09.08.2023

Fachkräftemangel nur mit Produktivitätsoffensive lösbar

Von Alexander Horn

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Foto: emirkrasnic via Pixabay / CC0

Die Bundesregierung folgt mit ihrer „Fachkräftestrategie“ neo-merkantilistischem Denken. Nicht etwa intelligenter und produktiver, sondern mehr arbeiten ist ihre Devise.

Ungeachtet der wirtschaftlichen Schwächephase hat der Fachkräftemangel in Deutschland ein Rekordhoch erreicht. Im vergangenen Jahr konnten mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte nicht besetzt werden, wie das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) berichtet. Dies sei die größte Fachkräftelücke seit Beginn des Beobachtungszeitraums im Jahr 2010. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) beklagt, dass derzeit „rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben“. Wegen des Fach- und Arbeitskräftemangels entgehe Deutschland ein Wertschöpfungspotenzial von 100 Milliarden Euro entgehe, was immerhin gut 2,5 Prozent des BIP entspricht.

Die Bundesregierung, so Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), müsse nun „alle Register ziehen“, damit der Mangel an Arbeits- und Fachkräften nicht zu einer „dauerhaften Wachstums- und Wohlstandsbremse für Deutschland“ werde. Um dies zu verhindern hat die Bundesregierung Ende letzten Jahres die „Fachkräftestrategie“ verabschiedet.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Dort macht die Bundesregierung deutlich, dass man längst die Ursachen des Fach- und Arbeitskräftemangels erkannt habe und bereits seit vielen Jahren am richtigen Thema, nämlich an der Vergrößerung des Fach- und Arbeitskräfteangebots arbeite. So habe „die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik der Bundesregierung“ eine „starke Ausweitung der Erwerbstätigkeit“ erreicht, was seit 2010 dazu beigetragen haben, den „Fachkräftebedarf in Deutschland zu decken“. Um die Potenziale ihres Ansatzes zu untermauern verweist die Bundesregierung insbesondere darauf, dass im Zeitraum von 2010 bis 2020 die Frauenerwerbsquote von 68,8 auf 74,5 Prozent angehoben wurde, die der Älteren von 55 bis 64 Jahren von 57 auf 70,6 Prozent und die der Ausländer von 61,4 auf 66,2 Prozent. Dadurch sind insgesamt 2,9 Millionen mehr Erwerbstätige hinzugekommen, ein Plus von 8 Prozent.

Nun werde es jedoch noch schwieriger, den Arbeitskräftebedarf zu decken. Denn die „langfristigen und tiefgreifenden Transformationsprozesse der Digitalisierung, des demografischen Wandels und der Dekarbonisierung“ würden mit „zunehmender Dynamik den Wirtschaftsstandort Deutschland“ verändern.  So vermindere der demographische Wandel die Anzahl der Erwerbstätigen, während Digitalisierung und Dekarbonisierung den Fach- und Arbeitskräftebedarf obendrein erhöhten.

„Der Fachkräftestrategie liegt ein neo-merkantilistisches Denken zugrunde, denn sie setzt darauf, den Fach- und Arbeitskräftemangel ausschließlich durch eine quantitative Ausweitung des Arbeitsangebots auszugleichen."

Um diesen „drei D“ erfolgreich die Stirn zu bieten, setzt die Fachkräftestrategie mit ihrer ersten Säule darauf, das inländische Fach- und Arbeitskräftepotenzial nochmals deutlich auszubauen. Dazu soll die Aus- und Weiterbildung verbessert und vor allem die Erwerbsbeteiligungen von Frauen angehoben werden, denn sie berge das „größte inländische Potenzial“, so Heil. Als zweite Säule setzt die Fachkräftestrategie darauf, so Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), „dass wir die Erwerbsmigration erheblich steigern.“

