01.01.2007

Ohne Autorität keine Erziehung

Essay von Bernhard Bueb

Über den richtigen Gebrauch der elterlichen Macht bei der Kindererziehung.

Väter und Mütter besitzen absolute Macht über ihre Kinder. Mütter heben ihre Kinder gegen deren heftigen Widerstand hoch oder zerren sie weg. Kinder sind im buchstäblichen Sinn ohnmächtig. Eltern sind „Herren über Leben und Tod“. Ein Kind kann tyrannischen Eltern weder physisch noch psychisch standhalten, nicht einmal seine Gedanken sind frei. Von der Macht der Eltern und Erwachsenen über Kinder berichten alte und neue Märchen, Aschenputtel und Hänsel und Gretel ebenso wie Harry Potter. Sie erzählen vom Leiden der Kinder, von ihrer Sehnsucht nach Erlösung und davon, wie sie erlöst werden.

Der juristische Fachausdruck für die Macht der Eltern lautet „elterliche Gewalt“. An ihrem Missbrauch kann man die Totalität dieser Macht erkennen. Kinder sterben durch Gleichgültigkeit, Unbeherrschtheit, Willkür oder Sadismus von Eltern, oder sie verkümmern und verlöschen psychisch. Die Rechte der Kinder sind gesetzlich gesichert, werden aber selten eingeklagt. Die Familie gilt als Privatsphäre, es bedarf extremer Verhältnisse, ehe jemand wagt, diesen Raum zu betreten.

"Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Familie gleicht einer fortwährenden Auseinandersetzung um Macht."

Die Macht der Eltern bedeutet aber auch Schutz der Kinder. Wenn eine Mutter ihr Kind ergreift, das gerade über eine belebte Straße laufen will, wirkt sich ihre Macht lebensrettend aus. Täglich nützen Eltern ihre Macht, um Kinder zu erziehen. Kinder fühlen sich geborgen, weil sie ihre Eltern als mächtig erleben. Die Welt birgt in den frühen Jahren reale Gefahren, aber auch irreale, weil Kinder in einem mythischen Bewusstsein leben. Die Macht der Eltern besitzt in den Augen von Kindern übermenschliche Dimensionen, sie kann auch den Fabelwesen, Räubern und Gestalten der Dunkelheit standhalten. Die Macht von Eltern wandelt sich zu Autorität durch die Liebe zu ihren Kindern. Durch Liebe üben sie ihre Macht rechtmäßig aus. Ebenso legitimiert sich die Macht des Polizisten und wird zur Autorität, wenn er sie nutzt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und die Würde der Menschen zu schützen. Der Arzt gewinnt Macht durch sein medizinisches Können, die Macht des Experten, und wird zu einer Autorität durch seinen Willen zu heilen. Es gehört zu den folgenreichsten Irrtümern der Nachkriegszeit, dass Autorität Angst erzeuge.

Rechtmäßig genutzte Macht, also Autorität, erzeugt keine Angst, sondern schafft Vertrauen. Der Mangel an Autorität führt zu Angst, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Familie gleicht einer fortwährenden Auseinandersetzung um Macht. Die fünfzehnjährige Tochter und ihre Mutter sitzen sich in meinem Büro gegenüber wie zwei Kampfhähne. Ein Machtkampf entwickelt sich vor meinen Augen, der so nicht geplant war. Er folgte einem scheinbar friedlichen, allerdings sehr kühlen Gespräch. Die Mutter hatte ein Reizwort gebraucht, nächtliches Ausgehen, und eine scharfe Antwort ausgelöst, die die Grenze des Anstands beinahe überschritt. Ein Wort gab das andere. Vor mir spielte sich eine Szene ab, die sich wohl täglich mehrmals wiederholte. Meine Intervention beendete den Wortwechsel. Besonders der Tochter war blitzartig klar geworden, dass sie ihre Chancen gefährdete, ins Internat aufgenommen zu werden, wenn sie die Formen der Höflichkeit nicht wahrte. Das Internat sah sie als einen Weg, dem Regiment der Mutter zu entfliehen.

