem Dach eines Wohnblocks zu positionieren. Nur für den Fall aller Fälle.

Doch damit nicht genug der Sorgen: „Hochwasser als Folge von plötzlichen Sommergewittern könnten auch ein Risiko für einige der Veranstaltungsorte und die dazugehörige Infrastruktur darstellen“, erklärte das Innenministerium. Anstatt übermäßig viel Zeit und Geld mit Gedanken daran zu vergeuden, was alles passieren könnte, sollten wir uns vielleicht besser darauf konzentrieren, was auf jeden Fall passieren wird: Für ein paar Wochen in diesem Sommer werden London und einige andere britische Olympiastätten zur Bühne ehrfurchtgebietender körperlicher Leistungen. Das ist etwas, worauf wir uns freuen sollten.

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