Die Fachkräftestrategie der Bundesregierung ist völlig widersinnig, denn sie setzt auf exakt die gleichen Hebel, die sich bereits in den vergangenen Jahren zur Lösung des Fachkräfteproblems als ungeeignet herausgestellt haben. Nicht nur Heil hat erkannt, dass der Fach- und Arbeitskräftemangel nicht durch die gesteigerte Erwerbstätigkeit und die Anzahl der insgesamt geleisteten Stunden zu verhindern war. Ganz im Gegenteil: Auf Grundlage dieser Herangehensweise ist der Fach- und Arbeitskräftemangel seit 2018 überhaupt erst entstanden. Nicht weniger paradox ist, dass die gleichen Mittel ausgerechnet jetzt erfolgreich sein sollen, wo die demographische Alterung nicht wie bisher zu einer zunehmenden Erwerbsbevölkerung in Deutschland beiträgt, sondern seit Anfang der 2020er sogar zu deren Schrumpfung führt.

Wie unrealistisch es ist, den Fach- und Arbeitskräftemangel mit einer rein quantitativen Steigerung der Arbeitsleistung zu überwinden, hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) ermittelt. Wegen des demographischen Wandels werden bis zum Jahr 2035 über sieben Millionen weniger Arbeitskräfte in Deutschland zur Verfügung stehen als heute. Wollte man das Erwerbspersonenpotenzial stabil halten, müssten vor allem die Erwerbsquoten der Frauen und der 60- bis 69-Järigen sehr deutlich steigen und zudem wäre eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften notwendig, so die BA.

Neo-merkantilistisches Denken

Die Fachkräftestrategie der Bundesregierung entstammt der wirtschaftspolitischen Mottenkiste. Ihr liegt ein neo-merkantilistisches Denken zugrunde, denn sie setzt darauf, den Fach- und Arbeitskräftemangel ausschließlich durch eine quantitative Ausweitung des Arbeitsangebots auszugleichen.

Dieser Ansatz entspricht den wirtschaftlichen Realitäten vorkapitalistischer Gesellschaften, die zur Steigerung des Wohlstands – vor allem herrschender Kreise – darauf zurückgeworfen waren, die Anzahl der produktiv Tätigen zu steigern. Während des Merkantilismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert erreichte diese Orientierung ihre volle Blüte und dominierte das wirtschaftspolitische Handeln. Zur Mehrung ihres Wohlstands strebten die herrschenden Kreise ein hohes Bevölkerungswachstum an, um das Lohnniveau möglichst niedrig und das Arbeitskräftepotenzial hoch zu halten. Die quantitative Ausweitung der Güterproduktion zielte auf Exportüberschüsse, deren Erlöse das inländische Geldeinkommen mehrten.

Im völligen Gegensatz zu dieser Wirtschaftsweise, die praktisch nur quantitatives und daher sehr limitiertes Wohlstandswachstum ermöglichte, entwickelte sich in dieser Zeit der Kapitalismus. Dieser erreichte eine qualitative Steigerung des Wohlstands, indem technologische Verbesserungen – wie die zunächst einsetzende Arbeitsteilung und später die Nutzung von Arbeitsmaschinen – die Arbeitsproduktivität erhöhten, so dass es gelang, in der gleichen Arbeitszeit immer mehr Güter herzustellen.

Dieser arbeitssparende und zudem wohlstandssteigernde Effekt spielt in den entwickelten Volkswirtschaften jedoch eine immer unbedeutendere Rolle. Denn seit Jahrzehnten unterliegt die Produktivitätsentwicklung einem rückläufigen Trend. Dieser ist so weit fortgeschritten, dass das Produktivitätswachstum in Deutschland­ von 2008 bis 2022 nur noch etwa 0,6 Prozent pro Jahr erreichte – bei weiter sinkender Tendenz. Da der technogische Wandel nur noch sehr schleppend vorankommt, sind dessen arbeitssparende und dadurch wohlstandssteigernde Effekte fast versiegt. Wegen der gelähmten Produktivitätsentwicklung hat sich die heutige wirtschaftliche Realität den statischen Verhältnissen des Merkantilismus angenähert – und das wirtschaftspolitische Denken einer neo-merkantilistischen Sichtweise.