Schon kleine Kinder stellen den Führungsanspruch der Eltern infrage. Sie schreien, schlagen um sich, werfen sich auf den Boden und sind nicht zimperlich bei der Wortwahl, sobald sie der Sprache mächtig sind. Sie wollen ihren Willen gegen die Macht der Mutter oder des Vaters durchsetzen. In der Pubertät bricht dieser Machtkampf erneut offen aus, nachdem einige Jahre zwischen der Trotzphase in frühen Jahren und dem Anspruch auf mehr Autonomie in der Pubertät ruhiger verlaufen sind. Die Pubertierenden interpretieren diese Zeit als die Phase, in der die Eltern schwierig werden, die Eltern sehen das umgekehrt. Die geringe Übereinstimmung der Sichtweisen erschwert die Situation. Die Auseinandersetzung um Macht findet auch außerhalb der Familie statt. Ein neuer Lehrer betritt den Raum einer Mittelstufenklasse zu Beginn des Schuljahres. Die Art seines Auftretens entscheidet über das Machtverhältnis der nächsten Zeit in der Klasse. Der neue Lehrer ist gut beraten, wenn er seine Machtposition gleich am Anfang deutlich markiert.

Die Schüler erwarten einen Lehrer, der weiß, was er will, der Konflikte nicht scheut und seinen klaren Führungsanspruch geltend macht. Zugleich erwarten sie einen Lehrer, der deutlich zu erkennen gibt, dass er aus Fürsorge seinen Führungsanspruch erhebt, dass die Liebe zu Jugendlichen das Motiv seines Handelns ist und dass sich dadurch seine Macht zu Autorität wandelt. Er muss aber wissen: Liebe allein genügt nicht. Es ist kein partnerschaftliches Verhältnis. Versäumt er es, sich klar zu positionieren und seine Macht zu etablieren, kann im schlimmsten Fall seine Autorität für das ganze Schuljahr infrage stehen. Schüler nutzen unbarmherzig Schwächen aus, die sie bei Lehrern entdecken. Noch als Väter und Großväter berichten sie stolz, wie sie Lehrer „fertiggemacht“ hätten. Es wird einem Lehrer nicht verziehen, wenn er den Machtkampf verliert.

„Hanno Buddenbrook saß vornübergebeugt und rang unter dem Tische die Hände. Das B, der Buchstabe B war an der Reihe! Gleich würde sein Name ertönen, und er würde aufstehen und nicht eine Zeile wissen, und es würde einen Skandal geben, eine laute, schreckliche Katastrophe …“ Die Katastrophe trat später in der Stunde ein. „‚Buddenbrook!‘ – Doktor Mantelsack hatte ‚Buddenbrook‘ gesagt, der Schall war noch in der Luft, und dennoch glaubte Hanno nicht daran. Ein Sausen war in seinen Ohren entstanden. Er blieb sitzen.“ Der ironisch gefärbte Bannstrahl des Lehrers geht auf ihn nieder. „Gut, also es sollte so sein. So hatte es kommen müssen … Ob es wohl ein sehr großes Gebrüll geben würde? Er stand auf und war im Begriffe, eine unsinnige und lächerliche Entschuldigung vorzubringen, zu sagen, dass er ‚vergessen‘ habe, die Verse zu lernen, als er plötzlich gewahrte, dass sein Vordermann ihm das offene Buch hinhielt.“

Thomas Mann beschreibt in seinem Roman Buddenbrooks einen Unterrichtsvormittag an dem ehrwürdigen humanistischen Gymnasium der Hansestadt Lübeck. Anschaulich und voller Komik berichtet er, wie Lehrer und Schüler um Anerkennung ringen, wie die Lehrer ihre Machtmittel erfolgreich oder erfolglos einsetzen und wie die Schüler mit den Mitteln der Abhängigen reagieren, also mit Tricks und Sabotage. Liebe und Fürsorge werden in diesem System nicht sichtbar. Zeitlos ist dieses Kapitel, weil der Struktur nach auch heute die Auseinandersetzung um Macht im Klassenzimmer ähnlich verläuft, wenn die Liebe und Fürsorge des Lehrers nicht erkennbar werden. Dieses Kapitel ist ein Meisterstück erzählender Psychologie, in dem die institutionelle Verformung der Lehrer-Schüler-Beziehungen durch Macht ohne Liebe offenbar wird.