Arbeitsproduktivität als Stellhebel

Infolgedessen wird die Arbeitsproduktivitätsentwicklung als wirtschaftspolitisch beinflussbare Stellgröße vollkommen ausgeblendet und sie findet in der Fachkräftestrategie der Bundesregierung nicht einmal Erwähnung. Tatsächlich ist sie jedoch die allesüberragende Ursache für den in Deutschland entstandenen Fach- und Arbeitskräftemangel.

Denn obwohl die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland von 2007 bis 2022 um 5,3 auf inzwischen 45,6 Millionen gestiegen ist und das Arbeitsvolumen um 6 Prozent auf 62,1 Milliarden Stunden,1 wurde der Arbeitsmarkt wegen der geringen Produktivitätsentwicklung regelrecht leergefegt. Das liegt daran, dass das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in diesem Zeitraum zwar nur gut ein Prozent pro Jahr erreichte, damit aber höher lag als der Anstieg der Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigenstunde, der durchschnittlich nur 0,6 Prozent pro Jahr erreichte. Jedes Jahr wurden daher etwa 0,4 Prozent mehr Arbeitskräfte benötigt, um die steigende Wirtschaftsleistung zu erwirtschaften. So entstand jedes Jahr ein zusätzlicher Bedarf von etwa 150.000 Vollzeit-Arbeitskräften, der trotz des Anstiegs der Erwerbstätigenzahl (bei gleichzeitiger Zunahme der Teilzeitarbeit) nicht ausgeglichen werden konnte.

„Die fast stagnierende Arbeitsproduktivität ist ursächlich für den Mangel an Fach- und Arbeitskräften und zudem limitiert sie die Wohlstandsentwicklung."

Die Produktivitätsentwicklung wäre der entscheidende Stellhebel für die Lösung dieses Problems. Gelänge es beispielsweise, die Arbeitsproduktivität – bei gleichbleibendem Wirtschaftswachstum von etwa einem Prozent – um 1,6 Prozent statt wie aktuell nur um 0,6 Prozent jährlich zu steigern, würden jedes Jahr nicht 150.000 Vollzeit-Arbeitskräfte zusätzlich, sondern 200.000 weniger benötigt.

Scheinlösung zu Lasten der Bürger

Das neo-merkantilistischen Denken führt die Bundesregierung so gehörig in die Irre, dass sie den Fach- und Arbeitskräftemangel als Ursache für die gefährdete Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung betrachtet, obwohl das Umgekehrte gilt: Die fast stagnierende Arbeitsproduktivität ist ursächlich für den Mangel an Fach- und Arbeitskräften und zudem limitiert sie die Wohlstandsentwicklung.

In einer Mischung aus Unverständnis und gezieltem Kalkül wird nicht nur von der Bundesregierung behauptet, dass nicht etwa die Produktivitätskrise, sondern die „drei D“ für den Fach- und Arbeitskräftemangel ursächlich seien. So kann man die nicht einfach zu lösende Produktivitätskrise unangetastet lassen und sich auf technokratische Behelfslösungen zurückziehen, die das Problem mehr schlecht als recht verwalten. Die an völlig falschen Prämissen orientierte Fachkräftestrategie kann daher nur scheitern.

Da die Erwerbsquoten von Frauen, aber auch etwa die von Älteren – worauf die Fachkräftestrategie vor allem setzt – bereits stark gestiegen sind, wird das noch ausreizbare Potenzial immer kleiner. Dass es sich bereits weitgehend erschöpft hat, sieht man zum Beispiel daran, dass sich die Erwerbsquote der Frauen im Zeitraum von 1991 bis 2019 von 58 auf 74 Prozent gestiegen ist und sich der, in diesem Zeitraum kaum gestiegenen, Erwerbsquote der Männer von 84 Prozent stark angenähert hat.