Die Erziehenden waren in der Wahl der Mittel zur Durchsetzung ihrer Macht in der Geschichte der Erziehung nicht zimperlich. Kinder und Jugendliche zu schlagen, zu demütigen oder zu beschämen gehörte einmal zu den legitimen Erziehungsmitteln; es waren Variationen des An-den-Pranger-Stellens im Mittelalter und in der pädagogischen Praxis durchaus üblich. Martin Luther wurde nach seiner eigenen Darstellung Latein im wörtlichen Sinn „eingebläut“. Eine halbe Stunde mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen war in meiner Kindheit die harmloseste Form der Demütigung. Als letzte Errungenschaft einer aufgeklärten Gesellschaft konnten wir das Verbot der Prügelstrafe begrüßen, die in den sechziger Jahren in Deutschland und erst in den achtziger Jahren in England abgeschafft wurde. An englischen Internaten, mit denen wir Schüleraustausch pflegten, war es bis Ende der siebziger Jahre Usus, dass der Schulleiter Jungen, die geraucht hatten, sechs Stockschläge verabreichte. Mädchen wurden von körperlichen Strafen ausgenommen.

Erziehungsmittel der beschriebenen Art sind zu allen Zeiten unzulässig. Nie darf ein Kind gedemütigt oder geschlagen werden. Die Schlussfolgerung ist aber falsch, dass Autorität in der Erziehung unzulässig sei, weil der schwache Lehrer oder Erzieher solche Mittel anwenden könnte. Schwache Lehrer üben nur Macht und keine Autorität aus. Die Machtverhältnisse waren in früheren Zeiten klar geregelt. Rechtlich ist das auch heute der Fall. Aber in den Köpfen von Eltern, Lehrern, Erziehern und jungen Menschen hat sich vieles verändert. Die Generation nach 1968, insbesondere ihre ideologischen Vorreiter, interpretierten das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern als Erfahrungsvorsprung. Entsprechend sollten die Methoden der Erziehung jeden Anschein vermeiden, es könne sich bei Erziehung um Durchsetzung von Macht handeln. Alle Begriffe, die an ein Machtgefälle erinnern konnten, wurden geächtet. Autorität, Gehorsam, Unterordnung und Disziplin verfielen diesem Verdikt.

Erstaunlicherweise fanden diese Auffassungen Eingang in die bürgerliche Gesellschaft, obwohl sie sich mit der linken Herkunft solchen Denkens schwertat. Ich selbst, durchaus biederer bürgerlicher Gesinnung, blieb vom träumerischen Gedanken einer freien Erziehung nicht unberührt. Mit der antiautoritären Bewegung konnte ich mich nie anfreunden, weil sie zu viele Torheiten anthropologischer und praktischer Natur propagierte. Aber die Vorstellung, vornehmlich auf die Kräfte der Selbstbestimmung bei Jugendlichen zu setzen, entsprach einer Neigung zur Romantik, die unter Pädagogen durchaus verbreitet ist. Seit dieser Zeit haben Begriffe wie Autorität und Gehorsam auch unter konservativ gesonnenen Bürgern ihre selbstverständliche Geltung verloren. Es blieb aber nicht bei theoretischen Zweifeln. Autorität und Gehorsam verloren ihre unangefochtene Gültigkeit vor allem in der Praxis. Als Folge müssen wir heute feststellen, dass Eltern, Lehrer und Erzieher in ihrem alltäglichen pädagogischen Geschäft nicht mehr selbstbewusst als Autorität auftreten, nicht selbstverständlich Gehorsam fordern und daher Disziplin im Alltag kleingeschrieben wird. Wer es trotzdem tut, macht sich autoritärer Erziehung verdächtig.

Die Folgen dieser Haltung sind verheerend. Sie bestimmt den Erziehungsstil in Familien, Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen. Jugendliche sehnen sich nach Autorität. Sie brauchen die Autorität von Erwachsenen, die ihnen Orientierung und Halt geben, die ihnen Vorbilder sind, die ihnen hohe Ziele vorgeben und Grenzen setzen, aber sie gleichzeitig ermutigen, die Grenzen zu überschreiten. Der Widerstand gegen Autorität führt in die Selbstständigkeit, man könnte die Bereitschaft und Fähigkeit zum Widerstand als erste Zeichen von Charakter ansehen. Wer Selbstbestimmung lernen will, muss Unterordnung gelernt haben. Wenn Jugendliche in der Zeit des Umbruchs, der Pubertät, die auch die Zeit der Selbstentdeckung und Selbstfindung ist, keiner Autorität begegnen, mit der sie sich auseinandersetzen können, bleibt dieser Prozess kraftlos, weil den Jugendlichen ein Gegenüber fehlt, an dem sie sich reiben, an dem sie aber auch wachsen können.

Eltern müssen zu der Macht und Verantwortung „ja“ sagen, die ihnen mit der Geburt oder Adoption von Kindern zuwächst. Sie dürfen diese Macht nicht relativieren, indem sie früh ein partnerschaftliches Verhältnis zu ihrem Kind anstreben. Kinder haben ein Recht auf einen klaren Machtanspruch von Eltern, legitimiert durch ihre Liebe, also auf Autorität. Nur dann kann das Geschäft der Erziehung gelingen, wenn Eltern solche Autorität auch ausüben.

"Bei der Gratwanderung zwischen Disziplin und Liebe entscheiden sich Eltern heute sehr schnell für mehr Liebe. Aber gerade ihre Liebe würde eine strenge Haltung rechtfertigen."

Jede Generation von Babys gleiche einem Einfall von Barbaren, hat Sigmund Freud einmal festgestellt. Ihnen mangelt es an Kultur, Einsichtsfähigkeit und Disziplin. Zu ihrer Kultivierung bedarf es einer klaren Autorität und der Bereitschaft, Unterordnung zu fordern. Als einziges Mittel, sich der Macht und der Autorität der Eltern zu erwehren, setzen Babys das Schreien ein. Wenn das Baby durch Schreien zur Unzeit Ansprüche anmeldet, sollten seine Eltern ihre rechtmäßige Macht nutzen und gelassen reagieren. Wenn das Schreien aber Schmerz oder Angst signalisiert, ist natürlich jede Zuwendung richtig. Erfahrene Eltern entwickeln ein Gespür dafür, wie die Äußerungen des Babys zu deuten sind. Es bedarf einigen Standvermögens von Eltern, nicht gleich liebend hinzuzuspringen, auch wenn das Verhalten als kleine „Tyrannei“ zu erkennen ist.

Bei der Gratwanderung zwischen Disziplin und Liebe entscheiden sich Eltern heute sehr schnell für mehr Liebe. Aber gerade ihre Liebe würde eine strenge Haltung rechtfertigen. Die Rechnung zahlen sie sonst später. Jugendliche wollen heute Autorität nur anerkennen, wenn sie authentisch wirkt. Wer als Lehrer Unterordnung und Gehorsam fordert, muss nach ihrer Meinung durch Kompetenz, Ausstrahlung und moralische Integrität seine Autorität begründen und rechtfertigen. Sie wollen Charismatiker als Lehrer, als Erzieher und am liebsten auch als Eltern. Schüler müssen sich jedoch auch Lehrern unterordnen, die durch ihre Persönlichkeit den Anspruch auf Autorität nicht einlösen können. Das kann nur gelingen, wenn diesen Lehrern eine Art Amtsautorität zukommt, die ihnen Respekt verschafft und ihre Würde schützt. Darüber hinaus müssen die Lehrer wiederum zu dieser Amtsautorität stehen. Sie dürfen keine Respektlosigkeit dulden. Wenn sich ein Schüler im Ton vergreift, müssen sie den Vorfall der Schulleitung melden. So habe ich es als Leiter immer gefordert. Jeder Lehrer hat ein Recht auf Respekt. Die Institution Schule muss dafür sorgen, dass er gewahrt wird. Ein Lehrer muss selbstbewusst und würdig durch die Schule gehen und in jeder Klasse auftreten können, weil ihn die Achtung vor seiner Amtsautorität schützt. Die Achtung vor der Autorität der Älteren, vor allem der Eltern, müssen wir Kindern und Jugendlichen abverlangen. Dem vierten der zehn Gebote, du sollst Vater und Mutter ehren, muss heute so dringend Geltung verschafft werden wie zu alttestamentarischen Zeiten, als die Würde und selbst das Überleben der Eltern gefährdet war.