Aber auch die Rekrutierung ausländischer Fach- und Arbeitskräfte stößt mittlerweile an Grenzen. Denn in vielen anderen EU-Ländern hat der demographische Wandel bereits seit etwa 10 Jahren zu einer sinkenden Erwerbsbevölkerung geführt, so dass das Potenzial zur Abwerbung von Fach- und Arbeitskräften limitiert ist. Insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte sind in ganz Europa knapper geworden, so dass die Netto-Einwanderung von Arbeitskräften aus EU-Ländern nach Deutschland inzwischen praktisch zum Erliegen gekommen ist.

„Die Fachkräftestrategie propagiert Scheinlösungen, die nicht funktionieren können und verfolgt diese vor allem zu Lasten der Bürger."

Hinzu kommt, dass Deutschland wegen der praktisch stagnierenden Arbeitsproduktivität nicht nur in einen Fach- und Arbeitskräftemangel hineingestolpert ist, sondern dies auch der Grund dafür ist, dass Deutschland für ausländische Fach- und Arbeitskräfte zunehmend an Attraktivität verliert. Denn wegen der schwachen Produktivitätsentwicklung ist das Reallohnniveau seit Mitte der 1990er Jahre mit durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr kaum noch gestiegen. Insbesondere osteuropäische Länder hingegen, wie beispielsweise Polen, das seit Mitte der 2010er Jahre Reallohnsteigerungen von durchschnittlich knapp vier Prozent pro Jahr erreicht, haben deutlich aufgeholt. Die in Deutschland gezahlten Löhne und Gehälter liegen daher für immer mehr potenzielle Zuwanderer zu niedrig im Verhältnis zu den großen Hürden, die sie überwinden müssen, etwa bei der Wohnungssuche in Ballungsgebieten, bei der Unterbringung von kleinen Kindern oder etwa aufgrund der Sprachbarriere.

Was bleibt, ist die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern. Aber auch Fachkräfte aus diesen Ländern machen aus den gleichen Gründen lieber einen Bogen um Deutschland. Nach Einschätzung von Heil verdienen indische IT-Fachkräfte in ihrem Heimatland inzwischen ähnlich viel wie in München, wohl aber könne Deutschland mit geregelten Arbeitszeiten punkten. Kein Wunder also, dass die Bundesregierung selbst unter optimistischen Annahmen davon ausgeht, dass das im Juni beschlossenen „modernste Einwanderungsrecht der Welt“, nicht mehr als 75.000 qualifizierte Arbeitskräfte jährlich aus diesen Staaten hierhin lotsen kann.

Mit der Fachkräftestrategie verfolgt die Bundesregierung zudem eine Vorgehensweise, die darauf hinausläuft, die Folgen des Fach- und Arbeitskräftemangels auf andere abzuschieben. Einerseits versucht man sich in anderen Ländern an den in der Regel mit dortigem Steuergeld ausgebildeten Fachkräften zu bedienen, was längst zu heftigen Reaktionen der betroffenen Staaten führt.2 Zweitens wälzt man die Belastungen auf die Erwerbstätigen in Deutschland ab. Denn sie sind es, die wegen des Arbeitskräftemangels mit schlechteren Arbeitsbedingungen zurechtkommen müssen und vielfach in der Not zu Mehrarbeit gedrängt werden, um die Betriebe am Laufen zu halten. Sie sind es, die zudem als Kunden, Kranke oder Pflegebedürftige die damit einhergehende Wohlstandserosion in Form von quantitativ und qualitativ schwächerer Leistung ausbaden müssen.

Die Fachkräftestrategie der Bundesregierung gehört in die Tonne. Sie lässt die zugrundeliegenden Ursachen völlig unangetastet, propagiert Scheinlösungen, die nicht funktionieren können und verfolgt diese vor allem zu Lasten der Bürger.

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