Wir nähern uns wieder diesen Zeiten, denn nicht nur die Achtung vor den Eltern, sondern vor den Älteren überhaupt wankt. Wer Autorität besitzt, darf Respekt und Achtung erwarten, aber auch Gehorsam. Die Tugend des Gehorsams ist eine dienende Tugend oder auch Sekundärtugend, sie erhält ihren Wert erst durch den Zweck, dem sie dient. Primärtugenden wie Ehrlichkeit und Gerechtigkeit besitzen ihren Wert in sich selbst. Die Idee oder die höhere Ordnung, in deren Dienst sich Menschen stellen, verleiht der Tugend des Gehorsams ihren Rang. Unter den Nationalsozialisten hat sich das deutsche Volk in den Dienst einer menschenverachtenden Idee gestellt, den Gehorsam selbst zum Ziel der Erziehung erklärt und die Tugend des Gehorsams des Adels beraubt, den ihr die Autoritäten unserer Kultur von Sokrates über Jesus Christus bis zu Dietrich Bonhoeffer verliehen haben.

Gehorsam verlor in den letzten vierzig Jahren jedes Ansehen in der Pädagogik, aber nicht in der Armee, nicht in den Rettungsdiensten und nicht im Sport. Eine Feuerwehr wird ihre Aufgabe nicht erfüllen können, wenn ihre Mitglieder nicht den Befehlen des Einsatzleiters gehorchen. Selbst in den Blütezeiten der antiautoritären Erziehung habe ich nie erlebt, dass Schüler in der schuleigenen Feuerwehr auch nur einen Augenblick an der Notwendigkeit von Autorität und Gehorsam zweifelten. Außerhalb der Feuerwehr verhielten sie sich wie andere Jugendliche. Dasselbe gilt für die Autorität des Schiedsrichters und den Gehorsam, den die Mannschaft ihm schuldet. Der Verfall der Moral im Sport beginnt immer dann, wenn Mannschaftsmitglieder die Entscheidungen des Schiedsrichters infrage stellen, ihn beschimpfen und damit seine Amtsautorität untergraben. Es gibt in jeder Demokratie vereinbarte Bereiche, in denen Gehorsam legitim ist. Darunter zählen auch Einrichtungen der Bildung und Erziehung. Alle Einrichtungen der Bildung und Erziehung, auch die Familie soll hier als eine solche Einrichtung gelten, beruhen auf dem Prinzip der Unterordnung unter eine Autorität.

Der Begriff der antiautoritären Erziehung war schon deswegen absurd, weil Erziehung ohne Autorität keine Erziehung ist. Die Autorität legitimiert sich in der Familie durch die von Natur aus bestehende Fürsorge der Eltern für ihre Kinder und deren Hilflosigkeit und Unfähigkeit zum selbstständigen Überleben. In allen Einrichtungen müssen sich die Jüngeren den Älteren unterordnen, in der frühen Kindheit total und auch ohne Einsicht, mit fortschreitendem Alter zunehmend mit Einsicht, auf der Universität idealerweise nur noch durch Einsicht. Für die Kindheit und partiell für die Jugendzeit bezeichnet „gehorchen“ die angemessene Antwort auf die Anweisungen der zuständigen Autorität. Gehorsam solcher Art entspricht der Würde der Erwachsenen, weil die Person, die Autorität ausübt, ebenso ein Recht auf Würde besitzt wie der, der sich unterordnen muss. Weil Gehorsam in den letzten Jahrzehnten umstritten war und Jugendliche daher nur gehorchen wollten, wenn sie es einsahen, stand die Würde von Eltern, Erziehern und Lehrern auf dem Spiel.

"Jugendliche brauchen die Autorität von Erwachsenen, die ihnen hohe Ziele vorgeben und Grenzen setzen, aber sie gleichzeitig ermutigen, die Grenzen zu überschreiten."

Ihr Leiden an diesem Verlust findet allmählich barmherzige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, nachdem über Jahrzehnte nur das Leiden von Kindern und Jugendlichen unter der Autorität von Erwachsenen thematisiert wurde. Es ist aber ein Missverständnis und eine Verkennung der Natur des Menschen, dass Gehorsam eines Kindes oder Jugendlichen mit seiner Würde nicht vereinbar sei.

Das private und öffentliche pädagogische Gewissen ist nach 1968 so geschärft, dass Kinder und Jugendliche vor Willkür und Unterdrückung besser geschützt sind als jemals zuvor in der Geschichte. Den Missbrauch von elterlicher Gewalt oder der „Macht“ von Lehrern können wir durch Aufmerksamkeit und beherztes Eingreifen verhindern, aber nicht dadurch, dass wir Kindern und Jugendlichen erlauben, nach Belieben zu gehorchen. Umgekehrt, wenn die Würde der Erwachsenen nicht gewahrt wird, werden am Ende Kinder und Jugendliche den Schaden haben, denn sie brauchen würdige Vorbilder als Eltern, Erzieher und Lehrer und nicht hilflose Erwachsene, die um ihr Ansehen und ihre Autorität ringen. Ein ungestörtes Verhältnis zu Disziplin und zu Gehorsam werden wir erst gewinnen, wenn wir das Machtgefälle zwischen Eltern, Erziehern und Lehrern zu Kindern und Jugendlichen ohne Vorbehalte anerkennen.

Ein möglicher Missbrauch darf kein Einwand sein. Wir müssen uns dazu durchringen, legitime Macht als Autorität anzuerkennen, die Macht Gottes, die Macht des Staates und die Macht der Erziehungsberechtigten. Das Christentum besaß immer ein unbefangenes Verhältnis zur Macht. „Alle Obrigkeit kommt von Gott“ (Römer 13,1), mit dieser Aussage des Apostels Paulus wurde jede staatliche Macht gerechtfertigt, was wir seit der NS-Diktatur nicht mehr akzeptieren können. Tyrannenmord war für einen Christen wie Graf von Moltke nicht zulässig, andere Christen unter den Widerstandskämpfern rangen sich zur Erlaubnis des Tyrannenmordes durch, es kostete sie aber oft Jahre eines inneren moralischen Kampfes. Ein aufgeklärtes Staatsverständnis wird heute Obrigkeit immer nur im Rahmen eines Rechtsstaates anerkennen.

"Der Begriff der antiautoritären Erziehung ist schon deswegen absurd, weil Erziehung ohne Autorität keine Erziehung ist."

Wir dürfen uns am Vorbild der alten Demokratien orientieren, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten. Sie kennen keine Zweifel an der legitimen Macht des Staates oder an der rechtmäßigen Macht von Eltern, von Lehrern und von Erziehern. Wenn wir unsere Unschuld im Verhältnis zur Macht wiedergewonnen haben, werden wir auch unbefangen von Disziplin und Gehorsam sprechen können. Solche Unschuld gewinnen wir erst, wenn wir Macht nicht nur intellektuell als unverzichtbar in einem Gemeinwesen, aber doch immer als notwendiges Übel anerkennen, sondern wenn wir Macht emotional positiv besetzen können, was sich zum Beispiel darin äußern kann, dass man sich zur Freude an der Macht bekennt und niemanden wegen seiner Macht verdächtig ansieht. Wir müssen noch einen weiten Weg gehen, bis wir in Deutschland legitime Macht, also Autorität, als prinzipiell gut und segensreich anerkennen und der mögliche oder tatsächliche Missbrauch von Macht für uns kein Einwand mehr ist. Denn die Voraussetzung von jeder Autorität bildet Macht. Aber gerade die emotionale Akzeptanz von Macht wird die Voraussetzung dafür sein, dass wir uns mit der Selbstverständlichkeit von Autorität und Disziplin aussöhnen. Belehrung und theoretische Erkenntnis genügen nicht. Die guten Erfahrungen mit der Demokratie und dem legitimen Umgang mit der Macht in unserem Lande werden uns helfen, sie innerlich zu akzeptieren.

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